ICH und das NichtsKind

„Nein, ich arbeite nicht mehr mit Narzissten. Das tu‘ ich mir nicht an.“ meinte unlängst eine langjährige Psychotherapeutin in einem Gespräch über ihren Praxisalltag zu mir und fragte mich anschließend, ob ich mit Narzissten arbeite.

Ich? Hm. Ich weiß nicht. Ich fragte sie daraufhin, wie sie denn diejenigen erkenne.

„Das merke ich schon ganz am Anfang. Da hab ich schon beim Telefonieren und spätestens dann, wenn sie zur Türe hereinkommen, eine deutliche körperliche Abwehrhaltung.“

Aha, dachte ich mir.

Doch was bedeutet Narzissmus überhaupt? Ist das die viel zitierte überzogene Selbstbezogenheit und Selbstliebe? Ist es eine diagnostizierbare Persönlichkeitsstörung? Ist es gar eine gesellschaftlich erwünschte und geförderte Haltung?

Für mich ist es zunächst ein allumfassendes Leiden: Ein Leiden derer, die so sein sollen, und derer, die mit ihnen wie auch immer in Beziehung sind.

Warum?

Sonja trennte sich vor 13 Jahren von Max, ihrem langjährigen Partner und Vater ihrer gemeinsamen Tochter Ina. Sonja hielt seine wiederkehrenden Beschimpfungen und Abwertungen nicht mehr aus. Es dauerte lange, bis Sonja mit ihrer vierjährigen Tochter auszog. Sie wollte nicht, dass Ina ohne ihren Vater aufwachsen muss. Und so hielt sie aus, bis sie nicht mehr aushalten konnte. Im Zusammenbrechen begriffen, packte sie ihre Koffer, nahm ihre Tochter an der Hand und kehrte in ihren Heimatort zurück. Dort angekommen spürte und fühlte Sonja die ganze seelische und körperliche Verzweiflung der letzten Jahre.

Rückblickend berichtet mir Sonja in einer Einzelstunde über diese Zeit: „Ich konnte nicht mehr. Überhaupt nichts mehr. Nichts.“

Ina schrie hingegen lautstark nach ihrem Vater: „Ich will zu meinem Papa! Sofort zu meinem Papa! Sofort!“

Sonja konnte das Leiden ihrer Tochter nicht mehr mit ansehen und mit anhören. Sie fühlte sich schuldig, so als wäre sie eine schlechte Mutter. Sie war es ja, welche die Beziehung beendet und dadurch dem Kind den Vater genommen hatte. „Ich hab‘ dann einfach nachgegeben. Ich konnte sie nicht mehr ‚Papa‘ schreien hören. Dann hab ich sie halt immer wieder für ein paar Stunden zu Max gebracht.“

Max seinerseits ist völlig in sich zusammengebrochen. Tagelang weinte er, sprach von Suizid und davon, dass er ohne Sonja nicht leben kann. Nichts und niemand konnte ihn aufrichten. Es sei denn, Ina war bei ihm. Dann ging es ihm für eine Zeit lang wieder etwas besser.

„Weißt Du, es hatte tatsächlich den Anschein, ich hätte Max umgebracht, als ich ihn verlassen hatte. Er litt so unglaublich unter der Trennung, dass die ganze Welt – wirklich alle, seine Eltern, seine Freunde, meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde, einfach alle – meinten, ich hätte ihm Furchtbares angetan. Und dann ging es ja bald mit Ina los.“

Ina begann bald schon nach der Trennung ihre Mutter auf das Übelste zu beschimpfen. Sie tobte, schrie alle erdenklichen Schimpfwörter und schlug ihre Mutter immer wieder. „Du, …! Du bist schuld! Du … ! Du bist eine schlechte Mutter! Du hast alles kaputt gemacht!“ Und so ging es jahrelang. „Ich will zu meinem Papa!“ Doch Max hatte kein Interesse mehr an seiner Tochter. Weder zahlte er Unterhalt, noch wollte er sie sehen oder sich um sie kümmern. Doch das änderte nichts am fürchterlichen Hass Inas auf ihre Mutter. Einem ausdauernden Hass, der über zwölf (!) Jahre lang anhält.

Ich frage Sonja, ob das tatsächlich stimmte, was sie mir immer wieder berichtete, oder ob, sie übertriebe oder etwas überspitzt formulierte. „Nein, das stimmt leider schon, im Prinzip bin ich seit der Trennung die ganze Zeit übel beschimpft worden. Ich schäme mich auch ganz furchtbar dafür. Was bin ich nur für eine Mutter, die so lange so übel von ihrer Tochter beschimpft wird?!“

Hm. Ich bin so überrascht und fassungslos: Zwölf Jahre lang?! „Hm. Und wo ist die Ina, die ihre Mama lieb hat?“

„Doch die gibt es schon auch. Die taucht immer wieder einmal ganz kurz auf. Die ist dann ganz überschwänglich, so wie ‚Mama, ich hab‘ Dich so lieb!‘ und so weiter. Aber das hält nie lange an.“

Diesem Gespräch gingen einige Aufstellungen voraus, in denen Sonja entweder daran arbeiten wollte, ihrer Tochter endlich eine „gute Mutter“ sein zu können, oder für sich in ihrem Leben ankommen wollte – mit einem Beruf, den sie gerne und erfolgreich ausführt, einer positiven und erfüllenden Partnerschaft. Dabei tauchte immer wieder: Sonjas Vater als zentrale Person auf: Sonja fürchtete sich sehr vor ihrem gewalttätigen und allem Anschein nach psychisch schwer kranken Vater. Es zeigte sich sehr deutlich, dass der Hass von Ina mit den Kindheitserfahrungen von Sonja zu tun habe. Deswegen ging Sonja Anliegen für Anliegen in ihre Kindheit und Jugendzeit zurück. Schritt für Schritt begegnete sie dabei ihrer Todesangst, ihrem Schmerz und ihrer Trauer über diese Kindheit in Angst und Schrecken.

Für mich war das ein sehr intensiver und herausfordernder Prozess. Nicht zuletzt, weil die überwältigenden Traumagefühle weniger bei den Repräsentanten auftauchten, sondern viel mehr in Sonja selbst da waren. Es war, als ob der Schrecken jetzt hier stattfinden würde. Was unter anderem auch dazu führte, dass Sonja immer in der Gegenwartsform sprach.

Und doch glückte es Sonja mehr und mehr, die Zeitebenen zu sortieren:

Da ist die Vergangenheit mit ihrer ausweglosen Kindheit und Jugend in Angst und Schrecken. Da ist aber auch die Gegenwart, in der Sonja zwar immer wieder von der Vergangenheit ‚heimgesucht‘ wird, sie aber doch zunehmend damit umgehen lernt. (Die Vergangenheit ist tatsächlich vergangen. All das, was da an Schrecklichem passiert ist, ist ihr schon längst passiert und all das, hat sie auch schon überlebt). Und es gibt auch eine Zukunft, die Sonja als erwachsene Frau ohne Angst und Schrecken, gewissermaßen ohne ihren Vater gestalten kann.

Diese Entwicklung freute mich sehr. Nicht zuletzt deswegen, weil Sonja kürzlich  unerwartet und überraschend mit ihrem Vater in der Realität konfrontiert war. Er ist ihr aufgelauert. Sie hatte ihn lange schon nicht mehr gesehen. Und nach den ganzen Aufstellungen ist es ihr gelungen, ihm zu begegnen, ohne von entsprechenden Traumagefühlen überwältigt zu werden. „Ja, es ist tatsächlich passé. Er ist mir heute nicht mehr gefährlich. Das ist schon sehr entlastend.“

Aber warum ändert sich trotz all dieser positiven Entwicklungen nichts am Verhalten von Ina? Warum dauert der Hass an? Wenn doch beinahe jede Aufstellung überdeutlich  zeigt, dass dieser Hass, diese Ablehnung mit der Beziehung von Sonja zu ihrem Vater zu tun hat. Da ist die Beziehung in einer für mich erstaunlichen Weise geklärt – sie kann ihm unvorbereitet begegnen – und der Hass bleibt bestehen.

Warum? Ich war ziemlich irritiert.

Sichtlich resigniert fragt mich Sonja, ob sie noch einmal eine Aufstellung machen solle zu ihrem Vater.

„Wozu willst Du denn eine Aufstellung bezüglich Deinem Vater machen, wenn Du doch soeben das geschafft hast, was Du als Anliegen immer wieder formuliert hast?“

„Ich weiß nicht. Ich bin so müde, aber da könnte ich wenigstens etwas tun. So ist es für mich nicht aushaltbar.“

Während dieses Gespräches mit Sonja musste ich immer wieder an eine Begegnung mit Ina denken. In dieser bin ich auf eine für mich ungeahnt radikale Weise mit Inas Hass auf ihre Mutter konfrontiert worden. Ich war sehr erschrocken und betroffen.

Wirklich mit Inas Hass?

In mir war da noch ein anderes Gefühl. Es dauerte eine Zeitlang, bis ich es als Wut und Ärger erkennen konnte. Aber warum bin ich wütend und ärgerlich auf ein Kind, auf eine Jugendliche? Ich wusste es nicht.

Was ich allerdings wusste war, dass ich nicht mehr an Sonjas „guter Mutter sein“ arbeiten wollte. Denn: Mit jeder Aufstellung mehr schien Sonja schwächer zu werden. So als ob sie dadurch immer nur noch mehr verfestigen würde, dass sie eine schlechte Mutter sei.

„Das stimmt. Ich komme mir ja wirklich vor, als wäre ich eine ganz furchtbare Mutter, die ihrer Tochter schreckliche Gewalt antun würde. So als ob ich sie verprügeln wurde.“

„Ja, den Anschein hat es tatsächlich. Das könnte man durchaus meinen.“

„Aber das stimmt nicht.“ Sonja wurde immer verzweifelter. „Vor einiger Zeit sagte Ina sogar, dass ich sie geschlagen hätte.“

„Und hast Du Ina geschlagen?“

„Nein! Das ist ja das Verrückte. Und jetzt sagen die auch noch, ich wäre verrückt!“

Die? „Wer ist ‚die‘?“

„Ja, der Max und meine Tochter. Die sind sich ja einig, dass ich furchtbar und völlig durchgeknallt bin. Sie ist auch so eifersüchtig auf meine neue Beziehung, als ob meine Beziehung etwas mit ihrer Position als meine Tochter zu tun hätte. Sie ist ja immer meine Tochter, egal, wen ich liebe.“

Sonja wird immer verzweifelter. Fast schreiend schildert sie mir eine Anschuldigung nach der anderen, während ihr ganzer Körper unter enormen Stress zu stehen schien. An ihrem Hals zeichnen sich deutliche rote Flecken ab. Während Sonja so völlig außer sich war, spürte ich immer deutlicher, dass hier etwas ganz und gar verkehrt läuft.

„Glaubst Du das, was die beiden zu Dir und über Dich sagen?“

„Eigentlich spricht ja bloß die Ina wirklich zu mir. Mit Max bin ich ja fast nicht mehr in Kontakt. Was Max sagt, erfahre ich durch meine Tochter.“

„Und glaubst Du das?“

„Nein -. Ja, doch -. Nein, natürlich nicht – oder doch schon irgendwie. Ich muss ja schuld daran sein, wenn sich meine Tochter so verhält, wie sie sich verhält. Aber so schlimm bin ich doch gar nicht?! Aber ich bin ja die Mutter. Ich muss ja den Fehler oder die Schuld bei mir suchen.“

„Nein. Das hast du zwölf Jahre lang getan. Und es hat sich nichts getan, außer dass Ina immer mehr zu Max II, zu seinem Sprachrohr wurde.“

„Wie meinst Du das?“, meinte Sonja plötzlich gefasst und ruhig. „Was meinst Du mit MaxII?“

Max ist offenbar mit der Trennung völlig in sich zusammengebrochen. Es schien, als würde er sterben. So als könnte er tatsächlich nicht ohne Ina leben. Diese existenzielle Intensität eines Trennungsschmerzes ist nicht normal für einen erwachsenen Menschen. Denn ein erwachsener Mensch kann durchaus eine Trennung und den dazugehörigen Schmerz aushalten und überleben. Es sei denn, es gibt ihn gespürt und gefühlt gar nicht:

Wenn ein Mensch von seinem Lebensanfang an von seinen Eltern als ein Nichts behandelt wird, dann wird er zu einem ‚Nichts‘. Aus einem ‚Du bist für mich ein Nichts. Uns so gehe ich mit Dir auch um, wie mit einem Nichts‘ wird ‚Ich bin ein Nichts. Es gibt mich nicht‘. Und das ist schrecklich. Denn solange ich als Kind abgelehnt oder sogar gehasst werde, gibt es mich zumindest. Das ist ebenfalls schrecklich. Und doch unterscheiden sich für mich diese beiden Schrecken der Kindheit in den Folgen für die betroffenen Menschen. Während ich als abgelehntes Kind zu einer (negativen und/oder positiven) Projektionsfläche anderer Menschen werden kann, kann ich das als ein NichtsKind nicht: Denn es gibt ja nichts, worauf andere Menschen etwas projizieren könnten.

Aber wie kann ein NichtsKind überleben? Wie kann ich als Nichts leben?

Wenn ich ein Nichts bin, dann brauche ich existenziell etwas im Außen, beispielsweise andere Menschen, über die ich mich zunächst konstituieren und in der Folgezeit auch definieren kann. Dann erst gibt es mich. Ich kann mich spüren und fühlen, indem ich etwas im Außen nacheifere, liebe, verehre, hochachte oder aber auch hasse, verfolge, verachte und ablehne. Allerdings drohen Menschen natürlicherweise immer wieder zu verlassen, zu übersehen, zu kritisieren, abzulehnen, sich zu distanzieren oder sich gar zu trennen. Und dann bin ich nicht nur allein, was schlimm genug sein kann, sondern es gibt mich wieder nicht mehr. Ich stürze in mein bodenloses NichtsSein. Bis ich wieder etwas im Außen finde, das mich vor dem NichtsSein rettet, bis es mich wieder… .

So wie Max, der sich durch Sonjas Trennung ausweglos im unaushaltbaren NichtsSein feststeckt und nur mit Hilfe seiner vierjährigen Tochter immer wieder rausfindet:

„Ich habe schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass es nicht gut war, Ina unmittelbar nach der Trennung zu Max zu geben. Aber sie hat ja so nach ihm geschrien. Und ich war auch froh um die wenigen Stunden, die ich allein für mich sein konnte, um mich zu sortieren.

In seiner existenziellen Not heraus benützt Max seine Tochter als ‚Rettungsring‘:  Ina wird zu seinem Sprachrohr, zu ‚Max II‘.

An seiner statt kämpft nicht Ina gegen das NichtsSein, sondern das von Max geschaffene Sprachrohr ‚Max II‘ . Dieses beschimpft und wertet Sonja ab. Und trifft zielgenau Sonjas wundesten Punkt: ‚Sie sei eine schlechte Mutter.‘ Demnach ging es hier nie wirklich um die tatsächliche Qualität des Mutter seins von Sonja, sondern immer um die Paarbeziehung. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist nur der ausgelagerte Schauplatz des Überlebenskampfes von Max, geführt von seiner benützten Tochter. Auf diese Weise kann Max einerseits die Trennung aufheben, ist er doch über einen zwölfjährigen Kampf weiterhin mit Sonja verbunden, und kann andererseits ohne dem schrecklichen NichtsSein in einer neuen stabilen Partnerschaft leben.

