ICH und die fehlende WIRKLICHE Erinnerung

„Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Da kann ich noch so viele Aufstellungen machen, es nützt alles nichts.“, meint Peter sichtlich verzweifelt zu mir.

„Was meinst Du mit ’nicht erinnern können‘? Wann wüsstest Du, dass Du Dich erinnern kannst?“ frage ich Peter.

„Na, wenn ich Bilder hätte, wenn ich einfach wüsste, was mir genau passiert ist.“, antwortet Peter.

„Und was schließt Du daraus, dass Du keine Bilder hast, Dich also demzufolge nicht erinnern kannst?“, frage ich nach.

„Dass es vielleicht nicht stimmt, dass ich mir nur was einbilde, dass die ganzen Aufstellungen eben nicht wahr sind.“

Peter, ein Mann Ende 40, will unbedingt wissen, was ihm in seiner Kindheit zwischen 6 und 12 Jahren passiert ist. Trotz aller Hinweise und Indizien, trotz aller Ahnungen, trotz aller Symptome und trotz aller verblüffend stimmigen Aufstellungen, behauptet Peter weiterhin, er könne sich nicht erinnern, was ihm passiert ist. Bis dahin, dass er immer wieder bezweifelt, dass ihm überhaupt je etwas Schlimmes passiert wäre.

„Ich hatte so gehofft, dass ich in den Aufstellungen endlich erfahre, was mir passiert ist, und dass ich mich endlich erinnern kann. Das ist aber nicht passiert. Vielleicht ist mir eben nichts passiert. Einfach nichts.“

Dieser Auszug aus einem Gespräch mit Peter ist ein Beispiel von vielen derartigen Gesprächen.

Nein, es stimmt nicht, dass sich Peter nicht daran erinnern kann, was ihm passiert ist. Er erinnert sich durchaus, nur eben anders: Nicht nicht bewusst – also nicht kognitiv und auch nicht visuell.

In diesem Zusammenhang ist es für mich bemerkenswert, dass wir unsere Bilder im Kopf – unsere visuellen Wahrnehmungen – als wahr, als wirklich geschehen, als real bewerten. Wenn ich Bilder hätte, dann…

… wäre ich mir sicher, würde ich mir glauben, hätte ich einen Beweis.

Daneben gibt auch aber auch noch un-bewusste, vor-bewusste Formen der Erinnerns. Unser Körper und unsere Gefühle erinnern und speichern auf ihre entsprechende körperliche und emotionale Weise unsere prägenden Erfahrungen und Erlebnisse.

Es gibt Erinnerungsfragmente, Flashbacks und Alpträume, es gibt körperliche Symptome und Zustände, es gibt Verhaltensauffälligkeiten, es gibt übersteigerte und nicht situationsadäquate Emotionen – zusammen ergeben sie eine Erinnerung. Allerdings eben eine andere Art Erinnerung,

Diese ist psychologisch betrachtet nicht weniger oder mehr vertrauenswürdig und belastbar, als die gerichtsfeste kognitive und visuelle Erinnerung.

„Ja, ja… Ich weiß schon, aber ich täte mich trotzdem -, nein, ich muss mich erinnern können, mich WIRKLICH erinnern können! Erst dann bin ich mir sicher. Erst dann kann ich mir glauben.“

Dieser Auszug aus einem Gespräch mit Peter ist nur ein Beispiel von vielen ähnlichen Gesprächen, die ich mit Menschen führe, die sich trotz aller Bemühungen ihnen zufolge „nicht richtig“, „nicht wirklich“ erinnern können. Diese verschiedenen Formen der Erinnerung, die unterschiedlichen Gedächtnistypen sind tatsächlich sehr gut erklärbar, logisch nachvollziehbar, stimmig und auch wissenschaftlich „hieb-und stichfest“. Aber es scheint trotzdem und wider meiner Erwartungen gar nicht so einfach zu sein…

… wie ich persönlich, sozusagen am eigenen Leib und im eigenen Kopf, erfahren durfte.

Erst vor wenigen Monaten ist mir bewusst aufgefallen, dass ich mich nicht erinnern kann:

Ich kann mich nicht erinnern, was an einem Dienstag oder Mittwoch, im Mai 2000 zwischen 14 Uhr und 19 Uhr in einem Lehrerzimmer an einem Regensburger Gymnasium passiert ist.

Ich kann mich nicht erinnern, was mir, einer 26 jährigen Referendarin für Deutsch und Geschichte dort in diesen Stunden im Rahmen einer Besprechung meiner Lehrprobe im Fach Geschichte am folgenden Tag passiert ist.

