„Nein, ich arbeite nicht mehr mit Narzissten. Das tu‘ ich mir nicht an.“ meinte unlängst eine langjährige Psychotherapeutin in einem Gespräch über ihren Praxisalltag zu mir und fragte mich anschließend, ob ich mit Narzissten arbeite.
Ich? Hm. Ich weiß nicht. Ich fragte sie daraufhin, wie sie denn diejenigen erkenne.
„Das merke ich schon ganz am Anfang. Da hab ich schon beim Telefonieren und spätestens dann, wenn sie zur Türe hereinkommen, eine deutliche körperliche Abwehrhaltung.“
Aha, dachte ich mir.
Doch was bedeutet Narzissmus überhaupt? Ist das die viel zitierte überzogene Selbstbezogenheit und Selbstliebe? Ist es eine diagnostizierbare Persönlichkeitsstörung? Ist es gar eine gesellschaftlich erwünschte und geförderte Haltung?
Für mich ist es zunächst ein allumfassendes Leiden: Ein Leiden derer, die so sein sollen, und derer, die mit ihnen wie auch immer in Beziehung sind.
Warum?
Sonja trennte sich vor 13 Jahren von Max, ihrem langjährigen Partner und Vater ihrer gemeinsamen Tochter Ina. Sonja hielt seine wiederkehrenden Beschimpfungen und Abwertungen nicht mehr aus. Es dauerte lange, bis Sonja mit ihrer vierjährigen Tochter auszog. Sie wollte nicht, dass Ina ohne ihren Vater aufwachsen muss. Und so hielt sie aus, bis sie nicht mehr aushalten konnte. Im Zusammenbrechen begriffen, packte sie ihre Koffer, nahm ihre Tochter an der Hand und kehrte in ihren Heimatort zurück. Dort angekommen spürte und fühlte Sonja die ganze seelische und körperliche Verzweiflung der letzten Jahre.
Rückblickend berichtet mir Sonja in einer Einzelstunde über diese Zeit: „Ich konnte nicht mehr. Überhaupt nichts mehr. Nichts.“
Ina schrie hingegen lautstark nach ihrem Vater: „Ich will zu meinem Papa! Sofort zu meinem Papa! Sofort!“
Sonja konnte das Leiden ihrer Tochter nicht mehr mit ansehen und mit anhören. Sie fühlte sich schuldig, so als wäre sie eine schlechte Mutter. Sie war es ja, welche die Beziehung beendet und dadurch dem Kind den Vater genommen hatte. „Ich hab‘ dann einfach nachgegeben. Ich konnte sie nicht mehr ‚Papa‘ schreien hören. Dann hab ich sie halt immer wieder für ein paar Stunden zu Max gebracht.“
Max seinerseits ist völlig in sich zusammengebrochen. Tagelang weinte er, sprach von Suizid und davon, dass er ohne Sonja nicht leben kann. Nichts und niemand konnte ihn aufrichten. Es sei denn, Ina war bei ihm. Dann ging es ihm für eine Zeit lang wieder etwas besser.
„Weißt Du, es hatte tatsächlich den Anschein, ich hätte Max umgebracht, als ich ihn verlassen hatte. Er litt so unglaublich unter der Trennung, dass die ganze Welt – wirklich alle, seine Eltern, seine Freunde, meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde, einfach alle – meinten, ich hätte ihm Furchtbares angetan. Und dann ging es ja bald mit Ina los.“
Ina begann bald schon nach der Trennung ihre Mutter auf das Übelste zu beschimpfen. Sie tobte, schrie alle erdenklichen Schimpfwörter und schlug ihre Mutter immer wieder. „Du, …! Du bist schuld! Du … ! Du bist eine schlechte Mutter! Du hast alles kaputt gemacht!“ Und so ging es jahrelang. „Ich will zu meinem Papa!“ Doch Max hatte kein Interesse mehr an seiner Tochter. Weder zahlte er Unterhalt, noch wollte er sie sehen oder sich um sie kümmern. Doch das änderte nichts am fürchterlichen Hass Inas auf ihre Mutter. Einem ausdauernden Hass, der über zwölf (!) Jahre lang anhält.