Ein derartiger Überlebenskampf gegen das NichtsSein – genaugenommen gegen das NichtsKind – findet immer anderswo statt. Denn es gibt ja kein ICH und kein MICH, sondern nur ein DU/IHR und ein DEIN/EUER. Das ist fürchterlich für alle Beteiligten.

Abschließend meinte Sonja traurig zu mir: „Ich habe tatsächlich immer mehr an mir gezweifelt. Ich dachte schon, ich bin verrückt. Ich gehöre in die Klappse. Soweit ging das. Auf die Idee, dass meine Tochter in ihrem Hass gar nicht meine Tochter ist, sondern Max II, auf das wäre ich nicht gekommen. Aber es macht so viel Sinn.“

(Es ist tatsächlich so, dass Sonja in Zustände geraten ist, die durchaus zu Einweisungen führen können.) Und wie geht es weiter?

„Also, das mache ich nicht mehr mit. Ich zweifle nicht mehr an mir. Das ist ja entsetzlich. Ich werde mich mit Max und Max II nicht mehr befassen.“, flüstert Sonja und beginnt bitterlich zu weinen, „Jetzt muss ich erstmal mich suchen. Und dann suche ich meine Tochter.“

Insofern ist für mich die alltägliche Aussage der „überzogenen Selbstliebe“ eines Narzisten nicht stimmig: Es gibt einen ‚Narzissten‘ ja nicht. Er ist nicht existent. Wenn etwas tatsächlich übersteigert ist, dann diese alternativlose, weil existenzielle Bezogenheit auf ein Außen, auf ein DU/IHR. Liebe im eigentlichen Sinne ist das nicht, sondern eine bedingungslose Abhängigkeit.

Es ist dieses Licht - Detail 19

 

Nachdem ich diesen Blog geschrieben habe und durchgelesen habe, könnte ich die Frage der Psychotherapeutin beantworten:

Ich begegne in meiner Arbeit sehr vielen Opfern von erwachsenen NichtsKindern. Aber ich arbeite mit keinen Narzissten längerfristig, nicht im Einzelsetting. Das ist aber keine bewusste Entscheidung von mir, die entsprechenden Menschen kommen einfach nicht mehr. Sie können offenbar die Aufmerksamkeit auf ihr NichtsKind nicht aushalten. Gibt es jedoch eine grundsätzliche Bereitschaft sich mit dem eigenen NichtsSein zu beschäftigen, dann ist meines Erachtens nicht mehr von ‚Narzissmus‘ zu sprechen.

 

 

 

 

 

ICH und KontaktAbbrüche?

In meiner Arbeit begegne ich immer wieder Menschen, die auf der Suche sind nach sich selbst, die sich also die Frage stellen:

Wer bin ich? Wer bin ich wirklich? Wer bin ich nicht?

So wie neulich Eva, die in ihrer ersten Einzelstunde feststellte, dass sie gar nicht sie selbst ist, dass sie gar nicht in sich selbst ist, dass sie von der tatsächlichen Eva getrennt ist.

Ich fragte sie, wo sie denn dann wäre, wer sie denn dann wäre, wenn nicht die Eva, die mir gegenüber sitzt.

„Ich bin dann irgendwie viel jünger, kleiner, auch schwächer. Irgendwie total unterlegen. Ich finde mich dann auch nicht hübsch. Dann weiß ich auch gar nicht, was ich anziehen soll. Ich weiß schon so vom Kopf her, dass mit mir alles ganz normal ist, dass es die erwachsene Eva gibt.  Die ist völlig in Ordnung ist, aber in der bin ich nicht.“

Warum? Ich meinte zu Eva, dass es dafür einen Grund geben muss, warum sie nicht in sich drinnen ist.

Eva erzählt mir daraufhin ihren verschiedenen Aufstellungen, die sie bereits gemacht hat, ohne dass sich daran etwas geändert hätte: Es gibt diese erwachsene kompetente junge Frau, die sie eigentlich wäre, aber nicht ist. Und es gibt diese unterlegene, kleine und schwache Eva, die sie zu sein scheint, aber eigentlich nicht ist. (Ich frage nach, ob sich durch die Aufstellungen tatsächlich nichts geändert hat, also nichts besser oder schlechter geworden ist. Eva schüttelt den Kopf und meint, da hat sich nichts geändert, sonst hat sich schon einiges getan.)

Eva wurde sehr wahrscheinlich mit 12 während einer Klavierstunde sexuell traumatisiert. Was niemand in ihrer Umgebung wissen wollte. Auch nicht ihre Eltern. Denn der potentielle Täter ist eine stadtbekannte Persönlichkeit, mit dem sich bis heute niemand  auseinandersetzen will. Auch nicht ihre Eltern. Unmittelbar nach dem Gewalterlebnis hörte Eva abrupt auf mit dem Klavierspielen und entwickelte eine Essstörung. Sie magerte derart ab, dass sie in eine Klinik zwangseingewiesen und dort zwangsernährt wurde.

Seitdem hat Eva fürchterliche Angst, dass jemand bemerken könnte, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Dass ihr jemand die Magersucht ihrer Jugend ansehen könnte. (In Wirklichkeit ist Eva eine normal schlanke junge Frau, der die überwundene Magersucht nicht anzusehen ist.)

Und so darf auch niemand wissen, dass sie wegen diesem Thema zu mir oder zu jemand anderem geht. Davor habe sie panische Angst, genauso, wie wenn jemand ihr ansehen könne, dass sie Magersucht hatte.

Warum? Warum ängstigt Eva das so sehr?

„Dann würde meine Mutter sagen: ‚Oh Gott, sie hat es immer noch nicht überwunden!‘ und das ist ganz schlimm für mich.“

In der folgenden Einzelarbeit wollte Eva etwas für sie völlig Neues ausprobieren, nach dem sie einige Gruppenseminare in der letzten Monaten machte: Sie will sich mit der „verdeckten KissenAufstellung“ sich auf die Suche nach ihrem eigentlichen ICH machen.

„Ich bin in mir und mir geht es gut mit mir.“

Es zeigt sich tatsächlich, dass die Mutter und deren (un)ausgesprochene Forderung „Du musst so  sein, als wäre nichts passiert!“ für Eva unaushaltbar ist. Und so spürte Eva dem Mutter-Kissen (ohne dass sie wusste, dass es das Mutter-Kissen) gegenüber Wut.  (Ich war sehr überrascht, habe ich doch von allen möglichen Gefühlen bei Eva noch nie Wut miterlebt.) Nach dem Eva einige Minuten ihre Wut spürte, nahm sie das Kissen und warf es mit Kraft in die Ecke:

„Dich brauche ich nicht mehr. Du bist mir keine Hilfe. Im Gegenteil.“

Davon ausgehend klärte sich erschreckend klar, warum Eva nicht die erwachsene Eva sein kann, warum sie nicht in sich sein kann:

Das, was Eva erlitten hat, das darf in den Augen ihrer Mutter und der restlichen erwachsenen Welt nicht so sein, wie es ist: nämlich eine schlimme Gewalterfahrung, die bis heute für Eva leidvoll spürbar ist. Wenn es sie überhaupt gibt, dann nur als etwas, was nicht so schlimm war, schon lang vorbei ist, … . Und so meint Eva zu dem Kissen ’sexuelle Gewalt‘ (wieder ohne zu wissen) auch: „Das ist etwas Unbedeutendes. Das ist unwichtig. Das hier ist nicht der Rede wert.“

Wenn dem so ist, wenn also das, was ich erlebt habe, nicht sein darf, wie es war und wie es ist, dann kann ich nicht ICH sein. Dann kann ich nicht mein ICH leben, nicht in meiner Identität leben. Mit Identität meine ich, die Summe aller Lebenserfahrungen eines Menschen.

Daher führt eine Auseinandersetzung mit dem ICH, mit der eigenen Identität unweigerlich auch zu einer Auseinandersetzung mit der Qualität der Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen:

Wie ist mein Kontakt zu mir selbst? Kann ich, darf ich und will ich da sein, mit alle dem, was ich erlebt habe?

Wie ist der Kontakt zu anderen Menschen? Zu meinen Eltern? Zu meinen Geschwistern? Zu meinen Partnern und Partnerinnen? Zu meinen erwachsenen Kindern? Zu Freunden und Freundinnen? Zu Therapeuten und Therapeutinnen? Zu Kollegen und Kolleginnen? Kann ich, darf ich und will ich da sein, mit alle dem, was ich erlebt habe?

Was bedeutet das, wenn ich nicht da sein kann, darf oder will?

Eva schaut auf das Mutter-Kissen, das sie eine halbe Stunde zuvor voller Wut in die Ecke schmiss:

„Ja, das ist tatsächlich so. Sie war und ist mir keine Hilfe da mit mir. Im Gegenteil. Es wirft mich immer wieder zurück, wenn ich mit ihr rede, hab ich das Gefühl. Hm: Was heißt das für mich jetzt? Darf ich mich von meiner Mutter distanzieren?“

Diese Frage freute mich zutiefst. Nicht, weil ich will, dass sich Eva distanziert und womöglich den Kontakt zu ihrer Mutter abbricht. Nein, ich freue mich, dass in Eva die Idee entstanden ist, dass ein Kontakt, eine Beziehung ihr nicht gut tut, mehr noch: ihr sogar in der Gegenwart schadet. Dass eine Beziehung verändert werden kann, dass sie nicht „für immer und ewig“ bedeutet. Und ich freue mich darüber hinaus, dass in Eva eine Ahnung entstanden ist, dass sie sich überhaupt schützen kann.

Das bedeutet: Eva misst sich selbst einen Wert bei. Sie ist schützenswert. Wenn dem so ist, dann ist Eva doch schon etwas in sich. Es ist ihr gesundes ICH, das weiß: wenn ich mich mit meinen traumatischen Erlebnissen Dir nicht zeigen darf, dann tut der Kontakt zu dir mir nicht gut.

Eva beendet ihre Einzelstunde mit der Feststellung: „Ich kann und darf mich von meiner Mutter distanzieren.“

Wie wird das konkret ausschauen? Wird Eva den Kontakt zu ihrer Mutter einschränken? Wird sie ihn abbrechen? Wird sie vielleicht mit ihr nicht mehr über sich und ihre Verletzungen sprechen?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie in ihrer Arbeit für sich spüren und fühlen konnte, dass ihr die Beziehung zu ihrer Mutter unter der Bedingung „Du sollst wieder normal sein, als wäre nichts passiert!“ schadet.

Soll Eva den Kontakt zu ihrer Mutter einschränken? Soll sie ihn abbrechen?

Auch das weiß ich nicht. Das soll ich auch nicht wissen. Denn das kann nur Eva selbst für sich wissen: Wie will ICH meine Beziehung gestalten? Es ist mir wichtig, dass Menschen es wagen, zu spüren, fühlen und denken, dass Beziehungen so zu gestalten sind, dass sie ihnen gut tun und nicht schaden. Dass sie grundsätzlich dürfen. Denn das ist für mich eines der Kennzeichen eines gesunden ErwachsenenICH, im Unterschied zu einem KinderICH, das natürlicherweise immer auch abhängig ist von der Beziehung zu Mutter, Vater, …

Was weiß ich denn dann überhaupt in meiner Position als Begleitung?

Ich weiß, dass Menschen im gesunden ErwachsenenICH grundsätzlich die Möglichkeit haben, ihre Beziehungen gestalten: ICH kann immer wieder prüfen, ob mir meine Beziehungen und Kontakte zu mir und zu anderen Menschen gut tun. Dementsprechend kann ICH immer wieder korrigierend eingreifen. ICH kann Kontakte intensivieren, sie einschränken, sie abbrechen und sie wieder aufnehmen. Je nach dem.

Und so gibt es für mich keine allgemeingültige Position.  (Mit einer gewichtigen Ausnahme: Menschen, die sich in ihren Beziehungen zu sich und zu anderen akut selbst- und/oder fremdgefährden.)

Und so erlebe ich in meiner Praxis immer wieder ein Ringen, ein Ausbalancieren, um gesunde Beziehungen und Kontakte:

Manchmal erwies sich ein KontaktAbbruch als der entscheidende Schritt in Richtung gesundem ErwachsenenICH, manchmal ist es eine Einschränkung eines Kontaktes, und manchmal sogar die Intensivierung einer Beziehung:

So wie bei Hans, der mir mitteilte, seinen in der Kindheit gewalttätigen Vater jetzt in dessen letzten Monaten intensiv begleiten zu wollen, obwohl er immer wieder verbal extrem  ausfällig wird.  Hans kämpfte jahrelang mit sich, sich von ihm zu abzugrenzen und sich vor der psychischen Gewalt seines Vaters zu schützen. Vor einigen Jahren schaffte Hans es tatsächlich und es ging ihm sehr, sehr gut, ohne Kontakt zu seinem Vater. Und nun eine derartige Kehrtwende.

Ich war völlig überrascht und irritiert, sodass ich zu ihm sagte: „Da bin ich tatsächlich überrascht. Damit hätte ich nicht gerechnet.“

„Du bist dagegen, oder?“

„Nein, ich bin irritiert. Mir ist nicht klar, was Du damit bezweckst, aber etwas wirst Du bezwecken.“

„Stimmt, ich weiß nicht, warum ich das tun werde. Ich weiß nur, dass es wichtig ist für mich.“

Nach der Vater gestorben war, kam Hans wieder zu einem Einzeltermin:

„Ich weiß jetzt, warum ich das tun musste. Es war die Hölle für mich. Es war furchtbar. Aber es war tatsächlich wichtig: Stell Dir vor, einmal als ich ihn im Krankenhaus besuchte, beschimpfte er mich derart, dass die Krankenschwester schon einschritt und ihn mäßigen wollte. Er schrie sie nur an, was einmal gesagt werden muss, muss gesagt werden: ‚Ich hätt‘ Dich damals derschlagen sollen.‘ Und dann stand ich da und wusste plötzlich ganz sicher, es stimmt, was ich immer ahnte und was in den Aufstellungen immer rauskam. Anscheinend musste ich das einmal von ihm hören.“

Ja, offenbar. „Und dann?“

„Dann habe ich zur entsetzten Krankenschwester gesagt, dass es so war und so ist. Und dann hab‘ ich ihn angeschaut, seinen Hass im Gesicht gesehen. ich hab mir nur gedacht, nein, der meint nicht mich, und bin gegangen.“

„Und dann?“

„Dann? Bin ich nach Hause gefahren und habe geweint. Um mich geweint. Und um die Schrecken einer solchen Vater-Sohn-Beziehung.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ICH und objektive und subjektive Wahrheiten

Vor ein paar Wochen bekam ich völlig überraschend Post von der Kriminalpolizei. Eine Vorladung. Ich sollte eine  Zeugenaussage  bezüglich „sexuellen Missbrauchs“ machen.

Die Grundlage für diese Zeugenbefragung waren Gespräche, die ich vor 10-15 Jahren noch größtenteils während meines Studiums führte. Ich hatte große Mühe, mich überhaupt daran zu erinnern.