Ich kann mich hingegen sehr gut erinnern, was von Februar bis eben zu diesem Tag, und was am Tag danach in der Lehrprobe und in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten danach passiert ist.

Ich hatte mich schon einmal in einem Blog-Beitrag „ICH verloren in der Täter-Opfer-Dynamik“ (10.01.2019) mit meinem Erfahrungen im Referendariat befasst. Allerdings mit meinen bewussten Erinnerungen an die demütigenden und entwürdigenden Erfahrungen, an die ich mich bewusst erinnern kann. Die sexuelle Gewalterfahrung in meiner fehlenden Erinnerung erwähnte ich zwar, aber ohne eine bewusste, entsprechend adäquate Bewertung.

Nun bin ich zweieinhalb Jahre später in den Bergen unterwegs, nachdem ich zuvor mit Peter eine Einzelsitzung hatte, und denke über dessen fehlende Erinnerung und meine Erklärungen nach: Sie haben offenbar wenig bis nichts bewirkt.

„Ja, ja… Ich weiß schon, aber ich täte mich trotzdem -, nein, ich muss mich erinnern können, mich WIRKLICH erinnern können! Erst dann bin ich mir sicher. Erst dann kann ich mir glauben.“

Und so laufe ich den Berg hinauf und sinniere über Erinnerungen und sich erinnern…

…bis mir ein eklatanter Widerspruch in mir auffällt:

Warum kann ich mich an das für mich Schlimmste – die schlechte Benotung der Lehrprobe – zweifelsfrei und sehr genau erinnern? Warum erinnere ich von der Besprechung am Tag davor allenfalls Splitter und Schemen? Warum erwähne ich immer wieder andeutungsweise die sexuelle Gewalt, ohne ihr aber Gewicht beizumessen? Hätte ich zumal als Fachfrau nicht schon längst feststellen müssen, dass nicht im Erinnerbaren, sondern eher im Nicht-Erinnerbaren mein Schrecken sitzt?

Nein, bis dahin hatte ich diese kognitive Dissonanz tatsächlich nicht bemerkt.

Ich bin schockiert.

In den folgenden Monaten befasste ich mich intensiv mit meinen fehlenden Stunden:

Ich will mich erinnern können. Ich muss wissen, was da mit mir wirklich passiert ist. Ich will mich richtig erinnern können.

Dabei stellte ich fest, dass das Nicht-Erinnerbare nicht eine Verletzung von vielen Verletzungen bis hin zur großen und finalen Gewalteskalation – der Lehrprobe – war. Nein, mein Trauma ist eben nicht die Lehrprobe an sich, sondern das, was mir einen Tag zuvor in der Besprechung passiert ist, und was ich bis dato nicht erinnern konnte.

Mit dieser Erkenntnis meldete ich mich an einem Selbstbegegnungsseminar an. Ich hatte das Glück, dass ich dort mein Anliegen gänzlich ungeplant und unverhofft, völlig unvorbereitet aufstellen konnte. Ich begegnete mir dort tatsächlich in wesentlichen Aspekten – in meinem ICH (26, im Lehrerzimmer), dem Lehrerzimmer als Ort des Geschehens und dem Seminarrektor für Deutsch.

Ich erhoffte mir tatsächlich, dass ich mich währenddessen oder danach RICHTIG und WIRKLICH erinnern kann: Ich mache meine Aufstellung und dann – BÄM – die Erinnerung ist plötzlich da, ich habe Bilder oder Filme in mir, und dann weiß ich kognitiv und visuell, was mir dort passiert ist. Das war meine Erwartung, meine Sehnsucht, meine Wunschvorstellung, aber…

… so war es nicht und so ist es bis jetzt nicht.

Eine der wichtigsten Momente dieser Arbeit war, als ich meine Resonanzgeber fragte, was sie mir denn angetan hätten im Lehrerzimmer:

„Was haben die mit meinem Körper gemacht?“

„Christina, das weißt Du doch!“, antwortete mir die Resonanzgeberin für „Lehrerzimmer“.

Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte. Machte ich nicht gerade deswegen diese Arbeit?

Noch während ich mich über die Antwort beinah ärgerte – was, ich soll das wissen?! – bin ich unvermittelt körperlich zusammengebrochen.

So am Boden liegend war plötzlich ein „Ja, ich weiß“ in mir:

„Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“

Dieses sehr konkrete Wissen, das sich für mich in diesem einen Satz ausdrückte, traf mich innwendig, war ich doch auf schreckliche Szenarien der Resonanzgeber eingestellt – nicht aber auf mein eigenes Wissen, denn ich wusste ja nichts, ich konnte mich ja nicht erinnern.

