Wie jedes Jahr bin ich im April und Mai mit der Auswertung der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) bezüglich der „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ beschäftigt.
An sich ist die Welt der Zahlen, der Statistiken nicht meine Welt. Es sind die Menschen und ihr Leben, die mich interessieren. Doch hinter jeder dieser Zahlen der PKS stehen Gewalttaten, die von Menschen an Menschen begangen wurden.

2021 wurden in Deutschland insgesamt 106.656 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Anzeige gebracht und strafrechtlich verfolgt:
16.235 Fälle des sexuellen Missbrauchs an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen und 44.275 Fälle des Erwerbs, der Verbreitung, des Besitzes und der Herstellung von Kinder- und Jugendpornographie.
Es sind erschreckende Zahlen.
Seit 2014 biete ich an der KSH München für Studierende der Sozialen Arbeit ein Seminar über „sexuelle Gewalt“ an. Und seit dem befasse ich mich jedes Jahr wieder mit den Fallzahlen des zurückliegenden Jahres… währenddessen die Fallzahlen des laufenden Jahres steigen.
Seit 2014 wurden rund 135.000 Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB) angezeigt.
Es sind wahrlich erschreckende Zahlen. Und doch zeigen sie die Wirklichkeit nur verzerrt.
Die jährliche PKS bildet nur das Hellfeld der sexuellen Gewalt in Deutschland ab.
Die Realität der sexuellen Gewalt insbesondere an Kinder und Jugendliche ist eine andere. Sie findet im Dunkeln und im Verborgenen statt.

Hellfeld und Dunkelfeld der 2021 zur Anzeige gebrachten Fälle von sexuellem Missbrauchs an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen (16.235) und von Erwerb, Verbreitung, Besitzes und Herstellung von Kinder- und Jugendpornographie (44.275)
2020 lebten in Deutschland ca. 10.740.000 Kinder (unter 14 Jahren).
Die Dunkelfeldforschung geht von 1.000.000 in Deutschland betroffenen Kindern und Jugendlichen aus. Das sind ca. 600.000 Schüler und Schülerinnen. Statistisch ist davon auszugehen, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder und Jugendliche sind, die juristisch strafbare sexuelle Gewalt erleiden.
Und auch dieses Dunkelfeld bildet noch nicht die Realität ab. Denn:
Die PKS bildet nur sexuelle Gewalttaten ab, die im juristischen Sinne Straftaten sind. Hinzukommt noch die juristisch nicht strafbare sexueller Gewalt. Diese kann folglich nicht zur Anzeige gebracht werden und dementsprechend auch nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Ergebnis der Dunkelfeldforschung ca. 1.000.000 betroffene Kinder in Deutschland und das absolute Dunkelfeld der sexuellen Gewalt – nicht strafbare und strafbare sexuelle Gewalt an Kinder
Das an sich schon nicht zu fassende Dunkelfeld der PKS wird noch unfassbarer. Die geschätzten 1.000.000 Kinder sind „nur“ die Kinder, die von der strafbaren sexuellen Gewalt betroffen sind. Wie hoch ist dann die tatschliche Realität der sexuellen Gewalt an Kindern in Deutschland?
Diese nicht juristische sexuelle Gewalt ist obschon nicht strafbar und nicht strafrechtlich verfolgbar, mitunter nicht minder verletzend.

Diese Zahlen sind für mich immer wieder unerträglich und unvorstellbar. Nicht nur wegen dem Faktum „so viele Fälle“. Es ist noch etwas anderes, was mich zutiefst verstört und mich sprachlos machte. (Bis zu diesem Blogbeitrag konnte ich nicht wirklich in Worte fassen, warum mich diese jährlichen Fallzahlen derart befassten.)