Ich frage Sonja, ob das tatsächlich stimmte, was sie mir immer wieder berichtete, oder ob, sie übertriebe oder etwas überspitzt formulierte. „Nein, das stimmt leider schon, im Prinzip bin ich seit der Trennung die ganze Zeit übel beschimpft worden. Ich schäme mich auch ganz furchtbar dafür. Was bin ich nur für eine Mutter, die so lange so übel von ihrer Tochter beschimpft wird?!“
Hm. Ich bin so überrascht und fassungslos: Zwölf Jahre lang?! „Hm. Und wo ist die Ina, die ihre Mama lieb hat?“
„Doch die gibt es schon auch. Die taucht immer wieder einmal ganz kurz auf. Die ist dann ganz überschwänglich, so wie ‚Mama, ich hab‘ Dich so lieb!‘ und so weiter. Aber das hält nie lange an.“
Diesem Gespräch gingen einige Aufstellungen voraus, in denen Sonja entweder daran arbeiten wollte, ihrer Tochter endlich eine „gute Mutter“ sein zu können, oder für sich in ihrem Leben ankommen wollte – mit einem Beruf, den sie gerne und erfolgreich ausführt, einer positiven und erfüllenden Partnerschaft. Dabei tauchte immer wieder: Sonjas Vater als zentrale Person auf: Sonja fürchtete sich sehr vor ihrem gewalttätigen und allem Anschein nach psychisch schwer kranken Vater. Es zeigte sich sehr deutlich, dass der Hass von Ina mit den Kindheitserfahrungen von Sonja zu tun habe. Deswegen ging Sonja Anliegen für Anliegen in ihre Kindheit und Jugendzeit zurück. Schritt für Schritt begegnete sie dabei ihrer Todesangst, ihrem Schmerz und ihrer Trauer über diese Kindheit in Angst und Schrecken.
Für mich war das ein sehr intensiver und herausfordernder Prozess. Nicht zuletzt, weil die überwältigenden Traumagefühle weniger bei den Repräsentanten auftauchten, sondern viel mehr in Sonja selbst da waren. Es war, als ob der Schrecken jetzt hier stattfinden würde. Was unter anderem auch dazu führte, dass Sonja immer in der Gegenwartsform sprach.
Und doch glückte es Sonja mehr und mehr, die Zeitebenen zu sortieren:
Da ist die Vergangenheit mit ihrer ausweglosen Kindheit und Jugend in Angst und Schrecken. Da ist aber auch die Gegenwart, in der Sonja zwar immer wieder von der Vergangenheit ‚heimgesucht‘ wird, sie aber doch zunehmend damit umgehen lernt. (Die Vergangenheit ist tatsächlich vergangen. All das, was da an Schrecklichem passiert ist, ist ihr schon längst passiert und all das, hat sie auch schon überlebt). Und es gibt auch eine Zukunft, die Sonja als erwachsene Frau ohne Angst und Schrecken, gewissermaßen ohne ihren Vater gestalten kann.
Diese Entwicklung freute mich sehr. Nicht zuletzt deswegen, weil Sonja kürzlich unerwartet und überraschend mit ihrem Vater in der Realität konfrontiert war. Er ist ihr aufgelauert. Sie hatte ihn lange schon nicht mehr gesehen. Und nach den ganzen Aufstellungen ist es ihr gelungen, ihm zu begegnen, ohne von entsprechenden Traumagefühlen überwältigt zu werden. „Ja, es ist tatsächlich passé. Er ist mir heute nicht mehr gefährlich. Das ist schon sehr entlastend.“
Aber warum ändert sich trotz all dieser positiven Entwicklungen nichts am Verhalten von Ina? Warum dauert der Hass an? Wenn doch beinahe jede Aufstellung überdeutlich zeigt, dass dieser Hass, diese Ablehnung mit der Beziehung von Sonja zu ihrem Vater zu tun hat. Da ist die Beziehung in einer für mich erstaunlichen Weise geklärt – sie kann ihm unvorbereitet begegnen – und der Hass bleibt bestehen.
Warum? Ich war ziemlich irritiert.
Sichtlich resigniert fragt mich Sonja, ob sie noch einmal eine Aufstellung machen solle zu ihrem Vater.
„Wozu willst Du denn eine Aufstellung bezüglich Deinem Vater machen, wenn Du doch soeben das geschafft hast, was Du als Anliegen immer wieder formuliert hast?“
„Ich weiß nicht. Ich bin so müde, aber da könnte ich wenigstens etwas tun. So ist es für mich nicht aushaltbar.“
Während dieses Gespräches mit Sonja musste ich immer wieder an eine Begegnung mit Ina denken. In dieser bin ich auf eine für mich ungeahnt radikale Weise mit Inas Hass auf ihre Mutter konfrontiert worden. Ich war sehr erschrocken und betroffen.
Wirklich mit Inas Hass?
In mir war da noch ein anderes Gefühl. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich es als Wut und Ärger erkennen konnte. Aber warum bin ich wütend und ärgerlich auf ein Kind, auf eine Jugendliche? Ich wusste es nicht.