Ja, ich wusste und ich weiß bis heute. Kann ich mich aber jetzt WIRKLICH erinnern? Nein, nicht wirklich.

„Wenn ich mich doch RICHTIG erinnern könnte… “

Woraufhin mein Mann feststellte: „Was brauchst Du denn noch?!“

Diese Frage stellt sich mir tatsächlich angesichts der vielen Indizien:

Mein Körper zitterte währende der Aufstellung extrem, ich hatte große Mühe stehenzubleiben, bis ich dann bei der Feststellung „Christina, das weißt Du doch!“ unkontrolliert zusammengebrochen bin. Seitdem überfällt mich immer eine bemerkenswerte Schwäche und Kraftlosigkeit, wenn ich mich mit meinem Satz „Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“ befasse (wie auch während und nach dem Schreiben dieses Blog-Beitrages). Es ist als hätten meine Muskeln überhaupt keine Energie und auch keine Spannung – ein für mich sehr eigenartiger Körperzustand, den ich bis dato nicht kannte.

Ich hatte kurz vor und kurz nach dem Seminar große Mühe, mich in der Realität zu bewegen:

So besuchte ich am Tag vor dem Seminar eine Klamm um zu fotografieren. Ich steckte mir Geld in meine Hosentasche und machte den Reißverschluss zu – so dachte ich zumindest. An der Kasse stellte ich fest, dass der Reißverschluss offen und der Geldschein weg ist. Wie panisch rannte ich zum Auto zurück und fand tatsächlich den Geldschein mitten auf der Straße liegend. Ich war so froh, dass ich Tränen in den Augen hatte. Ich war irritiert über den offenen Reißverschluss, ebenso wie über meine folgende Panik und der Tränen wegen 10 Euro(!).

Am Abend parkte ich das Auto auf dem Parkplatz vor der Pension und ging hinauf in mein Zimmer. Oben angekommen, dachte ich plötzlich, dass ich den Autoschlüssel im Auto steckengelassen hätte und sich das Auto nun verriegelt hätte, und da ich keinen Ersatzschlüssel dabei habe, ich weder ins Seminar und auch nicht nachhause fahren könnte… Und wieder lief ich sichtlich panisch zum Auto, um festzustellen, dass der Schlüssel nicht im Schloss steckte, dafür aber beide Fenster offen waren und das Auto nicht abgeschlossen war. Wieder oben im Zimmer angekommen, stellte ich fest, dass der Schlüssel offen und sichtbar auf dem Tisch lag. Nun war ich noch mehr irritiert.

Und so ging es weiter. Nach dem ersten Seminartag mit meiner bewusst nicht geplanten und spontanen Aufstellung, wollte ich im Supermarkt einkaufen. An der Kasse stellte ich fest, dass mein Geldbeutel weg ist – und wieder lief ich panisch zum Auto und fand ihn dort nicht und lief noch panischer zurück in den Supermarkt, um ihn schließlich bei den Bananen liegend zu finden… An der Kasse meinte die Verkäuferin mitfühlend zu mir, dass man sich da wirklich schreckt, wenn der Geldbeutel weg ist… Ja, wohl wahr.

Ich kenne solche sich wiederholende „Kopflosigkeiten“ – fachlich ausgedrückt: dissoziativen Zustände von mir nicht, nicht vor meinen bisherigen Aufstellungen und auch sonst nicht. Ich war wirklich irritiert.

In den folgenden Tagen und Wochen fielen mir einige weitere Hinweise auf:

Ich bin nach besagter Besprechung im Lehrerzimmer mit dem Rad in mein Zimmer gefahren, Daran kann ich mich wieder erinnern: Es war dämmrig – im Mai geht die Sonne in Regensburg ungefähr um 20:30 unter – ich fahre mit dem Rad die lange Friedenstraße entlang, ohne Licht und verkehrt auf dem Fahrradweg. Ich weiß, dass jetzt alles aus ist. In meinem Zimmer im Studentenwohnheim angekommen, sehe ich mich an meinem Schreibtisch sitzend, meine Lehrprobe für morgen durchgehend. Ich wusste, es ist nun alles aus, und ich bereitete mich für die Lehrprobe vor. Es ist aus, ich weiß nicht warum, aber es ist aus, und ich mache weiter, als wäre es nicht aus. Ich weiß, dass ich damals nicht wusste, was mir passiert ist, nur dass es aus ist und dass es und etwas entsetzlich schlimm ist.