In Anbetracht von ca. 14.500-15.000 Fällen von Kindesmissbrauchs pro Jahr bei einer Gesamtzahl von 10.760.000 Kinder in Deutschland kann ich mich immer wieder ganz gut distanzieren – solange ich nicht unmittelbar und wissentlich betroffen bin. Gehe ich aber von den hochgerechneten 1.000.000 betroffenen Kindern aus und beziehe ich noch die nicht strafbare sexuelle Gewalt mit ein, gehe ich also von 1.000.000 + X aus, dann…
…. kann ich mich nicht mehr distanzieren. Denn: Dann ist davon auszugehen, dass ich immer wieder Kindern begegne ich, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe – kurz vorher oder kurz nachher – Opfer sexueller Gewalt werden. Und es ist weiter davon auszugehen, dass ich Tätern und Täterinnen begegne, die ebenfalls in zeitlicher Nähe – kurz vorher oder nachher – Kindern sexuelle Gewalt zufügen. (Abgesehen von eher seltenen Ausnahmen bin ich wissentlich an sich persönlich wie beruflich mit lang zurückliegenden Gewalttaten, mit längst geschehenem Leid befasst.)
Wer sind diese Kinder und diese Jugendlichen, die Opfer sexueller Gewalt wurden und werden? Wer sind die Menschen – die Kinder, die Jugendlichen, die Frauen und Männer, die diese sexuellen Gewalttaten begehen? Wer sind die Täter und Täterinnen, die derart viele Kinder zu Opfern sexueller Gewalt machen?
1.000.000 + X Kinder als Opfer sexueller Gewalt? 1.000.000 + X Täter und Täterinnen?
Wo sind sie?
Opfer und Täter/Täterinnen sind inmitten meiner Lebenswelt, inmitten unser aller Lebenswelten. Sie begegnen einer Vielzahl von Menschen vor und nach dem sie sexuelle Gewalt erleben oder vor und nachdem sie sexuelle Gewalt ausüben.
Die Kinder, die sexuelle Gewalt erfahren, leben in Familien mit Müttern und/oder Vätern, mit Geschwistern, besuchen Onkel und Tanten, spielen mit Cousinen und Cousins, werden von Großeltern behütet, wenn Mütter oder Väter in der Arbeit sind. Sie sind in Kinderkrippen, in Kindertagesstätten, gehen in Kindergärten, in Schulen, in Kinderhorte und in Nachmittagsbetreuungen, in Sportvereine und in Jugendgruppen, besuchen Gottesdienste, Dorfveranstaltungen, spielen in Musikgruppen. Sie werden von Kinderärzten untersucht, gehen zum Zahnarzt, besuchen Homöopathinnen, werden von Logopäden und Ergotherapeuten gefördert, nehmen Nachhilfe und Gesangsunterricht, lernen Musikinstrumente. Sie haben Freunde und Freundinnen, sind auf Geburtstagsfeiern eingeladen, sitzen neben Banknachbarn, fahren zusammen im Bus zur Schule, begegnen Nachbarn, spielen mit Nachbarskindern und besuchen Nachbarsfamilien.
Was haben diese Kinder erlebt? Was ist sexuelle Gewalt überhaupt?

Definition von sexueller Gewalt (vgl. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs)
Sexuelle Gewalt können Grenzverletzungen, wie unbeabsichtigte Blicke und Berührungen, können Küsschen und Küsse, können Freizügigkeit und Freikörperkultur (FKK) sein.
Sexuelle Gewalt sind verbale Belästigungen, voyeuristische Blicke, exhibitionistisches Verhalten, sexuelle Handlungen vor dem Kind, Streicheln der Brüste, Zungenküsse, Masturbieren vor dem Kind, Zeigen von pornographischen Darstellungen, Manipulation der Genitalien, sexuelle Gewaltdarstellungen fotografieren, schreiben, filmen und verbreiten und (orale, vaginale und anale) Penetrationen.
Derartigen Handlungen sind betroffene Kinder ausgesetzt.
Sexuelle Gewalt verletzt Körper und Psyche, verletzt Seelen und verstört Gefühle. Sie (zer)stört die Beziehung zu sich selbst und zur Welt, das Vertrauen in sich selbst, in die Menschen, in die Welt, in das Leben an sich. Kinder erleben Gewalt, die im Verborgenen und im Dunklen geschieht und die auch danach viel zu oft im Dunklen und Verborgenen bleibt.
Doch sind es nicht allein die sexuellen Gewalttaten an sich, die derart vergiftend, zerstörend und vernichtend wirken. Vielmehr sind es die Erfahrungen der Kinder danach, die Begegnungen mit Menschen nach einer erlittenen Gewalt, die entscheidend sind, ob ein Gewalttrauma seine zerstörerische Sprengkraft entfalten kann oder nicht.