Ich war irritiert: Was soll ich machen? Eine Zeugenaussage? Das kann und will ich überhaupt nicht machen. Doch (leider) stellte sich die Frage gar nicht:

„Ich muss Sie darüber aufklären, dass Sie keine Angaben zur Sache machen müssen, wenn Sie mit dem Betroffenen verwandt oder verschwägert sind. Weiterhin können Sie die Antwort auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung Sie selbst oder einen nahen Angehörigen in die Gefahr bringen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.“

Danach wurde ich zwar freundlich, aber bestimmt belehrt:

„Wenn Sie Angaben zur Sache machen können, sind Sie gehalten die Wahrheit zu sagen,
andernfalls könnten Sie sich strafbar machen. Haben Sie die Belehrung verstanden?“
Ja, das hatte ich. Allerdings. Aber was ist Wahrheit?
Im Duden steht, dass die Wahrheit „das Wahr sein; die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird; Richtigkeit“ sei und zudem sei sie ein „wirklicher, wahrer Sachverhalt, Tatbestand“.
„Können Sie Angaben zur Sache machen?“
Nein, das konnte ich nicht wirklich:  Ich konnte nicht sagen, wann, was, wie oft und durch wen passiert ist. Ich konnte nur sagen, dass wir damals über „sexuellen Missbrauch“ gesprochen hätten; und ich konnte sagen, dass ich mir durchaus vorstellen könnte, dass etwas passiert ist. Aber was?
Der Kripobeamte meinte, es ginge hier nicht um subjektive Annahmen und Wahrheiten, sondern um gesicherte Angaben. Was wurde mir gesagt bezüglich: Wann ist der sexuelle Missbrauch passiert? Was genau wurde gemacht? Wie oft ist es geschehen? Wurde der Täter benannt?
Meine Vernehmung endete damit, dass ich nichts strafrechtlich Relevantes aussagen konnte.
Das, was ich zu diesem Fall (und zu vielen anderen Fällen) zu sagen habe, ist im Sinne der Strafverfolgung nicht relevant.
Das gibt mir sehr zu denken:
Denn  in meiner täglichen Arbeit begegne ich immer wieder Menschen, die sichtlich an ihren Lebenserfahrungen leiden, sich aber nicht daran erinnern können. Sie suchen nach der Wahrheit ihrer Kindheit. Und sie finden sie durchaus im Laufe ihres therapeutischen Prozesses: Es ist die emotionale, körperliche und sexuelle Gewalt durch (nahe und geliebte) Menschen, die sie zutiefst verletzte und an deren Langzeitfolgen sie leiden. So wie Emil.
Emil ist ein 47 jähriger Mann, der sein Leben lang auf der Suche nach dem ist, was ihm in der Kindheit widerfahren ist. Mit 18 Jahren ist er wegen einer Alkoholvergiftung in die Notaufnahme gekommen. Das letzte woran er sich noch erinnern konnte, ist, dass plötzlich in ihm ein Film ablief, in dem er seinen Vater sah und sich als Kind. Er weiß nicht mehr, was er da vor seinen inneren Augen gesehen hatte, nur dass er gleichermaßen erleichtert wie erschrocken war. Stunden später fand er sich in der Notaufnahme wieder. Emil ist sich sicher, dass er damals tatsächlich etwas wieder erlebte, was er tatsächlich als Kind erlebte. Seitdem versucht er, sich mit den verschiedensten therapeutischen Methoden wieder zu erinnern. Und so ist er irgendwann auch auf mich und meine Aufstellungsarbeit gestoßen:
Immer wieder lautete sein Anliegen: „Was ist mir mit meinem Vater passiert?“
In den einzelnen Aufstellungen zeigten sich die verschiedensten Gewaltszenarien: Demütigung und Verachtung, verbale Gewalt, körperliche Gewalt und schließlich auch eine brutale Vergewaltigung:
Emils Vater kam sturzbetrunken von einer Kneipentour zurück, legte sich zu Emil ins Bett und vergewaltigte ihn irgendwann in der Nacht. Emils Mutter war bei einer Freundin über Nacht. Das machte sie immer wieder, wenn er zum Saufen ging.
Nach dieser Kissenaufstellung meinte Emil zu mir: „Das ist das, wonach ich gesucht habe. Das ist mir passiert. Jetzt weiß ich wieder.“
Einige Tage danach erzählte mir Emil, dass er sich danach wieder hemmungslos betrunken hatte. So wie damals.
Eine Vergewaltigung ist im psychologischen Sinne eine sexuelle Traumatisierung und im juristischen Sinne ein Verbrechen. Ein Sexualdelikt, das bei Bekanntwerden verfolgt und geahndet wird, so wie andere Straftaten auch. In Deutschland ist körperliche Gewalt immer eine Straftat, sexuelle Gewalt fast immer, und emotionale Gewalt zumindest in schweren Fällen. Das bedeutet: Dem Täter oder der Täterin –  manchen Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, … meiner Klienten – droht bei polizeilichen Ermittlungen eine Strafe.
Und ich kann nichts strafrechtlich Relevantes dazu aussagen? Nein, das kann ich nicht.
Zu den Studenten und Studentinnen meines Seminars über sexuelle Gewalt meinte ich kürzlich, dass ich gerade deswegen nicht im Bereich der Strafverfolgung tätig sein wollte.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist im Strafgesetzbuch den „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ untergeordnet. Es sind überwiegend Verbrechen, die im Stillen und Verborgenen stattfinden. Das hat weitreichende Konsequenzen:
  • Es gibt keine Zeugen: Denn jeder, der Zeuge wird, der also zweifelsfrei gesehen hat, wie ein Kind sexuell traumatisiert wird, ist immer auch ein Mittäter oder eine Mittäterin, müsste sich also selbst belasten. (Es sei denn, er oder sie schreitet ein und hilft dem Kind bzw. verständigt die Polizei.)
  • Es gibt häufig keine Beweise: Denn körperliche Verletzungen und Spermaspuren müssten sofort nach der Tat gesichert werden, so es sie überhaupt gegeben hat. Aber welches Kind wird unmittelbar nach der Tat zum Arzt gebracht? Zudem: Eine Vielzahl sexueller Gewalttaten hinterlässt keine körperlichen Verletzungen und auch keine verwertbaren Spuren.
Und so steht in der Regel in Gerichtsprozessen Aussage gegen Aussage, wenn nicht der Angeklagte geständig ist. Verkürzt ausgedrückt: Es obliegt dem Richter oder der Richterin, wessen Aussage glaubwürdiger bewertet wird. Hinzu kommt noch der Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten), wonach im Strafprozess ein Angeklagter nicht verurteilt werden darf, wenn dem Gericht Zweifel an seiner Schuld verbleiben.
Aber wie glaubwürdig erscheint ein Opfer, das sich nicht mehr an den genauen Tathergang erinnert? Das keine anderen Beweismittel vorbringen kann als seine Erinnerung? Das keine genauen Angaben zu Datum, Uhrzeit oder Ort machen kann? Das angibt, sich erst im Rahmen einer Therapie wieder an die sexuelle Gewalt erinnern zu haben? Das unter Traumafolgestörungen, wie Depression, Sucht, Psychosen leidet? Das vielleicht Medikamente nimmt?
Was ist, wenn sich ein Opfer irrt? Wenn es sich nicht um sexuelle Gewalt handelt, sondern um körperliche Gewalt? Wenn der Täter nicht der Vater ist, sondern der Großvater? Wenn die sexuelle Gewalt zwar passiert ist, aber nicht dem Opfer, sondern seiner Mutter? Wenn also die Erinnerung nicht wahr ist?
Aus diesen und noch anderen Gründen birgt der juristische Prozess der Wahrheitssuche für alle Beteiligten mitunter unheilvolle Konsequenzen.
Eine der Studentinnen fragte mich: „Und nun? Was folgt daraus? Was soll man nun machen als Opfer? Sollen Täter und Täterinnen nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden? Das geht doch auch nicht!“
Ich weiß es nicht. Und nun?
Emil konfrontierte seine Eltern einige Monate nach der Aufstellung mit seiner wiedergefundenen Wahrheit: Seine Mutter glaubte ihm nicht. Sie lachte ihn aus und meinte, er wäre wohl verrückt geworden. Das wäre nun das Ergebnis seiner jahrelangen Therapien. Sein Vater schaute ihn hasserfüllt an und sagte nur, er sollte besser mit dem Saufen aufhören und seinen Mund halten.
Ich fragte Emil, was diese Reaktionen seiner Eltern mit ihm gemacht hätten.
„Ich bin zutiefst enttäuscht, vor allem von meiner Mutter. Sie hat mich wieder im Stich gelassen und verraten. Und mein Vater, was soll ich dazu noch sagen? Da erübrigen sich alle Worte. Ich habe für mich meine Wahrheit gefunden. Darüber bin ich sehr, sehr froh. So hart es ist, es ist meine Geschichte. Ich kann jetzt mit meinem Leben beginnen.“

Darum geht es mir, für mich selbst und für die Menschen, die ich in ihrem Prozess begleite: Um das (Wieder)erinnern der eigenen Geschichte. Um das (Wieder)finden der eigenen Wahrheit. Um das eigene Leben.

Es geht mir nicht darum, Anklage zu erheben und Gerechtigkeit zu suchen, indem Täter oder Täterinnen zur Verantwortung gezogen werden und bestraft werden. Denn dadurch verknüpfe ich erneut mein Wohl und Weh mit dem Täter oder der Täterin. Ich bleibe gebunden an mein Gewalttrauma.

Nein, es geht mir darum, in mein eigenes Leben zu finden. So wie Emil. In ein Leben jenseits von OpferHaltungen und TäterHaltungen.

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ICH und das Wegschauen und Hinschauen

 

Es war ein Zeitungsartikel in der Süddeutschen Zeitung vom 9.Februar 2018 über (sexuelle) Gewalt und Machtmissbrauch im österreichischen Skiverband, der mich einmal mehr über das Wegschauen nachdenken ließ. Das Wegschauen so vieler beteiligter Menschen, die wussten oder zumindest ahnten, die hätten wissen können, die hätten nachfragen können, … . Was wäre, wenn nicht weggeschaut worden wäre? Wenn nicht weggeschaut wird?

Und da fällt mir Tom ein.

Tom ist ein 48 jähriger Mann, der seit einem Jahr einmal im Monat zu einer Einzelstunde kommt. Tom lernte mich auf einem Aufstellungsseminar kennen. Einige Jahre später rief er mich an. Gleich zu Beginn fragte er mich:

„Kann ich zu Dir zu Einzelstunde kommen und muss ich da unbedingt Aufstellungen mit und ohne Anliegensatz machen?“

Ich war sehr verwundert. Denn Tom ist immer wieder bei Aufstellungsseminaren dabei. Ich habe ihn dabei als einen sehr einfühlsamen Stellvertreter und einen durchaus begeisterten Verfechter der ‚Identitätsorientierten Psychotraumatheorie‘ von Franz Ruppert erlebt.

„Nein, natürlich nicht. Wir können auch Gespräche auf der Basis der Psychotraumatheorie führen. Je nachdem, wie Du die Einzelstunde für Dich nützen möchtest.“

Und so vereinbarten wir einen ersten Termin.

Ich frage nach Toms bisherigen Leben und Tom antwortet mir unaufgeregt. Ich fühle seinen Antworten nach und frage nach, ob ich ihn richtig verstanden habe. Tom antwortet immer genauer auf mein Nachfragen. Ich erschrecke über seine Antworten, worüber nun Tom seinerseits erschrickt:

„Weißt Du, für mich ist das normal. So war das halt. So ist das halt. Ich habe dem bis heute keinen besonderen Wert beigemessen. Und sonst auch niemand. Mit mir war ja immer soweit alles ganz normal. Was sollte ich schon haben?“

„Nein, das ist nicht normal.“

Und so zeigt sich mit jedem Gespräch mehr, in welchem Schrecken Tom aufwachsen musste, welchem Terror er hilflos ausgeliefert war: Tom wurde regelmäßig die ganze Kindheit hindurch schwer misshandelt. Sein Körper war immer wieder deutlich sichtbar gezeichnet von der brutalen Gewalt, die er erlitten hatte. Es war seine Mutter, die ihn mit ihren Fäusten und Füßen, mit allem, was sie in ihre Hände bekam, niederschlug und auf ihn einprügelte. Sein Vater schaute weg.

Tom ist in einem kleinen Dorf in der Nähe einer Kleinstadt aufgewachsen – in einem Dorf, in dem jeder jeden kennt, in dem man von einander weiß. Und so wusste das Dorf, dass Toms Mutter jähzornig und unberechenbar ist und immer wieder ausfällig wird und ausrastet, wenn man nicht ihrer Meinung ist. Aber das Dorf hat seinen Umgang mit ihr gefunden: Es geht ihr aus dem Weg und legt sich mit ihr nicht an. Es vermeidet jedwede Auseinandersetzung mit ihr. Von Toms Vater wusste das Dorf, dass der ein ganz armer Mann ist, dass er einem wegen dieser Frau leidtun muss, oder dass er gar kein richtiger Mann ist, weil er seine Frau nicht im Griff hat.

Und auch von Tom und seinem geschundenen Körper wusste das Dorf auch:

In einem der Gespräche frage ich Tom, wie das möglich ist, eine derartige Gewalt zu erleben, ohne dass das jemandem aufgefallen ist, ohne dass jemand etwas unternommen hätte.

„Da wurde ja nichts vertuscht. Nicht von meiner Mutter. Es ist ja gar nicht heimlich passiert.“ Tom schüttelt seinen Kopf und schließt seine Augen: „Einmal, daran erinnere ich mich gerade: Ich sehe mich gerade vor mir, da war ich wohl sieben Jahre alt, da hat sie mich mitten auf der Straße windelweich geprügelt. Sie hat ganz furchtbar geschrien und ich auch. Mitten in aller Öffentlichkeit.“

„Wie? Deine Mutter hat Dich in aller Öffentlichkeit zusammengeschlagen?“

„Ja, das kam öfter vor.“

„Und was ist dann passiert?“

„Nichts. Was soll passiert sein? Die, das mitbekommen haben, sind schnell in ihre Häuser verschwunden und haben die Vorhänge zugezogen.“

„Und Du? Was ist mit dem siebenjährigen Tom und seinem verletzten Körper passiert?“

„Ja, nichts. Der ist halt irgendwann wieder aufgestanden und nach Hause gegangen. Zuhause sagte dann mein Vater zu mir, ich solle die Mutter nicht immer so reizen. Das war’s dann. Bis zum nächsten mal.“

„Und was war am nächsten Morgen. Wie bist Du denn in die Schule gekommen, so verletzt wie Du warst?“

„Das ging schon. Nur, wenn’s zu schlimm war, dann musste ich zu Hause bleiben, auch wenn ich gar nicht zu Hause bleiben wollte.“

Nach einem längeren Moment des Schweigens fragt mich Tom ernsthaft: „Was hätte denn sein können? Was hätte denn passieren können?“

„Es hätte jemand die Polizei und den Krankenwagen rufen müssen. Es hätte jemand einschreiten müssen und Deine Mutter bändigen müssen. Es hätte jemand sich um den verletzten kleinen Jungen kümmern müssen. Es hätte jemand das Jugendamt verständigen müssen. Es hätte jemand Dir erklären müssen, dass das schlimm ist, was Deine Mutter Dir immer wieder antut… . Es hätte viel passieren müssen und nichts von dem ist offenbar passiert.“

Tom schaut mich lange an und fragt mich dann erstaunt: „Wer hätte das denn tun sollen?“

„Dein Vater, deine Lehrerin, die Nachbarn, der Kinderarzt, der Pfarrer, die Dorfleute, die Eltern Deiner Freunde, Deine Großeltern, … . Es hätte jeder tun sollen, der davon wusste.“

Tom beginnt ganz leise und still zu weinen. „Nein, es ist nichts passiert. Nichts davon.“ Und nach längeren Schweigen schaut er mich erschrocken an: „Ich habe ja auch nichts getan. Einmal wurden wir in der Schule untersucht. Und da hat mich der Schularzt dreimal gefragt, woher die vielen blauen Flecken kommen. Ich habe immer gesagt, ich wäre die Treppe hinuntergefallen. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte traurig zu mir, wenn ich ihm nicht die Wahrheit sagen würde, könnte er mir nicht helfen. Ich habe geschwiegen. Die Lehrerin und die Klasse auch.“

Ein Wegschauen, wie es Tom in seiner Kindheit erlebte, hat weitreichende Konsequenzen für die Opfer der Gewalt, aber auch für die Täter der Gewalt. Denn dann hört die Gewalt nicht auf. Ein Gewaltausbruch folgt dem nächsten Gewaltausbruch. Täter werden dann immer wieder zu Tätern und Opfer werden immer wieder zu Opfern gemacht. Die Gewalt bleibt.