Dieses emotionale Wissen „Es ist alle aus!“ begleitete mich seitdem: Es ist während der Lehrprobe da, es ist unmittelbar danach da, es ist während meines Studiums der Sozialen Arbeit da, es ist da…

… wie die Hintergrundmusik, die immer leise zu hören ist.

In den letzten Monaten fragte ich mich zusehends, ob dieses existentielle und absolute Gefühlswissen „Es ist alles aus!“ wirklich zu einer mit 5 bewerteten Lehrprobe passt.

Löste diese schlechte Note meinen retrospektiv betrachtet auffällig desolaten Zustand aus? Bezieht sich mein Grundwissen „Es ist alles aus!“ wirklich auf diese Note?“ Jahrelang und im Grunde genommen bis vor kurzem?

Ich verließ fluchtartig nach der Besprechung und Bewertung der Lehrprobe das Gymnasium und kehrte nicht wieder zurück. Meine persönlichen Sachen blieben in meinem Fach im Lehrerzimmer zurück und wurden wohl irgendwann weggeschmissen (!). Ich weiß es nicht. Ich konnte nur noch einmal nach Regensburg fahren um mein Zimmer zu räumen und dann erst wieder 2004. Ich weiß noch, dass ich durch die Universität gelaufen bin und in der Cafeteria gesessen bin, dass ich ohne Ausweis nicht in die Bibliothek hinein durfte, dass ich danach zu diesem Gymnasium gefahren bin und zum Schluss noch zu meinem Wohnheim – völlig gefühllos.

In meiner Aufstellung meinte mein 26 jähriges ICH zu mir, dass ich sie einfach zurückgelassen hätte im Lehrzimmer. Einfach sicherlich nicht, aber zurückgelassen schon. Ich suchte seitdem immer wieder nach dieser Christina: Unabhängig davon, wie gut es bis heute in meinem Leben weitergegangen ist, unabhängig davon, dass viele Menschen mir widerspiegeln, dass ich hier in meiner Berufung viel besser aufgehoben wäre als im Lehramt. Ich konnte nicht wirklich sagen, dass ich froh bin, wie es jetzt wäre – in gewisser Weiße versöhnt mit meiner „Lehrprobe“. Im Gegenteil: Immer wieder tauchte der Impuls in mir auf, noch einmal das Referendariat für Deutsch und Geschichte zu machen – nicht aber um Lehrerin zu sein, sondern eher um etwas wiederzufinden und abzuschließen. Es erschien mir wie ein Spuk, dem ich periodisch wiederkehrend ausgeliefert war und in dem ich nur warten konnte, bis dieser wieder vorbeiging. Ich wusste, dass das kognitiv betrachtet Irrsinn ist und dennoch…

Seit dieser Aufstellung und meinem eigenen Wissenssatz „Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“ ist dieser für mich an sich unsinnige Impuls – das Referendariat zu wiederholen“ – tatsächlich weg und nicht wiedergekommen. Stattdessen weiß ich mich, sehe ich mich und spüre ich mich verletzt und verstört. Mein damaliges Leben ist entgegen meinem Willen gewaltsam beendet. Es ist unwiederbringlich vorbei. Das ist traurig.

Neben diesen Hinweisen, die sich eher auf meine Reaktionen auf das Trauma und auf meine Umgangsweisen damit beziehen, gibt es noch weitere Hinweise, die sich direkt auf das traumatische Geschehen im Lehrerzimmer beziehen:

Mein Körper erinnert sich, was der Vergewaltigung vorausgegangen ist:

Ich habe das Gefühl, dass ich an meinen beiden Armen festgehalten wurde. Ich wollte weglaufen und konnte nicht, weil mich zwei Hände festhalten. Das ist ein Körperempfinden, das in mir Panik und emotionale Schmerzen auslöst. Zudem weiß ich, dass ich angezogen war. Ich war nicht nackt. Es ist eine sehr konkrete Ahnung in mir, dass ich durch meine Kleidung an der Brust berührt worden bin.

Die beiden Täter waren mir sehr, sehr nah – ich konnte ihren Körpergeruch und ihren Mundgeruch wahrnehmen – beides löst in mir Ekel aus. Es ist mitunter bis heute so, dass ich überzogen geruchsempfindlich bin, bis dahin dass ich Geruchshalluzinationen habe. Ich nehme unangenehme, ekelige Gerüche wahr, die in der Gegenwart nicht real sind. Diese Gerüche sind Fragmente der ursprünglichen Traumasituation. Ich kann sie jetzt tatsächlich zuordnen. Endlich.