Dieses unsägliche Dunkelfeld sexueller Gewalt 1.000.000 + X konfrontiert mich immer wieder mit Sehen oder Nichtsehen von Menschen, mit ihrem Erkennen oder Nichterkennen und mit ihrem Handeln oder Nichthandeln.
Die Kinder begegnen, nach dem sie sexuelle Gewalt erlebten, immer Menschen – sie begegnen ihren Müttern und ihren Vätern, Erziehern und Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern, den Großeltern, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern, Freunden und Freundinnen, Tanten und Onkeln, den Ärzten und Ärztinnen, Therapeutinnen und Therapeuten, Trainern und Trainerinnen, Verwandten, Jugendgruppenleitern, Nachbarn, Seelsorgern und Seelsorgerinnen, Klavierlehrerinnen und Geigenlehrern, …

Dieses Axiom der Kommunikation ist grundlegend, so allgemein und fast schon banal es klingen mag, so weitreichend ist es in seiner Konsequenz. Denn dieses Axiom ernstgenommen bedeutet:
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Kinder, die vor kurzem sexuelle Gewalt erlitten hatten – also etwas derart Verstörendes, Verwirrendes, Vernichtendes, Verletzendes, Beschämendes, Beängstigendes erfahren mussten, gänzlich ohne Reaktion darauf weiterleben und einem begegnen, als wäre nichts dergleichen geschehen.
Kinder danach sind betont unauffällig oder sehr auffällig, verstummen oder sprechen laut und schwallartig, ziehen sich zurück oder werden aggressiv, verlieren an Gewicht oder nehmen an Gewicht zu, schlafen nicht mehr oder schlafen viel mehr, sind gänzlich angepasst oder sehr unangepasst, sind sehr ängstlich oder ganz angstfrei, werden in der Schule immer schlechter oder immer besser, sind lebensmüde oder extrem lebensfroh, sind bewegungslos oder hyperaktiv, sind körperlos oder sehr körperbetont, sind ohne jedes Selbstbewusstsein oder mit extremen Selbstbewusstsein, schämen sich sehr oder sind völlig schamfrei, sind depressiv oder sehr lebendig, sind völlig abwesend oder überaus präsent, sind …
… anders als zuvor.
Doch nehme ich diese Veränderungen war? Kann ich? Will ich? Ich sollte.
Ich sollte Veränderungen im Wesen und im Verhalten von Menschen, von Kindern, mit denen ich in Beziehung bin, mit denen ich in Kontakt bin wahrnehmen.
Etwas ist geschehen, etwas ist passiert, was die Kinder in ihrem Wesen und ihrem Verhalten verändert.
Ich sollte diese kleinen und großen Veränderungen wahrnehmen, denn:
Es kommt darauf an, wie nach einer sexuellen Gewalt reagiert wird, ob Kinder nachhaltig traumatisiert sind und unter langwierigen und quälenden Traumafolgestörungen leben müssen oder ob sie dieses Trauma mit Hilfe lernen zu bewältigen und danach durchaus gestärkt weiterleben können.

Ein Trauma wird mir erst zu einer langanhaltenden Traumatisierung durch ausbleibende hilfreiche Reaktionen und/oder durch zusätzlich traumatische Reaktionen der Menschen auf ein Trauma.
Ergeht es ihnen wie Elena oder wie Jan? Zwei Beispiele, die mich bis heute immer wieder beschäftigen. Zwei Beispiele, die zwei vielleicht extreme Pole von Reaktionen veranschaulichen:
Elena kommt nach einem längeren Psychiatrieaufenthalt aufgrund von Schizophrenie zu mir, um mir zu erzählen, was sie in der Psychiatrie niemandem erzählen konnte, weil es dort niemanden interessiert hatte. Die behandelnden Ärzte und betreuenden Pflegekräfte, auch der Sozialdienst befanden sich dafür nicht zuständig.