Was ich allerdings wusste war, dass ich nicht mehr an Sonjas „guter Mutter sein“ arbeiten wollte. Denn: Mit jeder Aufstellung mehr schien Sonja schwächer zu werden. So als ob sie dadurch immer nur noch mehr verfestigen würde, dass sie eine schlechte Mutter sei.
„Das stimmt. Ich komme mir ja wirklich vor, als wäre ich eine ganz furchtbare Mutter, die ihrer Tochter schreckliche Gewalt antun würde. So als ob ich sie verprügeln wurde.“
„Ja, den Anschein hat es tatsächlich. Das könnte man durchaus meinen.“
„Aber das stimmt nicht.“ Sonja wurde immer verzweifelter. „Vor einiger Zeit sagte Ina sogar, dass ich sie geschlagen hätte.“
„Und hast Du Ina geschlagen?“
„Nein! Das ist ja das Verrückte. Und jetzt sagen die auch noch, ich wäre verrückt!“
Die? „Wer ist ‚die‘?“
„Ja, der Max und meine Tochter. Die sind sich ja einig, dass ich furchtbar und völlig durchgeknallt bin. Sie ist auch so eifersüchtig auf meine neue Beziehung, als ob meine Beziehung etwas mit ihrer Position als meine Tochter zu tun hätte. Sie ist ja immer meine Tochter, egal, wen ich liebe.“
Sonja wird immer verzweifelter. Fast schreiend schildert sie mir eine Anschuldigung nach der anderen, während ihr ganzer Körper unter enormen Stress zu stehen schien. An ihrem Hals zeichnen sich deutliche rote Flecken ab. Während Sonja so völlig außer sich war, spürte ich immer deutlicher, dass hier etwas ganz und gar verkehrt läuft.
„Glaubst Du das, was die beiden zu Dir und über Dich sagen?“
„Eigentlich spricht ja bloß die Ina wirklich zu mir. Mit Max bin ich ja fast nicht mehr in Kontakt. Was Max sagt, erfahre ich durch meine Tochter.“
„Und glaubst Du das?“
„Nein -. Ja, doch -. Nein, natürlich nicht – oder doch schon irgendwie. Ich muss ja schuld daran sein, wenn sich meine Tochter so verhält, wie sie sich verhält. Aber so schlimm bin ich doch gar nicht?! Aber ich bin ja die Mutter. Ich muss ja den Fehler oder die Schuld bei mir suchen.“
„Nein. Das hast du zwölf Jahre lang getan. Und es hat sich nichts getan, außer dass Ina immer mehr zu Max II, zu seinem Sprachrohr wurde.“
„Wie meinst Du das?“, meinte Sonja plötzlich gefasst und ruhig. „Was meinst Du mit MaxII?“
Max ist offenbar mit der Trennung völlig in sich zusammengebrochen. Es schien, als würde er sterben. So als könnte er tatsächlich nicht ohne Ina leben. Diese existenzielle Intensität eines Trennungsschmerzes ist nicht normal für einen erwachsenen Menschen. Denn ein erwachsener Mensch kann durchaus eine Trennung und den dazugehörigen Schmerz aushalten und überleben. Es sei denn, es gibt ihn gespürt und gefühlt gar nicht:
Wenn ein Mensch von seinem Lebensanfang an von seinen Eltern als ein Nichts behandelt wird, dann wird er zu einem ‚Nichts‘. Aus einem ‚Du bist für mich ein Nichts. Uns so gehe ich mit Dir auch um, wie mit einem Nichts‘ wird ‚Ich bin ein Nichts. Es gibt mich nicht‘. Und das ist schrecklich. Denn solange ich als Kind abgelehnt oder sogar gehasst werde, gibt es mich zumindest. Das ist ebenfalls schrecklich. Und doch unterscheiden sich für mich diese beiden Schrecken der Kindheit in den Folgen für die betroffenen Menschen. Während ich als abgelehntes Kind zu einer (negativen und/oder positiven) Projektionsfläche anderer Menschen werden kann, kann ich das als ein NichtsKind nicht: Denn es gibt ja nichts, worauf andere Menschen etwas projizieren könnten.
Aber wie kann ein NichtsKind überleben? Wie kann ich als Nichts leben?