Aber nicht nur das.

Toms Lebensgeschichte lässt mich noch weiter über das Wegschauen nachdenken.

Für mich scheint das Wegschauen ein (un)bewusstes Verneinen dessen zu sein, was Menschen gerade gesehen haben: Ich sehe etwas und schaue weg, schaue an etwas vorbei, schaue über etwas hinweg. Warum mache ich das? Vielleicht deswegen, weil ich mich dann nicht beziehen muss, auf das, was ich gesehen habe. Ich muss dann nicht reagieren, auf das, was ich gesehen habe. Ich sehe und habe doch nicht gesehen. Ich muss nicht einschreiten, helfen, schützen… Das, was ich gesehen habe, hat keine Konsequenz.

Tom wird auf offener Straße unter den Augen einiger Dorfbewohner von seiner Mutter zusammengeschlagen und es erfolgt – nichts. Er steht auf und geht nach Hause. Trotz aller vor den Ohren der ganzen Klasse und der Lehrerin geäußerten Zweifel des Schularztes ob der massiven Blutergüsse erfolgt – nichts. Tom geht Tag für Tag zur Schule, als wäre nichts passiert.

Und so manifestiert sich langsam: Ist denn überhaupt etwas passiert? War da was Schlimmes? Nein, nein. Es war alles ganz normal. Es war nichts.

Aber was ist dann, wenn das nichts oder nicht war, was so oft passiert ist?

Nach einigen Gesprächsterminen möchte Tom mit meinen Kissenbezügen arbeiten: Dabei nähert sich Tom zum ersten Mal seinen massiven körperlichen und emotionalen Schmerzen direkt an. (Zuvor haben wir nur über die erlittene Gewalt gesprochen, wie sie sich für ihn angefühlt haben mag und wie sie sein Leben bis heute beeinflusst.)

Tom kommt in Kontakt mit seinen unaushaltbaren körperlichen Schmerzen, mit seinen unerträglichen Gefühlen von Todesangst und Scham. Und er ahnt zum ersten mal in sich eine riesige Wut auf seine Eltern.

Ich bin sehr berührt und überrascht, wie achtsam Tom mit sich und seiner erlittenen Gewalt in Kontakt gekommen ist. Tom ist sichtlich zufrieden über seine Selbstbegegnung und ich auch. Ich freue mich sehr für ihn.

Doch plötzlich erkenne ich einen Wingsuit in der Art und Weise, wie Tom die Kissenbezüge angeordnet hat. (Das ist ein spezieller Anzug für Fallschirmspringer und Basejumper. Dabei sind die Flächen zwischen den Armen und Beinen wie Flügel.)

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Wingsuit Blog

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Bild von http://www.tonywingsuits.com)

Und ich verstehe endlich:

Einige Termine zuvor erzählte Tom mir von seinem Absturz. Er ist beim Basejumping abgestürzt. Eine Windböe hat ihn gegen einen Felsen gedrückt und dann konnte er offenbar den Fallschirm nicht mehr richtig öffnen. Berglatschen bremsten seinen Aufprall. Wie durch ein Wunder überlebte Tom – allerdings sehr schwer verletzt: Mit einigen inneren Verletzungen und unzähligen Knochenbrüchen. Er wurde mit einem Hubschrauber in ein Unfallkrankenhaus geflogen. Die Polizei kam und ermittelte den Unfallhergang. Die Presse berichtete.

Ich frage Tom, ob er jemals wieder gesprungen ist.

„Nein, das hörte plötzlich auf. Es war gut. Ich war nicht traurig darüber und habe es auch nicht vermisst. Ich habe dann ganz andere Sachen gemacht. Nicht, weil ich mich gefürchtet hab oder weil ich vernünftig geworden wäre. Nein. Es war einfach vorbei und gut so.“

Toms Verletzungen sind sichtbar geworden – das, was Tom immer in sich gefühlt hatte, ist im Außen sichtbar geworden, hat seine Entsprechung im Außen gefunden. Und nicht nur das, sie werden gesehen – von der Familie, von den Ärzten, von der Polizei, sogar von den Dorfbewohnern.

„Viele Jahre später fragte mich einer auf einer beruflichen Fortbildung, von woher ich eigentlich komme. Ihm käme mein Dialekt so bekannt vor. Als ich ihm dem Namen des Dorfes sagte, meinte er, er käme aus dem Nachbardorf. Stell Dir vor, dann fragte er mich, ob das nicht der Ort sei, wo da mal vor vielen Jahren einer beim Basejumpen abgestürzt ist und wie durch ein Wunder überlebt hat. Stell Dir das mal vor, das fragt der mich!“

„Ja, daran kann man sich erinnern. Da schaute niemand weg. Darüber kann man sprechen, wegen dem kann man Dich ansprechen. Aber über die Verletzungen damals, über die körperliche Gewalt Deiner Mutter, darüber spricht keiner bis heute nicht. Sie schauen weg bis heute.“

„Ja, das tun sie tatsächlich. Alle – meine Familie und auch die, die ich von früher her noch kenne. Da hat sich nichts geändert. Nur über meinen Absturz – da reden sie bis heute.“ Tom streichelt sanft über sein Ich-Kissenbezug:

„Aber ich schaue nicht mehr weg: Ich weiß jetzt, dass nichts normal war. Ich weiß, was mir passiert ist und wie sehr ich darunter gelitten habe.“

 

ICH und die Ohnmacht und Hilflosigkeit

Für einen Moment wusste ich nicht mehr, was ich tun kann, was ich tun soll:

Ich saß Zoe gegenüber, mit der ich schon längere Zeit arbeite. Zuweilen nimmt auch ihre Mutter an meinen Seminaren mit einem eigenen Anliegen teil. Daher ging ich davon aus, mich recht gut in der Traumalandschaft dieser Familie auszukennen.

Und doch bin ich an eine Grenze gekommen.

Zoe möchte in dieser Arbeit herausfinden, was da los ist in ihrer jetzigen Familie, warum ihre drei Kinder außer Rand und Band sind. Sie ist sichtlich in großer Not und Verzweiflung. Gleich zu Beginn überfällt Zoe eine massive Panikattacke. Sie kann nicht mehr sprechen, bekommt keine Luft und droht zu ersticken. Nachdem diese wieder vorüberging, nimmt sie einen zweiten Anlauf:

„Das Thema ist mir wirklich wichtig. Ich will diese Aufstellung machen. So kann und will ich nicht mehr weitermachen.“ (Ja, so kann es tatsächlich nicht mehr weitergehen. Die Situation zuhause droht zu eskalieren.)

Und wieder fällt sie in ihre Panikattacke: Es ist ihr nicht möglich, trotz allen Willens und Bemühens eine Aufstellung zu machen. Und mir fällt auch nichts mehr ein.

„Was soll ich denn noch tun?! Ich tu‘ und tu‘ und schau‘ hin. Ich bemühe mich wirklich. Ich will wirklich etwas verändern! Und ändern tut sich nichts! Nichts!“

Das stimmt. Ich konnte ihr nicht wirklich widersprechen.

Ich kann mich noch gut an Zoes erstes Anliegen erinnern: Zoe will ein glückliches Leben haben. Besser gesagt, sie will fühlen, wie gut es ihr in der Gegenwart eigentlich geht: Sie ist beruflich erfolgreich, hat einen Mann, den sie liebt, und drei Kinder, ein Haus. Aber es geht ihr trotzdem nicht gut. Sie leidet unter Angst und ist einfach nicht glücklich. Ihren Lebensalltag erlebt sie immer wieder als überaus anstrengend und chaotisch, überfordernd.

Im Laufe einiger Arbeiten zu ihrem großen Bedürfnis „mit ihrer jetzigen Familie glücklich sein“ zeigte sich ein Bild ihrer Kindheit, das sich mit ihrem bewussten Wissen deckte und auch von ihrer Mutter so bestätigt wurde:

Zoes Vater verbrachte die meiste Zeit zuhause in seiner eigenen Welt, zurückgezogen in seinem Zimmer. Tauchte er im normalen Familienleben auf, so war er immer wieder emotional grausam und körperlich gewalttätig. Ihre Mutter Eva konnte weder sich selbst noch ihre Kinder ausreichend schützen. Immer wieder wurde sie selbst und die Kinder Opfer seiner Gewaltausbrüche. Die Situation eskalierte als sich Eva ihrem Mann trennte: Dieser drang völlig außer sich in ihre Wohnung ein, bedrohte Frau und Kinder mit einem Messer und zerschlug die Wohnungseinrichtung. Eva und ihre halbwüchsigen Kindern konnten gerade noch fliehen und die Polizei rufen.

Vor eineinhalb Jahren kam Zoe mit dem Anliegen, sich die Beziehung zu ihrem Vater anschauen zu wollen. Ich war überrascht: Es war das erste Mal, dass sich Zoe mit ihm direkt auseinandersetzen wollte. Als sie eine Stellvertreterin (!) für ihren Vater auswählte, wird sie plötzlich von einer massiven Panikattacke überwältigt: Sie kann nicht mehr sprechen, bekommt keine Luft mehr und droht sichtlich zu ersticken. Derart in Not geraten, konnte Zoe keine Aufstellung machen.

In den folgenden Anliegen näherte sich Zoe beharrlich der Gewalt und Aggression ihres Vaters an: Immer wieder zeichneten die jeweiligen Stellvertreter eine Kindheit voller überwältigender Gefühle – Angst, Todesangst, Scham, Wut. Es zeigten sich immer wieder lebensbedrohliche Situationen:  Zoe und ihre kleine Schwester mussten das immer wieder mitansehen, wie ihre Mutter fast umgebracht wurde, ohne dass sie ihr wirklich helfen konnten. Zudem deuteten sich auch eigene körperliche Gewalterfahrungen über den bewusst erinnerten emotionalen Sadismus hinaus.

Doch so voller Wut und Panik und Todesangst die Stellvertreter auch immer sind, so wenig fühlt und spürt Zoe davon. Es scheint, dass sie trotz aller Aufstellungen keinen wirklichen emotionalen oder kognitiven Zugang zu ihrer lebensbedrohlichen Kindheit und Jugend hat.

Das überrascht mich immer wieder: Gibt es doch tatsächliche Fakten (jenseits von eines erarbeiteten Therapiewissens), die belegen, wie gewalttätig ihr Vater der Familie immer wieder gegenüber war und wie ohnmächtig und handlungsunfähig auch ihre Mutter ihrem Mann gegenüber gewesen war. Und dennoch scheint es in Zoe bis jetzt kein ständig verfügbares Wissen darüber zu geben, dass ihre Mutter, ihre jüngere Schwester und sie selber immer wieder in akuter Lebensgefahr waren.

Was ist da nur los?

In einer Einzelsitzung mit Zoes Mutter fragte ich, warum sie mit ihren Kindern nicht viel eher gegangen war:

„Ich wollte unbedingt eine Familie, eine glückliche Familie. Eine ganz andere Familie, als ich sie in meiner Kindheit erlebt hatte. Ich wollte es schaffen, unbedingt, für die Kinder, für mich, eine glückliche Familie zu haben. An diesem Wunsch habe ich festgehalten bis es nicht mehr ging.“

Es war die tiefe Traurigkeit in ihrer Antwort, die über die Einzelsitzung hinaus in mir zurückblieb, die mir nahe ging. Und die mich Wochen später erkennen ließ: Die Beziehung zu ihrem Mann mit deren Kinder, ihre Familie muss glücklich sein, muss bestehen bleiben. Sie muss es schaffen, mit einem gewalttätigen Mann sich und ihre Kinder am Leben zu halten und eine glückliche Familie zu sein. Sie muss. Andernfalls drohte sie in ihrem alten Kinderzimmer wieder aufzuwachen: Trostlos, lieblos, freudlos, hoffnungslos.

Erst vor kurzem fragte ich Eva, wie viele Aufstellungen sie schon über ihre Ehe gemacht habe:

„Keine -, nein, stimmt nicht. Eine Aufstellung habe ich damals bei Dir gemacht.“

(Ja, da kann ich mich noch sehr gut erinnern, weil der Stellvertreter eben dieses Mannes aufgrund dessen fürchterlicher Energie noch tagelang verstört war…)

„Aber dann habe ich an diesem Thema nicht weitergemacht. Keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil es ja immer um die Kindheit ging, die Geburt, dann das Vorgeburtliche und all das.“

Ich bin verwundert: Warum beschäftigt sich Eva derart intensiv mit den Traumaerfahrungen in der Kindheit, an die sie sich nicht wirklich erinnern kann? Und warum beschäftigt sie sich so wenig mit einem derart massiven und doch halbwegs bewussten Trauma? Und ich bin verwundert über mich selbst, dass ich mich darüber nicht nachhaltiger gewundert habe.

Erst einige Tage nachdem Zoe sich für mich völlig überraschend vor der Aufstellung mit ihren Panikattacken zu schützen schien, obwohl sie doch so viel Hoffnung in eben diese setzte, beginne ich eine Ahnung zu entwickeln, was da los ist.

Es ist schlimm für Eva, dass ihre Beziehung zum Vater der Kinder nicht „glücklich“ war und auch nicht mehr „glücklich“ wird; und zwar so schlimm, dass sie sich bis heute eher mit ihrer trostlosen und lieblosen Kindheit auseinandersetzt, als damit. Vielleicht um eine Antwort darauf zu finden, warum sie nicht geklappt hat? Aber kann eine Beziehung zu einem derartig gewalttätigen Mann überhaupt glücken?

Auch ihre Tochter Zoe will eine „glückliche“ Beziehung. Und auch sie arbeitet ihre zweifelsohne traumatisierende Kindheit – die „nicht glückliche“ Beziehung ihrer Eltern und deren Scheitern – auf, um endlich selber eine glückliche Familie zu haben.

Und doch ändert sich an ihrer Gegenwart nichts.