Elena ging nach dem Abitur als Au-pair für ein Jahr in die USA. Dort bekam sie plötzlich und völlig unerwartet Alpträume und Flashbacks. Diese zeigten klar und deutlich, wie sie als kleines Mädchen im Alter von 4 Jahren von dem Vater ihrer besten Freundin oral und anal vergewaltigt wurde. In den folgenden Tagen erinnerte sich Elena an immer mehr Einzelheiten. Sie notierte alles in einem Schulheft. Bis dahin hatte sie nichts mit dem Thema „sexuelle Gewalt“ zu tun. Allenfalls war sie damit konfrontiert, wenn in den Medien darüber berichtet wurde.
Diese Erinnerungen waren äußerst plastisch und detailliert, unmissverständlich.
Als ihre Mutter sie in den USA besuchen kam, erzählte Elena von den Flashbacks der Vergewaltigung. Sie las minutenlang aus ihrem Erinnerungsheft vor, währenddessen ihre Mutter mehrmals nickte.
„Ah, deswegen war Deine Unterhose blutverschmiert, als Du nachhause gekommen bist. Ich hab‘ mich schon gewundert. Jetzt wird mir alles klar.“
Elena ist schockiert. Es ist dieser Satz, den sie nicht aushalten konnte, den sie jahrelang nicht aushalten konnte. Elena schrie daraufhin ihre Mutter an, warum sie denn nichts gemacht hätte, wenn sie doch die blutverschmierte Unterhose ihrer 4-jährigen Tochter findet.
„Du wolltest ja dort immer hin. Ich wollte ja, dass Du dort nicht hingehst. Mir war der ja immer schon unangenehm. Du wolltest doch unbedingt hin. Dir hat es ja dort besser gefallen als bei mir. Dort war ja alles besser.“
Diese Reaktion ihrer Mutter, 17 Jahre nach der brutalen Vergewaltigung, ist unerträglich. Einige Wochen später begann Elena Stimmen zu hören und sich verfolgt und bedroht zu fühlen. Diese Symptome wurden immer intensiver und unkontrollierbarer. Ihr Zustand verschlechterte sich derart, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen wurde.
Ein paar Jahre später hatte ich die Möglichkeit mit der Mutter zu sprechen. Ich fragte sie im Beisein von Elena, wie sie auf die unerwarteten Erinnerungen ihrer Tochter reagiert hatte. Ihre Antwort stimmte nahezu wörtlich mit Elenas Bericht überein.
Ich war sprachlos und Elena begann leise und still zu weinen. Nach einigen Minuten fragte ich die Mutter, was sie denn damals dachte, spürte und fühlte, als sie die blutverschmierte Unterhose ihrer 4-jährigen Tochter in den Händen hielt.
„Das war – ich weiß es nicht mehr genau. Aber da war so etwas wie Genugtuung. Ich hatte mich ja immer schon so um meine Tochter gekümmert, richtiggehend aufgeopfert, wollte ihr ein schönes Zuhause bieten, und dann war sie so, ja, in meinen Augen so undankbar. Immer war alles dort schöner und besser. Ich weiß, das klingt jetzt unmöglich, aber so war es. Jetzt kann sie nicht mehr sagen, das dort alles besser ist.“
Und so ist Elena nicht nur gezwungen mit der Realität zu leben, als Kind äußerst brutal vergewaltigt worden zu sein und unter den entsprechenden körperlichen und psychischen Folgen zu leiden. Sie muss zusätzlich noch die Reaktion der Mutter unmittelbar danach und nochmal wiederholt 17 Jahre später verkraften. Elena erfuhr nicht nur keine Hilfe in aller größter Not, sondern erlitt noch zusätzlich den unsäglichen Schmerz des Verlassenwerdens und Verratenwerdens durch die Mutter. Dies manifestierte sich in den quälenden Symptomen, immer wieder von den Stimmen des Vergewaltigers und der Mutter gepeinigt zu werden, ständig nach einer Lösung zu suchen, wie etwas doch noch auszuhalten ist, was nicht auszuhalten ist.
Und zusätzlich muss Elena damit leben, dass auch sonst niemand gesehen, erkannt und gehandelt hatte, auch nicht die Kindergärtnerinnen. Denn Elena ging danach weiterhin in den Kindergarten, sie ist dort auch weiterhin mit der eigentlich besten Freundin in der gemeinsamen Bienchen-Gruppe gewesen.
So potenziert sich das Zerstörungspotential des ursprünglichen Gewalttraumas noch zusätzlich.