Wenn ich ein Nichts bin, dann brauche ich existenziell etwas im Außen, beispielsweise andere Menschen, über die ich mich zunächst konstituieren und in der Folgezeit auch definieren kann. Dann erst gibt es mich. Ich kann mich spüren und fühlen, indem ich etwas im Außen nacheifere, liebe, verehre, hochachte oder aber auch hasse, verfolge, verachte und ablehne. Allerdings drohen Menschen natürlicherweise immer wieder zu verlassen, zu übersehen, zu kritisieren, abzulehnen, sich zu distanzieren oder sich gar zu trennen. Und dann bin ich nicht nur allein, was schlimm genug sein kann, sondern es gibt mich wieder nicht mehr. Ich stürze in mein bodenloses NichtsSein. Bis ich wieder etwas im Außen finde, das mich vor dem NichtsSein rettet, bis es mich wieder… .
So wie Max, der sich durch Sonjas Trennung ausweglos im unaushaltbaren NichtsSein feststeckt und nur mit Hilfe seiner vierjährigen Tochter immer wieder rausfindet:
„Ich habe schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass es nicht gut war, Ina unmittelbar nach der Trennung zu Max zu geben. Aber sie hat ja so nach ihm geschrien. Und ich war auch froh um die wenigen Stunden, die ich allein für mich sein konnte, um mich zu sortieren.
In seiner existenziellen Not heraus benützt Max seine Tochter als ‚Rettungsring‘: Ina wird zu seinem Sprachrohr, zu ‚Max II‘.
An seiner statt kämpft nicht Ina gegen das NichtsSein, sondern das von Max geschaffene Sprachrohr ‚Max II‘ . Dieses beschimpft und wertet Sonja ab. Und trifft zielgenau Sonjas wundesten Punkt: ‚Sie sei eine schlechte Mutter.‘ Demnach ging es hier nie wirklich um die tatsächliche Qualität des Mutter seins von Sonja, sondern immer um die Paarbeziehung. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist nur der ausgelagerte Schauplatz des Überlebenskampfes von Max, geführt von seiner benützten Tochter. Auf diese Weise kann Max einerseits die Trennung aufheben, ist er doch über einen zwölfjährigen Kampf weiterhin mit Sonja verbunden, und kann andererseits ohne dem schrecklichen NichtsSein in einer neuen stabilen Partnerschaft leben.
Ein derartiger Überlebenskampf gegen das NichtsSein – genaugenommen gegen das NichtsKind – findet immer anderswo statt. Denn es gibt ja kein ICH und kein MICH, sondern nur ein DU/IHR und ein DEIN/EUER. Das ist fürchterlich für alle Beteiligten.
Abschließend meinte Sonja traurig zu mir: „Ich habe tatsächlich immer mehr an mir gezweifelt. Ich dachte schon, ich bin verrückt. Ich gehöre in die Klappse. Soweit ging das. Auf die Idee, dass meine Tochter in ihrem Hass gar nicht meine Tochter ist, sondern Max II, auf das wäre ich nicht gekommen. Aber es macht so viel Sinn.“
(Es ist tatsächlich so, dass Sonja in Zustände geraten ist, die durchaus zu Einweisungen führen können.) Und wie geht es weiter?
„Also, das mache ich nicht mehr mit. Ich zweifle nicht mehr an mir. Das ist ja entsetzlich. Ich werde mich mit Max und Max II nicht mehr befassen.“, flüstert Sonja und beginnt bitterlich zu weinen, „Jetzt muss ich erstmal mich suchen. Und dann suche ich meine Tochter.“
Insofern ist für mich die alltägliche Aussage der „überzogenen Selbstliebe“ eines Narzisten nicht stimmig: Es gibt einen ‚Narzissten‘ ja nicht. Er ist nicht existent. Wenn etwas tatsächlich übersteigert ist, dann diese alternativlose, weil existenzielle Bezogenheit auf ein Außen, auf ein DU/IHR. Liebe im eigentlichen Sinne ist das nicht, sondern eine bedingungslose Abhängigkeit.
Nachdem ich diesen Blog geschrieben habe und durchgelesen habe, könnte ich die Frage der Psychotherapeutin beantworten:
Ich begegne in meiner Arbeit sehr vielen Opfern von erwachsenen NichtsKindern. Aber ich arbeite mit keinen Narzissten längerfristig, nicht im Einzelsetting. Das ist aber keine bewusste Entscheidung von mir, die entsprechenden Menschen kommen einfach nicht mehr. Sie können offenbar die Aufmerksamkeit auf ihr NichtsKind nicht aushalten. Gibt es jedoch eine grundsätzliche Bereitschaft sich mit dem eigenen NichtsSein zu beschäftigen, dann ist meines Erachtens nicht mehr von ‚Narzissmus‘ zu sprechen.