Die Aufarbeitung der eigenen Kindheitserfahrungen liegt, wenn ich erwachsen bin, zum Glück in meiner Verantwortung allein. Da bin ich handlungsfähig. So wie es Zoe Schritt für Schritt gelingt, sich damit auseinanderzusetzen, auch wenn es schwer ist, auch wenn sie dabei Traumalandschaften betreten muss, die ihre Mutter bisher weitestgehend vermieden hat zu betreten. Nicht, weil sie nicht hinschauen will, sondern weil der Schrecken für sie bisher nicht aushaltbar zu sein scheint.

Will ich jedoch eine „glückliche“, eine glückende Beziehung leben, dann liegt das niemals alleine in meiner Verantwortung. Ich bin angewiesen auf das Dazu tun meines Gegenübers.

Und manchmal bin ich dann wie ausgeliefert. Ohnmächtig und hilflos. Und das ist schwer aushaltbar. Für Zoes Anliegen braucht es auch ihren Partner. Doch das liegt nicht in Zoes Hand. Sie ist diesbezüglich ohnmächtig und hilflos – und gerät in Panik.

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ICH und das Nichtwissen und Wissen

Auf einem meiner letzten Seminare fragte ich eine Frau nach ihrem Anliegen. Sie besuchte vor einigen Jahren regelmäßig meine Aufstellungsseminare. Zunächst seufzte sie tief auf und meinte dann mit resignierter Stimme: „Im Grunde genommen ist es immer noch das gleiche Anliegen. Ich will wissen und fühlen, was mir passiert ist als Kind. Ich tu mich halt immer noch sehr schwer mit Aufstellungen und mit anderen derartigen Methoden.“

Warum?

„Einfach weil ich das, was sich da immer zeigt, entweder wieder vergesse oder einfach nicht glauben oder überhaupt nicht ernst nehmen kann.“

Wieso?

„Ganz einfach, ich nehme eine Beobachterposition ein und höre mir an, was die Stellvertreter sagen und ausdrücken. Und das ziehe ich dann immer in Zweifel oder mache mich lustig darüber. Weißt Du, so im Sinne von „Was hat das Ganze hier mit mir zu tun?“, „Die sind doch im eigenen Film.“, „Das kann ja gar nicht sein!“ oder „Jetzt übertreiben und dramatisieren sie aber ganz schön!“ Das ist immer schon sehr schwierig für mich mit den Aufstellungen, bei wem auch immer ich aufgestellt habe.“

Aha.

Nun, diese Frau spricht ein grundsätzliches Dilemma an: Die Methode an sich lebt von der Annahme, dass Menschen als Resonanzkörper spüren, fühlen und denken können, wozu andere Menschen aufgrund ihrer Schutzmechanismen keinen Zugang haben, wovor sie sich schützen müssen. Aufstellungen sind so betrachtet ein therapeutischer Trick, Dissoziationen/Spaltungen der Menschen zu überwinden, mit dem Zweck sie wieder mit sich selbst und der Realität ihrer Lebenserfahrungen in Kontakt zu bringen. Offenbar klappt das nicht immer:  Nicht immer lassen sich Menschen von ihren Aufstellungen berühren.

Was nun?

Was mache ich mit Menschen, die diese prinzipielle Annahme bezweifeln? Wie gehe ich mit derart ungläubigen, widerspenstigen Menschen um? Sind sie noch nicht so weit? Können oder wollen nicht hinsehen? Müssen sie einfach geduldig so lange Aufstellungen machen, bis es klappt? Stimmt die Methode nicht? Mitnichten. Ein überlebenswichtiger Schutz – eben im buchstäblichen Sinne ein Überlebensmechanismus – wäre ein lausiger Schutz, ließe er sich durch einen methodischen Trick einfach überrumpeln und aushebeln.

In diesem Zusammenhang denke ich immer wieder an Johanna, eine meiner ersten Klientinnen, die ich regelmäßig bis heute ausschließlich im Einzelsetting begleite. Johanna ist eine 61 jährige Psychotherapeutin. Ich bat sie, ihre Erfahrungen mit Aufstellungen, insbesondere mit den „Kissenaufstellungen“ für meine monatlichen Blog-Überlegungen ehrlich und ungeschönt aufzuschreiben. Dankenswerter Weise kam sie meiner Bitte nach:

„Im Vorfeld – und das dauerte viele Jahre – war ich einerseits angezogen von der Möglichkeit, über die systemische Familienaufstellung konkrete Fakten über ein in mir vermutetes Trauma zu erfahren, andererseits aber ausgebremst durch die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der so möglichen Informationen. Hinzu kam, dass ich regelrecht abgestoßen war durch das, was ich von und über Bert Hellinger las und von Teilnehmern seiner Aufstellungen erfuhr. Eine enge Freundin von mir besuchte seit langem die „Mittwochsveranstaltungen“ von (…) und war tief beeindruckt. Wir beschlossen, gemeinsam die Weiterbildung zu machen. Nach drei Monaten brach ich das Unternehmen ab. Ich spürte, dass ich mich dort weder physisch noch psychisch bewegen konnte, ich saß fest und beim Erinnern halte ich den Atem an… . Die Hauptursache war wohl, dass ich eine Art Bemächtigung fürchtete. Dass Fremdbestimmung eines meiner Hauptthemen ist, wusste ich damals schon. Fremdbestimmung erlebte ich einmal durch die vorgegebenen Sätze, die der Aufstellende nachzusprechen hatte, aber auch durch das Eigene, was die Stellvertreter in die Aufstellung mit einbrachten. Meine ursprüngliche Befürchtung war gewesen, dass mir die Traumavermutung als gegenstandslos aus der Hand genommen würde, nach dem Motto meiner Familie und der Aussage der vielen Therapeuten, die ich schon aufgesucht hatte: „Da war nichts… .“ Was ich bei den Aufstellungen der anderen Ausbildungsteilnehmer erlebte, war aber das direkte Gegenteil davon: Gewalt, Verrat und Missbrauch in jeder nur erdenklichen Form und das war womöglich noch schlimmer, denn ich hatte Angst, mir am Ende selbst nicht mehr glauben zu können und so endete mein erster Annäherungsversuch.

Im Sommer erlebte ich einen körperlichen Zusammenbruch, Herzrhythmus und Blutdruck entgleisten, ich wurde von Sanitätern in die Notaufnahme einer Klinik gebracht. Weder dort noch später in konnte eine körperliche Ursache gefunden werden. Glücklicherweise machte mich wenig später meine damalige Supervisorin darauf aufmerksam, dass es sich bei dieser „vegetativen Dysregulation“ um das Flashback eines frühen Traumas handeln könne. Das gab mir den starken Impuls, nun konsequent und gezielt nach diesem Trauma zu suchen. Ich hatte dich, Christina, von einer Aufstellung als Stellvertreterin in Erinnerung und kam deswegen zum ersten Mal in deine Praxis. Es entwickelte sich ein Prozess mit zunehmend regelmäßigen Terminen (DANKE!). Nach etwa drei Monaten, in denen ich mit mir selbst um Legitimation für meine Gefühle kämpfte, begann die Stellvertreterarbeit: Du gingst in meine Rolle. Damit ging es mir zwiespältig, teils fühlte ich mich befreit, teils auch mit meinem verächtlichen Vater identifiziert.

Ich erinnere mich noch sehr gut an diese ersten Termine: Johanna zweifelte an ‚Aufstellungen‘ und ich war begeistert von ‚Aufstellungen‘. Das war ein spannendes Zusammentreffen. Sollte ich Johanna versuchen zu überzeugen von meiner hilfreichen Methode? Das klappte nicht: Ich ging zwar in Stellvertreterrollen, weil das Methoden immanent ist. Johanna war misstrauisch und ich fühlte mich zutiefst unwohl. Was mache ich hier? Wie kann ich sinnvoll arbeiten? Sicher nicht mit meinem bisherigen Methodenverständnis, nicht mit dem, was ich bis dahin gelernt hatte. So wartete ich bis ich eine neue Idee bekam, bis ich neue Impulse fand:

In dieser Zeit hatte ich für mich ein Anliegen, das für mich sehr heikel war. Ich schämte mich, mich damit in einer Gruppe zu öffnen. Ich vereinbarte einen Einzeltermin bei Martina Wittmann. Mit ihr lernte ich eine für mich gänzlich neue Art der Aufstellung – die ‚verdeckte Kissenaufstellung‘ – kennen: Die Bestandteile meiner Aufstellung wurden auf Zettel geschrieben und gefaltet. Diese sollte ich, ohne zu wissen, was jeweils darauf steht, in Kissenbezüge tun, diese im Raum verteilen und mich schließlich daraufstellen und fühlen und spüren, was mit das Kissen zu sagen hat. Ich war völlig überfordert und zugleich überrascht von dieser meiner Reaktion (immerhin war ich persönlich wie fachlich seit über 10 Jahren mit Aufstellungen befasst und nun sogar mit ihnen selbstständig berufstätig):

„Martina, ich kann nicht fühlen und spüren, wenn ich nicht weiß, was in den Kissen ist. Ich muss das wissen, damit ich mich danach richten kann.“

Martina meinte zu mir, dass ich offenbar mein Gefühl kontrollieren wollte. Allerdings. Dem war nichts hinzuzufügen. Es fiel mir unerwartet schwer, meine Kontrolle aufzugeben. Was dann dabei herauskam, war sehr stimmig, jedoch nicht das, was ich erfahren und wissen wollte. Ich wollte diesem Anteil von mir nicht begegnen. Ich war mir damals sicher, dass ich diese Christina in einer offenen Aufstellung mit oder ohne menschliche Stellvertreter niemals gezeigt hätte. Das gab mir sehr zu denken, bezogen auf meinen persönlichen Prozess und den Prozess derer, mit denen ich mit Hilfe von Aufstellungen arbeite. Und so begann ich für mich diese erstaunliche Idee von Martina Wittmann aufzugreifen und sie in meine Einzelarbeit einzubauen.

Ein Jahr später symbolisierte ich erstmals Personen und Inhalte durch die Anordnung von Kissen im Raum. Das fühlte sich ungeteilt authentisch an. Und eine Woche später haben wir unsere erste Kissenaufstellung gemacht!

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Was nun begann, war ein eigener Entwicklungsprozess. Ich versuche ihn aus heutiger Sicht nachzuzeichnen. Ich traute meiner Wahrnehmung eher nicht, hatte vor allem Angst, dass es nicht funktionieren würde. Sehr wahrscheinlich filterte ich meine Gedanken und Impulse sowohl bewusst als auch unbewusst. So hatte ich kaum bildliche Assoziationen und eher wenig erkennbare Gefühle, außer Angst vielleicht. Ich hielt mich mehr an Körperempfindungen, nach innen und nach außen gerichtete. Einesteils fasste ich langsam Mut und Vertrauen zu der Methode, auf der anderen Seite hatten sich grundsätzliche Zweifel dauerhaft eingenistet. Ich sagte mir, dass die Stichworte auf den Zetteln so stimmig zu meiner Person und Geschichte gewählt waren, dass sie beliebig meinen Kommentaren zugeordnet immer einen Sinn ergeben würden. Da man davon ausgehen muss, dass die Aufstellung an jedem Punkt auf der Zeitleiste auch ein Abbild der wachsenden inneren Ordnung und Bewusstheit abbildet, sind die ersten Ergebnisse sicherlich holpriger und mit mehr Irrtümern behaftet. Mit der Zeit wurde ich spontaner und mutiger, fühlte mich freier. Deine Haltung Christina hat diese Entwicklung sehr unterstützt. Bis jetzt beeindruckt mich deine kompromisslose Hingabe an die Nachrichten aus dem Unbewussten.

Wenn ich mit Kissen verdeckt arbeite, dann werde ich zu einer Zeugin dessen, was die Menschen allein aus sich heraus wissen. Was sie von sich heraus von diesem inneren Wissen preisgeben und wie sie es ausdrücken. Es ist ein Ausdruck eines tiefen Wissens, der nicht steuerbar, nicht kontrollierbar, nicht manipulierbar ist. Von niemanden: Nicht von den Menschen selber, sie wissen ja nicht, in welches Kissen – in welches Wort – sie gerade spüren, und auch nicht von mir, ich weiß ja ebenfalls nichts. Ich habe meine theoretischen Annahmen und Erfahrungen – meine Arbeitshypothesen, ebenso wie die Menschen ihre eigenen Erklärungsmuster haben, aber treffen diese tatsächlich in dieser Biographie zu? Sind sie wichtig an diesem Punkt eines Prozesses? Manchmal ist das bewusste Wissen der Menschen über sich erstaunlich stimmig und manchmal schmerzhaft unstimmig. Manchmal ist das, was sich ausdrückt, klar und schlüssig und manchmal verwirrend und verschlüsselt. Aber immer ist es der reine Ausdruck der Menschen.

Grundsätzlich kann ich sagen, dass ich bei Beginn der Aufstellung immer eine Art Konzept im Kopf habe, seien es Farben, Texturen und Muster, die Anordnung, die Reihenfolge, wann das eine oder andere Kissen dran kommt. Das nenne ich mal die Komposition. Sie wurde zunehmend komplexer, differenzierter und einfallsreicher. Damit legte ich ja auch immer mehr und eindeutigere Spuren, die in erschütternder Weise ihr stimmiges Pendant in den später aufgedeckten Paarungen von Stichworten und Kommentaren fanden und finden. So besiegte schließlich die Evidenz der Aufstellungen meine partielle Ungläubigkeit.

Nun beschäftigt mich die Frage, warum ich dann immer noch eine so große emotionale Distanz (mit minimalen Ausnahmen) zu den Aufstellungen habe, obwohl ich sie als Manifestationen meines Unbewussten anerkenne – … . Ich glaube, dass unter der offensichtlichen Schicht von Überzeugung und Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Kissenaufstellungen noch eine andere Schicht liegt, die des gleichzeitigen Wissens und Nichtwissens. Ich sage dazu bewusst nicht Ambivalenz oder Dissoziation. Ich glaube, es ist ein subtiles Gleichgewicht aus zwei grundsätzlich unvereinbaren Gegensätzen, ein hochwichtiges funktionales Konstrukt. Ich glaube sogar, dass ich diesem Gefüge mein seelisches und wahrscheinlich auch körperliches Überleben verdanke. Denn je mehr ich mich auf meine Gedanken einlasse, desto mehr finde ich dieses Gleichgewicht auf allen relevanten Problembereichen meines Lebens. Wenn auch nur annähernd wahr ist, was wir in dem ganzen Therapieprozess über mein Leben herausgefunden haben, dann muss dieses Gleichgewichtskonstrukt unbegrenzt haltbar und widerstandsfähig sein… es musste dem Mörder, Vergewaltiger, der feigen Verräterin und wie ich seit neuestem ahne, Mephisto selbst die Stirn bieten. Wenn es überhaupt gelingen kann, dieses System aufzulösen, was ich sehr hoffe, dann wird es noch viel viel Mühen und viele Schmerzen kosten… Wenn es überhaupt gelingen kann, dann mit dir und dafür danke ich dir, Christina.“

Darin liegt meine Aufgabe, einen Raum zu öffnen, indem das bewusste Nichtwissen zu Wissen werden kann und immer länger im Bewusstsein bleiben kann. Wenn das gelingt, dann nähern sich unbewusste und bewusste Wissensebenen an und bilden ein Gleichgewicht. Wohin führt dieses Gleichgewicht? Welches Leben eröffnet sich aus dem bewussten Wissen?