Wie anders ist es Jan ergangen:
Jan ist ein 8 jähriger Junge, um den sich seine Mutter Ursula große Sorgen macht. Ursula rief mich an um mir zu berichten, dass sie jetzt endlich wisse was mit ihrem Sohn los sei. Schon länger spürte sie, dass etwas nicht stimme. Jan wäre so abwesend und so unkonzentriert, dann wieder so weinerlich. Auf ihre Fragen wich Jan immer aus und meinte, es wäre nichts. Dem Klassleiter sei dieses Verhalten auch schon aufgefallen. Er meinte, es könnte mit dem Leistungsdruck wegen dem Übertritt auf das Gymnasium zu tun haben. Da hätten einige Kinder Probleme damit. Aber Ursula spürte immer und immer wieder, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, dass es nicht der Übertritt sei. Und so blieb sie dabei. Sie fragte Jan immer wieder, was los sei. Doch er wich weiterhin aus. Erst als Ursula von guten und von schlechten Geheimnissen sprach und davon, dass jeder Mensch über die schlechten Geheimnisse reden darf, ja sogar soll, weil ihm nur dann geholfen werden kann, erst dann begann Jan zu sprechen. Es wäre wegen Stefan…
Stefan ist der neue Lebenspartner von Ursula. Sie wohnen seit einem halben Jahr zusammen. Als Ursula zum ersten mal wieder Nachtwachen im Krankenhaus übernahm und Jan zum ersten Mal alleine mit Stefan über Nacht zuhause war, kam Stefan ins Bett von Jan. Dies wiederholte sich in den nächsten Nächten. In der letzten Nacht von Ursulas Nachtschicht masturbierte Stefan vor Jan und bot ihm an, das auch mit Jans Penis zu machen. Das wäre ein sehr, sehr schönes Gefühl. Und sie hätten jetzt ein Männergeheimnis, über das Jan mit niemanden reden dürfe. Denn Jan sei ja nun ein echter Mann, und Männer könnten schweigen wie ein Grab…
Ich fragte Ursula, wie es ihr mit der Offenbarung von Jan ging.
„Ich war perplex und brauchte einige Minuten um mich zu sammeln. Ich wurde immer wütender und wütender. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Ich ballte meine Fäuste und biss mir die Lippen blutig. Erst als mich Jan fragte, ob das ein gutes oder schlechtes Geheimnis gewesen wäre, was er ja nun verraten hätte, kam ich wieder zu mir. Ich sagte Jan, dass das ein sehr, sehr schlechtes Geheimnis sei und dass es absolut richtig gewesen sei, darüber zu sprechen, weil ich ihm nun helfen könne, dass so etwas nie wieder passiert.“
Ursula ging danach mit Jan zunächst zum Kinderarzt, um abzuklären, ob nicht noch Schlimmeres passiert ist und ob Jan Verletzungen davon getragen hat. Glücklicherweise war Jan unverletzt. Danach erstattete Ursula bei der Polizei Anzeige wegen sexuellem Missbrauchs und rief danach Stefan in der Arbeit an, um ihm mitzuteilen, dass sie von dem sexuellen Missbrauch wisse, dass sie ihn angezeigt hätte und er nun drei Stunden Zeit hätte, seine Sachen zu abholen… Als Stefan anfing zu weinen und seine Unschuld zu betonen, beendete Ursula das Gespräch.
Jan war bei alledem mit dabei und schien das Geschehen genauestens zu beobachten. Am Abend fragte er Ursula, warum sie denn Stefan rausgeschmissen hätte und bei der Polizei angezeigt hätte, wenn sie ihn doch so lieben würde, wie sie einmal den Papa geliebt hätte.
„Ja, und da sagte ich ihm, dass Stefan ein Verbrechen begangen habe, dass das, was Stefan in der Nacht gemacht hat, eine Straftat ist, und dass das niemand machen darf und wenn doch, dann muss er sich vor Gericht dafür verantworten. Und dass es sich da aufhört mit der Liebe…“
Danach ging Stefan ins Bett, nicht ohne zu verkünden, dass er nun Polizist werden wolle…
„Das wollte ich Dir nur erzählen…“
Einige Wochen später rief mich Ursula nochmals an. Sie berichtete, dass nun Stefan endgültig ausgezogen sei, dass sie keinerlei Kontakt mehr zu ihm habe und dass er bei der Polizei alles gestanden hätte. Es wäre jetzt endlich Ruhe eingekehrt. Danach bat sie mich, ob ich nicht mit Jan arbeiten könnte.