Ich weiß es nicht.

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ICH und die Menschlichkeit

In einer Einzelstunde erzählte mir Paula einen Traum, der mich seitdem sehr beschäftigt:

„Im Traum war ich auf irgendeinem Kongress, an dem Menschen und Playmobil-Figuren teilnahmen. Ich schaute alle an und wusste komischerweise sofort, wer traumatisiert ist und wer nicht: Die Playmobil-Figuren waren alle traumatisiert und die Menschen nicht. Es war mir irgendwie ganz wichtig, das zu wissen und ganz genau zu unterscheiden.  Und ich wunderte mich sehr, warum denn keiner der Menschen den armen Playmobil-Figuren hilft. Wundern ist eigentlich zu schwach. Ich war richtig empört. Niemand kümmerte sich um sie, niemand tröstete sie, niemand umarmte sie. Die Playmobil-Figuren standen ganz allein und verlassen rum.“

 

 

Warum beschäftigt mich dieser Traum über den Einzeltermin hinaus?

Zum einen wegen des für mich überaschenden und sehr interessanten Traum-Bildes für Traumatisierungen: Playmobil-Figuren können sich nicht selbst bewegen, sind starr, liegen oder stehen da rum, wo sie zurückgelassen werden. Sie werden sozusagen von außen gelebt – auf sie werden die unterschiedlichsten Geschichten und Erlebnisse projiziert. Sie sind zum Objekt gemacht, sind buchstäblich „entmenschlicht“ – eben Spiel-Figuren aus Plastik, und als solche werden sie benützt.

Zum anderen wegen der Rolle, welche den umstehenden Menschen in diesem Traum zukommt: Sie kümmern sich nicht wirklich um die traumatisierten Playmobil-Figuren, beachten sie nur von weiten. Sie reden nicht mit ihnen, sondern sprechen über sie. Ich fragte Paula, warum denn niemand den Playmobil-Figuren half:

„Die Menschen da im Traum waren alle mit sich beschäftigt, bemerkten aber schon, dass es den Figuren schlecht ging. Sie überlegten sich sogar, welche Konsequenzen es für sie haben könnte, wenn sie ihnen helfen würden; ob sie einen Fehler machen könnten, ob sie dann deswegen belangt werden könnten, ob sie gar als übergriffig bezeichnet werden könnten, wenn sie sie zum Beispiel in den Arm nehmen würden.“

Dann blieben die Playmobil-Figuren in ihrem Leid und in ihrem Schmerzen ja völlig allein.

„Ja, sie wurden völlig allein gelassen, im Stich gelassen. Verlassen und allein.“ Verlassen. Allein gelassen. Allein. So wie Paula als sehr kleines Kind.

Ich erlebe immer wieder die Lebensgeschichte von Menschen, die in eines meiner Seminare oder zu einem Einzeltermin kommen. Es sind zutiefst traurige, erschreckende und schmerzhafte Erfahrungen, die sie zu mir kommen lassen. Manchmal sind diese Erfahrungen derart geschützt (tief in Spaltungen versteckt), dass es ihre eigene Zeit braucht, bis sich zutiefst verletzte Menschen in ihrer größten Not zeigen können. Doch über kurz oder lang zeigen sie sich, auf ihre eigene Art und Weise. Gerade in meinen Einzelterminen habe ich die Zeit und Ruhe, diese Not meines Gegenüber wahrzunehmen – zu sehen und zu hören, zu fühlen und zu spüren. Und nachzufragen. Und an diesem Punkt tauchen unter anderem in mir immer wieder Fragen nach der Rolle der Menschen auf – der  ‚innocent bystanders‘, wie sie das Englische so treffend bezeichnet :

„Was ist dann passiert? Wie ist Dein Umfeld mit Dir danach umgegangen?“

Die Antworten, die ich auf Fragen dieser Art bekomme, sind für mich in gewisser Weise noch schlimmer als die fürchterlichen Erlebnisse der Menschen. So meinte Paula irritiert und mit fast empörten Kopfschütteln:

„Ja, nichts ist passiert. Was soll schon passiert sein? Irgendwann bin ich wieder aufgestanden und hab‘ mich irgendwie eingesammelt. Ich bin nächsten Tag auch wieder in die Schule gegangen.“

„Hm. Angesichts dessen, was Du mir vorhin unter Tränen erzählt hast und was Du auch gemalt hast, warst Du ja seelisch und körperlich sichtlich verletzt. Du hast geblutet und du hast geweint und geschrien. Auf Deiner Kleidung war Blut, vielleicht war sie sogar zerrissen. Du warst sicher sehr verstört angesichts dessen, was da ein Erwachsener Dir angetan hat. Das war zu sehen und zu hören. Das konnte Deine Familie, die Nachbarn,  das konnte auch Deine Lehrerin mitbekommen.“

„Nein, nein. Die wussten nichts davon. Das habe ich alleine geregelt. Das habe ich versteckt. Das habe ich ganz alleine mit mir ausgemacht. Das mache ich bis heute alles mit mir alleine aus.“

Hm. Kann das sein? Ich zweifelte. Nicht daran, dass Paula ihre Not und Verletzungen zu verstecken versuchte, sondern daran, dass nichts zu sehen, zu hören und zu bemerken war.

„Jetzt fällt mir ein Satz ein: ‚Was Dich nicht umbringt, macht Dich noch härter!‘. Den Satz habe ich immer wieder in meiner Familie und auch so in meinem Leben öfters gehört.“ Paula begann leise zu weinen. Nach Minuten der Stille meinte sie zu mir: „Christina, ich war völlig allein gelassen und verlassen. Es scherte sich niemand um mich.“

„Ja, so war das. Ein erwachsener Mann verprügelte Dich derart, dass Dein Körper sehr, sehr verletzt wurde. Deine Nase hat geblutet und Dein Trommefell ist zerplatzt. Und nach dieser schrecklichen Tat ist niemand zu Dir gekommen, hat niemand nach Dir geschaut, hat niemand Deinen Körper versorgt, hat niemand Dich getröstet, hat niemand Dir erklärt, was überhaupt passiert ist, und hat niemand gesagt hat, das das, was Dir passiert ist, schlimmes Unrecht ist. Ja, Paula, Du warst tatsächlich allein und verlassen. So war das und so blieb es lange Jahre Deines Lebens.“

In diesem Erleben nach einem schrecklichen Trauma liegt meines Erachtens der Schlüssel, ob aus einer Traumaerfahrung ein lebenslängliches Leiden an den Folgen wird. Das, was mir widerfahren ist, ist mir widerfahren. Das ist nicht mehr zu ändern, nicht ungeschehen zu machen. Auch nicht unmittelbar danach. Das ist das eine, aber das vielleicht noch entscheidendere scheint zu sein, wie darauf fremde und nahe Menschen reagieren, wie sie mir danach begegnen:

Werde ich gesehen in meinem Leid und in meiner Not? Werde ich bestätigt und anerkannt in meinen Schmerzen? Darf ich ich mich so zeigen, wie mir zumute ist? Darf ich weinen, schreien, zittern, schweigen, mich erbrechen, stottern, mich verstecken, mich verkriechen und zurückziehen, …? Bin ich auch in meinem Leid gewollt und geliebt? Werde ich dann geschützt, dass so etwas Schreckliches nie wieder passiert?

Oder bleibe ich zurückgelassen, allein und verlassen?

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Darin sehe ich die Bedeutung von Beratung, Begleitung und Therapie:

Bietet sie mir die Möglichkeit – oft Jahrzehnte nach dem Schrecken – endlich einem Menschen zu begegnen, der menschlich zu mir ist? Für mich heißt menschlich sein zunächst: über Entsetzliches entsetzt sein, über Trauriges traurig sein, über Empörendes empört sein, über Unsagbares sprachlos zu sein, über Frohes froh sein, über Hoffnungsvolles hoffnungsvoll zu sein, über Lustiges zu lachen …

Und darüber hinaus ist noch etwas wichtig, einem Menschen zu begegnen, der aus der Distanz des Schreckens klar bleibt. Klar meint in diesem Sinne: Für mich Worte zu finden, für das, was ich bisher nicht aussprechen kann, mir diese Worte anzubieten, solange bis ich in meiner Sprache für mich sprechen kann. Klar meint weiterhin auch, das, was mir passiert ist zu bewerten, als schlimm, als unrecht, als verbrecherisch, als …

Letztendlich: Kann ich mich – so weit mir möglich ist – mit meiner Geschichte erfassen, mit allem was mir widerfahren ist? Kann ich mich (noch einmal) mit meinem Allein sein und Verlassen sein einem Menschen zeigen?

Das ist meine Idee von wirklicher, professioneller Hilfe – ein menschliches Beistehen, weniger ein Tun für etwas oder gegen etwas, sondern ein liebevolles und klares Mittragen der bisher unaushaltbaren und nicht gesehenen schrecklichen Lebenserfahrungen.

 

 

 

 

 

ICH und ein Schrecken in der Liebe

Kürzlich fragten der Professor und ich in einem Prüfungsgespräch nach den Gefühlen von Menschen während einer Traumasituation. Neben den „üblichen Verdächtigen“ wie Todesangst, Scham, Verlassenheit, Ohnmacht, Schmerz fügte eine Studentin Liebe hinzu. Ich war überrascht. Wieso Liebe? Nein, verbesserte sie sich sofort, sie meine eigentlich die fehlende Liebe, also wenn die Liebe fehlt, wenn zu wenig Liebe für ein Kind da ist. Nein, nein, meinte ich, das könne schon stimmen mit der Liebe, wenn… Ich hätte diesen Gedanken gerne weiterverfolgt, aber da kam schon die nächste Frage – wir befanden uns ja in einer Prüfung.

Kann Liebe ein Traumagefühl sein? Kann sie die gleiche psychische Sprengkraft haben wie Todesangst oder Scham?

Ich mache durch einen geliebten Menschen eine Erfahrung, die mich traumatisiert. Soweit war mir das bis dato klar.

Aber kann mich Liebe zu einem Menschen derart überfordern und überwältigen, dass ich existentiell bedroht bin? Dass ich meine Integrität aufgeben muss, um zu überleben?

Darüber dachte ich nicht nach. Bis vor ein paar Wochen war ich nur mit dem beschäftigt, was geliebte Menschen, getan oder nicht getan haben.

Bis mich die Begleitung dreier unterschiedlicher Menschen genau dahin führten.

„Ich liebe die Mörder.“ Das ist der Satz, der mir in der Arbeit mit Daniela, einer 61-jährigen Internistin, immer wieder begegnete. Daniela berichtete mir bereits in einer der ersten Einzelstunden, dass sie tief bewegt sei von dem Kinofilm „Dead Man Walking“ mit Susan Sarandon und Sean Penn. (Eine Ordensfrau besucht im Todestrakt einen Häftling, der wegen Mordes an einem jugendlichen Paar zum Tode verurteilt auf die Hinrichtung wartet. Sie begleitet ihn bis zu seiner Hinrichtung.) Auf meine Frage, was sie am Film so nachhaltig bewegte, meinte sie:

„Ich fühle mit dem Mörder mit, mehr als mit den Opfern. Ich liebe die Mörder! Ich weiß gar nicht, was der überhaupt getan hat. Das kommt doch gar nicht vor im Film vor, oder?“ Ich war überascht, sah ich doch die Rückblenden auf die Tatnacht deutlich vor mir.: „Doch, schon. Sehr deutlich sogar.“   „Aha, das muss ich wohl ganz ausgeblendet haben. Für mich ging es nur um die Beziehung, um die Liebe der Nonne zu dem Mörder.“

Im Laufe des mehrjährigen intensiven Prozesses setzte sich Daniela intensiv mit ihrer Traumabiographie auseinander: mit der emotionalen und körperlichen Gewalt ihrer Eltern und der sexuellen Gewalt durch ihren Vater und dem Wegschauen und Nicht Schützen durch die Mutter, mit den erschreckenden und qualvollen Reinszenierungen dieser Gewalt in ihrer Ehe und in ihren verschiedenen Psychotherapien. Dazwischen tauchte immer wieder die Frage nach einer eigenen Täterschaft auf: „Was habe ich an meine drei Kinder weitergegeben? Bin ich auch Täterin geworden?“

Einzelstunde für Einzelstunde, Aufstellung für Aufstellung entstand über Jahre hinweg ein klares Bild – einer Kindheit in Angst und Schrecken vor den unberechenbaren sadistischen Eltern, in unvorstellbaren Schmerzen durch die körperlichen Quälereien der Eltern, voller vernichtender Scham, ein „böses Kind mit einem schwarzen Herzen“ geheißen, behaftet mit unauflösbarer Schuld. Es zeigte sich, wie Daniela diese Kindheit bis heute überlebte, und wie eben diese Erfahrung trotz aller Therapien und Bemühungen ihr Leben bis heute nachhaltig beeinflussen. Es zeigte sich aber auch, wie sie sich selbst Schritt für Schritt ihr Leben erschafft.

Und doch: Trotz alledem blieb dieser Satz „Ich liebe die Mörder!“ weiterhin präsent, und tauchte wieder und wieder auf. Daniela war unzufrieden, ich auch. Wir waren beide unzufrieden trotz aller Klarheit.

Und so sagte ich zu Daniela: „Mir scheint, Dein Satz ist endlich beim Wort zu nehmen: Du liebst einen Mörder! Du liebst die Mörder! Wer ist der Mörder, den Du liebst? Genauer gesagt, wer sind die Mörder, die Du liebst?“ Daniela antwortet mit erschrockenem Gesichtsausdruck: „Mein Vater ist der Mörder.“

„Aha, Dein Vater ist der Mörder, den Du liebst.“

Daniela erschrickt noch mehr: „Ja, mein Vater ist der Mörder. Nein, ich liebe ihn ganz gewiss nicht. Nein, definitiv nicht.“ „Hm. Aber Dein Satz sagt etwas anderes: ‚Ich liebe die Mörder!‘ “

Daniela setzte sich danach noch einmal und zum wiederholten Male intensiv mit ihrem Vater auseinander, recherchierte in Familienakten und überprüfte für sich die tradierte Familiengeschichte auf ihre Evidenz und fand dabei Unstimmigkeiten und Widersprüche. Zusammen mit ihren detaillierten Aufzeichnungen über 40 Jahre ihres Lebens und ihrer Therapie ergab sich für Daniela eine neue bis dahin ungeahnte Traumaebene:

Ihr Vater ist tatsächlich ein Mörder, und zwar nicht, wie zunächst angenommen, im Zweiten Weltkrieg, sondern nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangen-schaft:

Laut Familiengeschichte wurde seine Familie – seine 2- und 4-jährigen Söhne, seine Ehefrau und seine Schwiegermutter – von russischen Sodaten „geschändet“. Aufgrund dieser Schande hätten sie einen fremden Mann gebeten, sie alle gemeinsam zu erschießen, um sie von dieser „Schande“ zu erlösen. Für Daniela hat es nun allerdings den Anschein, dass ihr kriegstraumatisierter Vater aus Schmerz und Verzweiflung, aus Wut, aus … , seine psychisch und körperlich zerstörte Familie zunächst erschoss, um sich selbst danach zu richten, was er aber nicht schaffte.