„Warum und wozu soll ich mit Jan arbeiten?“
„Ich will nichts versäumen, nicht dass er sein Leben lang unter dem sexuellen Missbrauch leiden muss. Lieber jetzt gleich daran arbeiten, als später umso härter.“
„Woran bemerkst Du, dass Jan leidet? Dass es etwas zu bearbeiten gibt?“
„Bemerken tu ich nichts. Aber ich denke mir halt, dass es nicht schaden könnte….“
„Um Dich zu beruhigen?“
„Ja, weil er selber sagt, dass es ihm gut geht, weil es aufgehört hat und er das nicht mehr erleben muss. Und er sagt auch, dass er froh ist dass sich die Polizei jetzt um Stefan kümmert. Und er sagte auch, dass er eigentlich nicht mehr dauernd darüber sprechen will. Es wäre jetzt vorbei.“
Ich habe mit Jan nicht gesprochen und auch nicht gearbeitet. Es gab für mich nichts mehr zu tun. Ursula hatte alles getan, was für Jan notwendig war, um das traumatische Erlebnis der Masturbation in seinem Bett vor seinen Augen, durch einen Mann, denn Mama liebt und der vorgibt, Mama zu lieben, auf seine Weise zu verarbeiten, ohne dass er momentan traumatisiert zu sein scheint. Zudem ist Ursula immer wieder auch Menschen begegnet, die sehen wollten und konnten, wie der Klassenlehrer, dem ebenfalls aufgefallen war, dass etwas mit Jan offenbar passiert ist, dass etwas Jan offenbar sehr beschäftigt.
Es gibt leider das eine entscheidende Symptom nicht. Es gibt das vielfach zitierte Missbrauchs-Syndrom einfach nicht. Es gibt nichts dergleichen, was hundertprozentig sagen könnte, beweisen könnte, was genau geschehen ist. Es gibt nur Hinweise, dass mit Kindern etwas passiert ist, dass mit Kindern etwas Traumatisches passiert ist.
Doch dieses ist gewiss: Etwas Schlimmes ist passiert, worauf das Kind mit diesen sichtbaren, spürbaren und fühlbaren Veränderungen von Wesen und Verhalten – mit seinen Symptomen reagiert. Aber was?
Fehlen objektive gerichtsfeste Beweise, wie Fotos, Filmaufnahmen, körperliche Verletzungen und Spermaspuren oder eindeutige Zeugenaussagen von dritten, hinzukommenden Personen, lässt sich die Wahrheit, dessen was tatsächlich passiert ist, nur über den Ausdruck der betroffenen Kinder finden – über direkte oder verschlüsselte, bildhafte und umschreibende Wörter, über körperliche Verhaltensweisen, über emotionale Ausbrüche, über bildhaftes und spielerisches Gestalten…
Es bleibt nur: Diesen Ausdruck der Kinder wahrnehmen zu können und wahrnehmen zu wollen, ihn als solchen zu erkennen und zu bewerten und dem dann besonnen nachzugehen. Dafür Sorge tragen, dass Kinder einen sicheren und geschützten Platz finden, in dem sie ihre eigenen Worte finden können, für das was ihnen angetan wurde, ein Platz an dem sie sich ausdrücken können und sicher sprechen können, wenn sie dazu bereit sind, wenn sie sprechen wollen.
Dann fänden Kinder nach einem sexuellen Gewalttrauma in den Begegnungen mit uns Menschen ihrer Umgebung Beistand und Hilfe und dann bliebe die Gewalt nicht mehr im Dunklen und Verborgenen.
Wenn dies viel öfter gelänge, dann erlebten Kinder zwar ein schlimmes Gewalttrauma, wären aber nicht zwangsläufig traumatisiert und ausweglos gefangen in anstrengenden, quälenden und (selbst)zerstörerischen Traumafolgestörungen und Traumaüberlebensmechanismen.