Zwei Monate nach deren Beerdigung lernte er Danielas Mutter kennen. Sie verliebten sich und heiraten. Kurze Zeit später kommt Daniela zu Welt. Danielas Mutter liebt ihren Mann über alles. Im Tagebuch schreibt sie noch einige Jahre nach der Geburt, wenn sie sich zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter entscheiden müsste, würde sie sich für ihren Mann entscheiden.

Ihre Mutter liebt einen Mörder „abgöttisch“, wie es Daniela immer wieder ausdrückt, ist mit ihm verheiratet. Es gibt einige Hinweise, die darauf hindeuten, dass Danielas Mutter durchaus wusste, aber nichts machte, weil sie ihn offenbar liebte. Daniela ist das Kind eines verzweifelten Mörders und einer diesen über alles – auch über seine Taten und auch über ihre Tochter – liebenden Frau. Auch Daniela liebt: Es ist die offene und bedingungslose Liebe eines Kindes an seine Eltern.

Was bedeutet es, einen Vater zu lieben, der andere Menschen umgebracht hat? Was bedeutet es einen Mutter zu lieben, dessen Liebe zu einem Mörder derart unerschütterlich ist, dass sie ihr eigene Wertvorstellungen, ihre eigene Menschlichkei dafür opfert?

Tobias, ein 51 jähriger Schreiner, ist der Sohn eines Erziehers in einem Heim für Schwererziehbare Kinder und Jugendliche in der DDR. Während eines (sexuellen?) Gewaltexzesses tötete dieser ein Kind, was von den Behörden vertuscht wurde. In seiner Aufstellung  „Mein Vater ist ein Mörder.“ drückt ein Stellvertreter genau dies aus: „Warum hat er denn nicht mir so was angetan? Warum hat er mich am Leben gelassen und das Kind nicht? Ich bin in einer so großen Not, das kannst du Dir gar nicht vorstellen. Ich bin so allein damit. Mein Vater -, mein Vater hat so etwas getan! Ich liebe ihn ja und ich bin so gerne mit ihm zusammen. Es ist ja mein Vater, der das getan hat. Bin ich auch so wie er? Es ist furchtbar. Ich wünsche mir wirklich er hätte mir noch viel schlimmere Sachen angetan, alle schlimmen Sachen der Welt hätte er mir antun sollen. Ich wünschte, er hätte mich getötet. Ich weiß nicht, wie ich damit leben kann. Mein Vater ist ein Mörder. Mein Vater! Ich kann kein Sohn eines Mörders sein!“ Daraufhin beginnt Tobias bitterlich zu weinen. „Genauso fühl ich mich. Das ist noch schlimmer für mich, als seine Schläge…“

Mir scheint, das ist der Schrecken in der Liebe. Ein Schrecken, den ich bis dahin noch nicht wirklich erfasste. Ein Schrecken in der Liebe, noch vor den emotionalen, körperlichen und sexuellen Traumatisierungen, die immer wieder darauf folgen. Auch bei Sonja lag der Fokus ihrer bisherigen Aufstellungen und Einzelstunden auf dem, was ihr von wem konkret angetan wurde:

Nachdem Sonja jahrelang unterschiedlichste Aufstellungen für sich machte, sogar eine Fortbildung dazu absolvierte, dabei alle möglichen Traumatisierungen ihrer selbst, ihrer Eltern und Großeltern aufdeckte und bearbeitete, rief sie mich an und meinte sie würde jetzt genug haben von der Vergangenheit und sich ab jetzt wirklich Sinnvollem zuwenden. Auf meine Nachfrage hin meinte sie, sie würde mit all ihrem Traumawissen sich in einem Flüchtlingshelferkreis engagieren. Ich war überrascht, damit hatte ich nicht gerechnet: „Wie kommst du denn darauf?“ „Ich hatte plötzlich die Idee, dass es meine Aufgabe, meine Bestimmung im Leben ist, Täter, also die, die schlimme Sachen gemacht haben, zu lieben, denn dann werden sie zu besseren Menschen. Mir kam so, dass ich da etwas Gutes für die Menschen bewirken kann.“ Aha, dachte ich mir, von ihrer Begründung noch mehr überrascht. Demnach ist in den ganzen Aufstellungen in meinen und anderweitigen Seminaren mit den verschiedenen Tätern, Opfern und Taten das Wesentliche noch nicht oder nicht gänzlich verstanden und angekommen.

Einige Monate später geriet Sonja mit ihrer Bestimmung, Täter zu lieben und mit ihrer Liebe zu heilen, in massive emotionale Verstrickungen mit einem Flüchtling: Er wurde nach seiner Selbstanzeige mit großem Polizeiaufgebot festgenommen und kam in Untersuchungshaft wegen Verbrechen, die er in seinem Heimatland begangen hatte. Diese Vorgänge verminderten ihre Liebe nicht, im Gegenteil, sie verstärkte sich noch. Sie begann für ihn in der Öffentlichkeit einzustehen, organisierte und finanzierte ihm einen sehr guten Anwalt, und besuchte ihn immer wieder in der U-Haft. Sie kämpfte für ihn und begann sich über sich zu wundern.

Sonja sieht sich gezwungen – ähnlich wie Daniela – sich erneut mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen: „Wer ist Täter in meiner Familie?“ „Um welchen Täter geht es da wirklich?“ „Wen will ich da mit meiner Liebe vor seinem Täter sein bewahren?“

Kürzlich erfuhr sie, dass in einigen Monaten der Prozess stattfinden soll und dass sie als Zeugin aussagen soll. Trotz all ihrer Bemühungen, ihrer Anstrengungen, ihrer Liebe zu ihm – er ist ein Täter, der sich einem Gericht zu verantworten hat.

„Ja, auch wenn es furchtbar wird. Ich werde da hin fahren und mir die 12 Verhandlungstage antun. Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, was er gemacht hat. Ich will sein Täter sein nicht mehr ausblenden, seine Schuld nicht mehr weg-lieben. “

Doch, die Liebe kann durchaus ein Traumagefühl sein – dann wenn wir erkennen, dass wir einen Menschen lieben, der schreckliche Taten begangen hat. Dann ist ein Schrecken in der Liebe, der nur auszuhalten ist, wenn wir das Täter sein des geliebten Menschen abspalten, und ihn noch mehr lieben…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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ICH – von „Die muss weg!“ bis „Ich will weg!“

In diesem Beitrag schreibe ich über die 13 jährige Tina und über Maria, in deren Familie Tina seit zehn Jahren als Pflegekind lebt. Ich schreibe deswegen über sie, weil mich ihrer beider Geschichte seitdem ich als Traumaberaterin arbeite immer wieder und zuletzt vermehrt beschäftigt – mehr noch: Ich bin traurig und wütend, und zugleich sehr beeindruckt und hoffnungsvoll.

Maria kam 2010 in eines meiner ersten Aufstellungsseminare mit dem Anliegen: „Was ist nur mit Tina los?“ Das sechsjährige Mädchen ist verbal extrem ausfällig und körperlich sehr aggressiv gegenüber Maria, ihrem Lebensgefährten Martin und auch gegenüber Eva, der leiblichen Tochter Marias: Je mehr Maria ihr eine liebevolle Familie ermöglichen will, desto mehr reagiert Tina mit Hass, Zerstörung und Gewalt. Und desto mehr fordert Marias Familie, Tina müsse weg, sie sei unertragbar, sie zerstöre die Familie. Maria ist sehr verzweifelt, sie will Tina nicht weggeben und doch weiß sie sich nicht zu helfen.

Der folgende Aufstellungsprozess zeigte deutlich eine völlige Überforderung Marias mit der sichtlich schwer traumatisierten Tina und eine – für mich – erschreckend radikale und grundsätzliche Ablehnung und Abwertung durch das gesamte familiäre Umfeld.

Im Laufe dieser und weiterer Aufstellungen und Beratungsgespräche offenbarte sich zusehends: Tina inszeniert immer und immer wieder das Traumageschehen ihrer ersten drei Lebensjahre. Maria hingegen ist nahezu grenzenlos bemüht, Tina als Pflegekind weiterhin behalten zu können. Sie will einen erneuten Bindungsabbruch unbedingt vermeiden.

Aber was musste Tina tatsächlich in ihrer Herkunftsfamilie erleiden? Maria weiß nahezu nichts über die Gründe für die Inobhutnahme. Aus Datenschutzgründen gewährt ihr das Jugendamt keine Akteneinsicht.

Ich war – und bin es immer noch – entsetzt und empört. Denn: Ohne Wissen über den Traumahintergrund und dessen nachhaltigen Konsequenzen auf das gegenwärtige Leben ist eine heilsame Begleitung Tinas unmöglich (schon gar nicht in einer fremden Familie). Im Gegenteil: Es kommt immer wieder zu unheilvollen Reinszenierungen von Gewalt und Beziehungsabbrüchen. Meines Erachtens ist dieses Vorgehen der Jugendamtsmitarbeiter grob fahrlässig und gefährdend für alle Beteiligten und bedeutet nicht zuletzt für Tina eine erneut drohende Kindeswohlgefährung.

Maria ist sichtlich betroffen über meine direkte Aussage. Damit konfrontierte sie die Jugendamtsmitarbeiterin, die ihr inoffizell Akteneinsicht gewährt:

Tina wurde 2004 mit sechs Monaten wegen akuter Kindeswohlgefährung aus der Familie genommen: Ihre Mutter ist an Schizophrenie erkrankt. Ihr Vater ist drogenabhängig. Beide kümmerten sich nicht oder nur unzureichend um den Säugling. Die Versorgung übernahm weitestgehend ihre sechsjährige Schwester Doris. Wie das möglich war, ist mir unvorstellbar, aber Tina überlebte.

Tina kam in eine Bereitschaftspflege, die Mutter in die Psychiatrie und der Vater in das Gefängnis. Nach einem Jahr schien es der Mutter besser zu gehen: Sie ist medikamentös sehr gut eingestellt und lebt mit ihrem neuen Partner zusammen in einer gemeinsamen Wohnung. Das Jugendamt entschied sich zu einer Rückführung: Tina wurde aus der Pflegefamilie genommen und wieder ihrer Mutter übergeben. Doch kurze Zeit später eskalierte die Situation erneut: Der Lebensgefährte der Mutter erweist sich als alkoholabhängig und sehr gewalttätig. Tina musste immer wieder miterleben, wie ihre Mutter massiv bedroht und körperlich verletzt wurde. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass auch Tina selbst körperliche Gewalt erfahren hat. Die Mutter konnte weder sich noch ihrer kleine Tochter schützen. Als die Mutter wieder einen psychotischen Schub erlitt und in die Psychiatrie eingeliefert wurde, wurde Tina erneut vom Jugendamt in Obhut genommen. Die dreijährige Tina kam zunächst in eine Einrichtung der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Dort allerdings störte Tina mit ihren massiven Aggressionsausbrüchen das Gruppengeschehen derart, dass der Träger froh war, in Maria eine Pflegemutter für Tina gefunden zu haben.

Mit diesen wichtigen Informationen gelang es Maria zusehends zu verstehen, warum sich Tina insbesondere ihr gegenüber, aber auch anderen Menschen gegenüber derart aggressiv verhielt. Zusätzlich begann Maria mithilfe von Aufstellungen und Gesprächen ihre eigene Traumalandschaft zu entdecken – eine Welt voller Kälte, Ablehnung und Gewalt.

„Ja, mir muss es wohl ähnlich ergangen sein, vielleicht nicht ganz so krass wie bei Tina. Vielleicht gebe ich sie deswegen nicht zurück, auch wenn alle das von mir erwarten oder fordern!“

Je bewusster sich Maria ihrer Traumageschichte war, desto entspannter wurde der Umgang zwischen beiden. Tina gelang es immer mehr, die Not von Tina in der Tiefe wahrzunehmen und dennoch immer standhafter Grenzen zu ziehen und sich in Momenten der Gewaltausbrüche zu schützen.

Zu diesem Zeitpunkt lernte ich Tina kennen: Maria nahm sie einmal mit in eine Einzelstunde. Sie sollte mich nur einmal sehen und etwas kennen lernen. Doch Tina wollte überaschend eine Kissenaufstellung machen.

Sie fragte mich: „Kann ich da herausfinden, was mir, als ich noch bei meiner richtigen Mama gewohnt habe, passiert ist?“ Ich antwortete ihr: „Das ist durchaus möglich, wenn Deine Psyche einverstanden ist. Wenn sie Dich nicht mehr vor den schlimmen Erinnerungen schützen muss.“ Tina nickte sehr ernst: „Das ist sie. Ich muss das wissen. Ich träume doch sowieso immer von den schlimmen Sachen. Außerdem weiß ich dann endlich, warum ich so bin wie ich bin.“

Ich habe mit Tina verdeckt gearbeitet – sie wusste also nicht auf welchem Kissen, sie jeweils selbst stand – und es zeigte sich in voller Klarheit eine Klima voller Gewalt und entsprechender ständiger Todesangst. Tina hatte fürchterliche Angst vor dem Lebensgefährten, dass er die Mama umbringt, dass er auch ihr selbst etwas Schlimmes antut. Tina hatte aber auch fürchterliche Angst vor ihrer Mutter, dass auch sie ihr etwas Schlimmes antun könnte.

„Dann stimmt es also, was ich immer schon wusste. Nicht nur er, auch die Mama hat mir was angetan. Das ist hart für mich. Ganz hart.“

Ich nickte: „Ja, das ist hart, sehr hart für Dich. Aber so ist es gewesen. Und deswegen kannst Du bis heute nicht bei Deiner Mama wohnen, sondern musst bei der Maria leben. Und deswegen rastest Du manchmal aus, wenn Dich etwas an diese schlimme Zeit der Angst und Gewalt erinnert. Oder wenn Du so gerne bei Deiner wirklichen Mama sein würdest und es geht nicht.“

In einem nachfolgenden Gespräch wollte Tina wissen, wie sie es verhindern kann, dass sie so aggressiv zu anderen Menschen ist, vor allem auch in der Schule. Sie musste schon mehrmals die Schule wechseln, weil Lehrer und Mitschüler und deren Eltern der Meinung waren, Tina sei untragbar.

„Ich muss das wissen, weil ich dann nicht immer weg muss, von der Schule oder auch weg von der Maria.“

Erstaunt fragte ich nach: „Ich weiß, dass Du in der Schule immer wieder große Probleme hast mit Lehrern und Mitschülern. Aber weg von der Maria? Das ist mir neu.“

„Naja, wenn ich immer so schlimm bin zu ihr, dann kann sie es mit mir nicht mehr aushalten und dann gibt sie mich zurück. Und es sagt auch manchmal der Martin, ihr Lebensgefährte, oder die Eva, ihre echte Tochter, dass ich weg muss!“

Maria begann zu weinen, und meinte: „Das stimmt wirklich. Es sagen alle, es wäre besser Tina zurückzugeben. Und, wenn ich ehrlich bin, wenn es gerade wieder ganz schlimm ist, dann denke ich das im ersten Moment auch. Aber eigentlich will ich das gar nicht.“

dreigliedriges Gehirn

 

Ich begann Tina das dreigliedrige Gehirn zu erklären, wie das emotionale Katzengehirn Alarm schlägt und dann sofort das Krokodil zuschnappt und sich verteidigt, ohne dass der intelligente Professor überhaupt eine Chance hat zu überprüfen, ob das sinnvoll ist oder nicht. Wenn sie also derart aggressiv ausrastet, ist ihr „Professor“ ausgeknockt, und das Krokodil beißt wild um sich, weil es sich in größter Gefahr wähnt. Es glaubt, dass es wieder so ist wie damals bei Mama.

 

„Also, muss ich schauen, dass mein Professor der Chef bleibt und das Krokodil unter Kontrolle hat, wenn meine Katze Angst bekommt.“

Im folgenden entwickelte Tina für sich einige Ideen, wie sie frühzeitig bemerkt, wann sie getriggert wird, wann ihre lebensbedrohliche Angst wieder aufsteigt in ihr, und was sie tun kann, damit sie nicht ausrastet.

„Das werde ich meiner Lehrerin erklären, wie das mit meinem Professor und meinem Krokodil ist.“

Tina erklärte unmittelbar nach unserem Gespräch ihrer Lehrerin in einem Brief das dreigliedrige Gehirn; weiter, dass die großen Pausen für sie derart ängstigend sind, dass sie deswegen irgendwann immer ausrastet und andere Kinder beleidigt und schlägt. Und dass sie deswegen in der Pause, wenn es wieder einmal zu überfordernd für sie ist, gerne Klavierspielen will, damit sie sich selber steuern und kontrollieren kann.

Ich war sehr beeindruckt über Tinas Klarheit und über ihren Mut sich selbst derart auszudrücken – und ich war sehr entsetzt über die Reaktion der Lehrerin. Diese meinte zu Maria: „Nein, das geht nicht. Das kann ich nicht zulassen. Da kann ja dann jeder machen was er will. Tina muss lernen, sich einzuordnen, wenn sie das nicht kann, ist sie hier fehl am Platz.“ Gegenüber Tina reagierte die Lehrerin nicht. Selbst als Maria die Schule über den Traumahintergrund von Tina informierte, änderte das nichts daran. Entweder Tina verhält sich normal oder sie muss weg.

Seit diesem Jahr fand Maria endlich eine Schule, in der sich Tina tatsächlich willkommen fühlt. Trotz ihrer zuweilen auftretenden Reinszenierungen ihrer Traumaerfahrungen bleibt sie willkommen, wird sie gemocht. Trotzdem es weiterhin immer wieder eine Herausforderung für alle Beteiligten ist, kam es an der Schule nicht mehr zum „Tina muss weg.“ Es ist ihr tatsächlich gelungen, ihr Krokodil einigermaßen zu zähmen. Auf meine Frage, wie sie das geschafft habe, meinte sie schulterzuckend: „Keine Ahnung. Es bringt mir ja nichts. Ich will hier unbedingt bleiben.“ Warum? „Weil ich irgendwie das Gefühl hab, die Frau Maier und die Frau Weber mögen mich. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier das blöde Pflegekind mit der verrückten Mama bin.“ Das war für mich ein wunderschöner Moment: Tina ist über ihre Traumaerfahrungen hinaus gewachsen. Und sie konnte das, weil ihr die Lehrer in einer grundlegend wertschätzenden und liebevollen Haltung entgegengetreten sind. Tina erlebt hier an dieser Schule mitfühlende Menschen.

Meine Freude und Erleichterung währte nicht lange: Während sich die Schulsituation relativ entspannte, eskalierte die Situation in der Pflegefamilie. Eva, die drei Jahre ältere Tochter Marias, wurde zunehmend zum Sprachrohr der Ablehnung und Abwertung Tinas in Marias engerer und weiterer Familie. „Tina muss weg. Entweder sie geht oder Ich!“ Dies endete in einer extrem gewaltätigen Auseinandersetzung zwischen beiden, bei der Eva Tina beinahe umgebracht hätte, und Tina sich extrem zur Wehr setzte.

Kurze Zeit später meinte Tina in einer Einzelstunde zu mir, sie sei extrem erschrocken, über das, was Eva ihr antat, aber auch darüber, wie sie selbst reagiert hat. Ich fragte Tina, wie sie ihre Beziehungen in der Pflegefamilie empfindet. Daraufhin nahm Tina für jedes wichtige Familienmitglied ein Kissen und beschrieb, wie es ihr mit demjenigen oder derjenigen erging und was sie ihnen gerne sagen möchte.

Es zeigte sich eine katastrophale Bilanz: Bis auf Maria schienen alle Familienmitglieder von Anfang an Tina abzulehnen und für alles Negative in der Familie verantwortlich zu machen. „Das würde ich gerne jedem einzelnen direkt sagen. Ich würde ihnen alle gerne sagen, wie es mir mit ihnen geht, wie ich mich in dieser Familie fühle.“

Einige Tage später berief Maria ihre Familie tatsächlich ein. Sie wollte sich bezüglich dem, was alles passiert ist, positionieren: Sie wollte feststellen, dass es kein „Tina muss weg!“ für sie gibt. Dass alle familiären Probleme, weniger mit Tina an sich zu tun haben, denn mit dem, was jeder in dieser Familie erlebte. Die Familienmitglieder reagierten unwirsch und ablehnend. Dann ergriff Tina von sich aus das Wort und sprach all das, was sie zuvor zu meinen Kissenbezügen gesagt hatte, direkt und klar zu den einzelnen Menschen. Sie sprach über ihre Erlebnisse in der frühesten Kindheit, über ihre Zustände bis heute. Und sie sprach darüber, wie sie sich gegenüber den einzelnen Familienmitgliedern fühlte. Sie sprach davon, was es heißt, immer zu hören „Du musst weg!“

Ich war zutiefst erstaunt und perplex – ich wüsste nicht, ob ich dies könnte, schon gar nicht mit 14 Jahren.

Die Reaktionen der einzelnen Familienmitglieder entsprachen genau der vorausgegangenen Kissenarbeit:

„Immer entschuldigst Du alles mit Trauma.“, „Das ist auch keine Entschuldigung für alles. Du tust ja gerade so als ob das ein Freibrief wäre.“, „Du musst Dich schon ändern, so kannst Du hier nicht bleiben, sonst zerstört Du noch mehr unsere Familie.“, „Du musst weg!“ Du bist schuld, dass es so schwierig ist.“

Nach diesem schonungslosen und klaren Blick auf die Pflegefamilie will Tina mit dieser Familie nichts mehr zu tun haben. Sie will zu keinen Familienfeiern mehr mitkommen. Aus dem „Du musst weg!“ ist ein „Ich will weg!“ geworden.

Gestern noch fragte ich Maria, ob das möglich ist, dass Tina sich schützt vor dieser Familie. „Ja, klar. Sie braucht da nicht mehr hin. Nein. Und ich muss mir auch klar werden, inwiefern ich Kontakt haben will mit Menschen, die derart ohne Mitgefühl verurteilen.“

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Ich und meine blinde Flecken

 

Zuweilen erinnert mich das, was mir Menschen in Einzelstunden oder in Seminaren erzählen an mich. Und manchmal nehme ich das auch direkt und bewusst war. Kürzlich war es wieder soweit: Da sitzt mir Toni gegenüber, relativ frisch operiert nach einem schlimmen Radunfall mit mehreren Brüchen. Er berichtet mir von seinem Unfall. Eine schlimme Situation, allein er empfindet sie gar nicht als schlimm. Seine Augen sind so lebendig und froh, wie ich sie bei ihm noch nie wahrgenommen habe. Ich möchte fast sagen, er schaut glücklich aus, zwar verletzt, aber glücklich. Und es dauert nicht lange, da tauchen in mir Zweifel auf: Macht Toni sich was vor? Sekundärer Krankheitsgewinn? Überlebensanteile? Selbstzerstörerische Täteranteile? Retrospektive Überhöhung womöglich mit Dankbarkeit für den Unfall? Und wie es schien, ging es nicht nur mir so.

„Ich traue mich das fast nicht zu sagen: Das ist die beste Zeit meines Lebens. So gut ging es mir eigentlich noch nie. Ja, ich weiß es klingt komisch und verrückt. Aber so ist es. Leider versteht es keiner.“

Doch. Aber vielleicht nur, weil ich just so etwas Ähnliches erlebt habe.

Vor drei Jahren musste ich an der Lendenwirbelsäule operiert werden. Eine Not-Operation. Gegen Mitternacht kam ich von der Intensivstation in mein Zimmer zurück. Und da war mir plötzlich völlig klar: „Jetzt könnt‘ ich mit dem Leben beginnen.“ Was das Leben ist und was es mit ihm auf sich hat, davon hatte ich allerdings keine Ahnung. Dabei empfand ich innwendig ein derart intensives Gefühl, wie ich es bis dato nicht kannte. Ich war tatsächlich glücklich, als ob ich endlich etwas lang Gesuchtes gefunden hätte. Und es war nicht die kurzfristige Erleichterung nach einer geglückten Notoperation und auch nicht die Nachwirkungen von Narkose und Schmerzmittel. Denn es blieb beständig bei mir, bis heute.

Wie kann das sein? Wie kann Toni, wie kann ich in einem derartigen Moment echtes Glück und echte Freude empfinden?

Eine Woche Langlaufen lag vor mir. Eine perfekte Wetterprognose und sehr gute Schneebedingungen. Endlich einmal. Und dennoch schob sich ein komisches Gefühl vor meine Vorfreude. Es begann schon einen Tag zuvor: Ich war mit Andreas langlaufen. Ein wunderschöner Tag, da begann mein Bein zu schmerzen wie bei einer Zerrung, nur dass ich mich nicht gezerrt hatte. Ich konnte mir das nicht erklären. Ich wusste nur, das Bein will mir etwas Wichtiges sagen, aber ich hatte keine Ahnung, was. Überdies wurde ich anscheinend immer merkwürdiger, sodass mich Andreas schließlich fragte: „Magst Du überhaupt fahren? Du musst nicht fort.“ Etwas in mir wollte auch nicht fort, aber warum sollte ich nicht? Ich hatte keinerlei Bezug zu dem, was ich in mir spürte und was Andreas mir sagte.

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(Martin Beck, Installation, Museum Moderner Kunst Wien)

Das war im Nachhinein der Moment, wo ich den Bezug zur Gegenwart verloren habe. Nicht ganz: Ich wusste immerhin, ich sollte etwas bemerken und verstehen, aber nicht was. Langsam rutschte ich in eine andere Zeitebene, in meine Vergangenheit, in das Jahr 1978. Ich musste für eine Woche von zuhause fort, weil meine Mutter im Krankenhaus lag und mein Vater arbeitete. So wie ich damals fort musste, so fuhr ich Anfang Februar 2014 zum Langlaufen: Ein Anteil in mir wollte offenbar nicht fort. Aber warum? Ich verstand diese Christina nicht im geringsten. Dafür konnte sie sehr deutlich spüren. In den folgenden Tagen verschlimmerten sich die Schmerzen im rechten Bein, bis sie plötzlich im linken Bein auftauchten. Von da an konnte ich nur noch 5-6 Schritte gehen, dann musste ich mich setzen. Es schmerzte entsetzlich.  In mir war einzig eine Verzweiflung: „Wenn ich nun nicht mehr gehen, nicht mehr laufen kann? Dann ist es aus.“ Und da war es wieder das Gefühl: Ich sollte etwas verstehen, aber ich verstand nicht. Ich konnte nur diese unerklärliche Angst wahrnehmen, nicht mehr gehen zu können. Meine kognitiven Fähigkeiten standen mir nicht mehr zu Verfügung: So kam ich nicht auf Idee, einen Arzt aufzusuchen. (Andreas war im Schullandheim mit sehr schlechtem Handyempfang, sodass wir uns immer verpassten. So konnte auch er mich nicht in die Realität zurückholen.) Erst eine Physiotherapeutin, bei der ich einen lang schon vereinbarten Termin wahrnahm, sagte ich sollte ins Krankenhaus gehen. Und so fuhr ich nächsten Tag – mittlerweile war ich im 90° -Winkel gebückt nach München ins Krankenhaus in eine Notaufnahme. Dort wurde ich von einer Ärztin im praktischen Jahr untersucht, die mich mit den Worten nach Hause schickte: „Wenn es nach dem Wochenende nicht besser ist, kommen Sie zum MRT. Es besteht ja jetzt keine akute Lebensgefahr bei Ihnen, oder?“ Ich nickte und meinte: „Nein, wohl keine akute Lebensgefahr.“ Ich fuhr mit meinen Schmerzen nach Hause und schleppte meinen Koffer in den fünften Stock hinauf (!), denn, wenn ich nicht mehr gehen kann und ich etwas vom Koffer brauche, dann …

Nun hatte endgültig mein 36 Jahre altes Gewalttrauma (bei dem mein Becken mehrfach gebrochen wurde) mein Bewusstsein geflutet.

Ich hatte fürchterliche Schmerzen, die sich durch kein Iboprofen betäuben ließen. Ich konnte mich fast nicht bewegen. Als ich Andreas endlich erreichte und ich ihm berichtete,  wollte er sofort kommen, aber ich meinte zu ihm: „Nein. Du brauchst nicht zu kommen. Es ist ja alles gut.“ So wie ich am 1978 geschwiegen habe und ich mit gebrochenem Becken zum Auto meines Vaters ging, der mich abholte, so schwieg ich auch jetzt.

Aber wohl nicht ganz: Etwas in mir muss sich mitgeteilt haben. Denn Andreas kam einfach nach Hause und meinte, dass ich am Telefon so komisch gewesen wäre…

Von da an war alles anders, als ich es bisher erlebte: Mir wurde geholfen und ich ließ mir helfen. In der folgenden Operation eines akuten Bandscheibenvorfalls wurde tatsächlich eine drohende Querschnittslähmung verhindert. Während ich aus der Narkose aufwachte, hatte ich einen Flashback meiner erlittenen Gewalt. Ich wollte vom OP-Tisch aufspringen und weglaufen, immer wieder schreiend: „Ich habe Angst!“ Die OP-Schestern und der Chirurg konnten mich nur mir Mühe zurückhalten… Und danach konnte ich mit dem Leben, mit meinem Leben beginnen. Mein Traumamuster war erstmals durchbrochen.

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(Martin Beck, Installation, Museum Moderner Kunst Wien)

So wie es auch Toni gelungen ist, sein Traumamuster zu durchbrechen: „Es ist echt wie in einem Urlaub, auch wenn das vielleicht komisch klingt. Der Unfall war auf eine Art ein Geschenk.“ Wie sehr er damit recht hatte, zeigte seine folgende Aufstellung. „Mein Anliegen ist der Satz ICH WILL MICH. Ich will dem kleinen Toni begegnen, dem etwas Schlimmes passiert ist.“ Bis jetzt konnte sich nur Tonis Körper an die erlittene Gewalt oder aber verschiedene Stellvertreter in einigen Aufstellungen. Toni selber jedoch fand keinen Zugang dazu. Erst mit dieser Aufstellung, körperlich verletzt und sehr eingeschränkt bewegungsfähig, kam er mit dem kleinen Toni in Kontakt, der ihm erzählte, was damals passiert war – und Toni weinte über das, was ihm passiert ist. „Es ist so schlimm, was mir damals passiert ist!“

In diesem Sinne, können Unfälle und dergleichen tatsächlich Lebensgeschenke sein. Auch wenn ich es mir für mich und Toni und viele andere Menschen wünschen würde, wir könnten ohne dergleichen mit unserem Leben beginnen.