Darüber hinaus hatte eine der beiden Täter einen ziemlichen großen Bauch – was für mich bis heute ebenfalls Ekel auslösend ist. Das geht soweit, dass ich eine – bis vor kurzem unerklärliche und an sich völlig absurde Panik habe, dass der Bauch meines Mannes genauso wie… ? werden könnte. Davor grau(s)t es mir entsetzlich.

Ekel und ein fürchterliches Grau(s)en sind die beiden Gefühlzustände, die mich an das Geschehen im Lehrerzimmer erinnern.

Zuletzt das vielleicht bedeutendste Indiz: Ich mochte diese Art der Sexualität bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr gerne. Doch plötzlich – ohne dass etwas mir Unangenehmes mit meinem Mann passiert ist – überhaupt nicht mehr. Bemerkenswerter Weise fragte ich mich bis zur Aufstellung noch nie, seit wann ich keinen Oralsex mehr wollte und vor allem auch nicht warum das so wäre. Mein Mann fragte ebenfalls nicht nach. Einige Tage nach der Aufstellung hatte ich einen Alptraum, in dem ich träumte, dass ich Armin, einen sehr guter Bekannten meiner Kindheit und Jugend oral befriedigen soll. Ich beginne, zu tun, was ich tun soll, und mir wird vor lauter Ekel fürchterlich schlecht. Ich habe Mühe mich nicht zu übergeben. „Nein! Ich will DAS nie wieder machen!“ mit diesem Satz und einem schrecklich realen Ekelgefühl bin ich aufgewacht. Bevor ich wieder einschlief, dachte ich noch, dass das aber klar und eindeutig gewesen wäre, und das es nicht mehr eindeutiger werden würde.

Also, was brauche ich denn noch?!

„Wenn ich doch wenigstens einmal Bilder haben könnte…“.

Mir geht es wie Peter und wie vielen anderen Menschen, die auf der Suche nach ihrer Erinnerung sind.

„Christina, warum kann ich mich immer noch nicht erinnern? Ich verstehe das wirklich nicht. Ich habe mich jetzt über ein Jahrzehnt mit meiner Biographie, mit meinen Eltern und deren Lebensgeschichte befasst. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen kann oder soll. Es gibt keinen Grund mehr, dass ich mich, dass sich meine Psyche vor der Realität schützen muss! Ich bin jetzt echt am Ende…“

„Offenbar doch.“, erwidere ich Peter. „Es gibt einen guten Grund für Dein Nicht-Erinnern und auch für Dein Beharren auf dem WIRKLICHEN Erinnern. Du könntest Dich ja auch zufrieden geben mit den durchaus bemerkenswerten Indizien… Sogar vor Gericht gibt es die Möglichkeit eines Schuldspruchs nach einem Indizienprozess… „

„Nein, das tu ich aber nicht.“, stellt Peter Kopf schüttelnd fest.

„Ja, ich weiß, dass Du das nicht tust.“

Nach den vielen durchaus aufschlussreichen Aufstellungen mit genau diesem Anliegen, nach dem Wiederlesen der Tagebücher von Peter und seiner Mutter mit den sehr klaren und schonungslosen Einträgen, nach den vielen tatsächlichen Erinnerungen Peters an seine Kindheit, nach ehrlichen Gesprächen Peters mit noch lebenden Zeugen, wie mit seinen Geschwistern, mit einer noch lebenden Tante, mit Kindheitsfreunden, nach …

… zeigt sich Peters Kindheit als erinnerbare Folge von Ereignissen und Erfahrungen einer scheinbar „normalen Alltagsgewalt“: Watschn, abwertende Worte, körperliches und emotionales Weggestoßen werden, höhnisches und grobes Ausgelacht werden, Verlassen und Alleingelassen sein.

Es besteht kein Anlass zu zweifeln – Peter ist auf einem Bauernhof aufgewachsen – aufgewachsen in einer Lebenswelt, die geprägt war von Vernachlässigung und Gefühllosigkeit, von Abwertung und Verachtung, von Verrohung und Grausamkeit, von emotionaler und körperlicher Gewalt gegenüber Menschen und Tieren. Diesem Umgang mit sich und anderen Lebewesen entsprechend, richtete sich sein Vater durch exzessiven Alkoholkonsum und seine Mutter durch grenzenloses und schonungsloses Arbeiten zugrunde. Beide verstarben mit Anfang 60.

Und doch ist diese Erinnerung nicht ausreichend für Peter:

„Ich will mich erinnern können. Ich muss mich erinnern können.“

„Was ist wenn Du Dich tatsächlich nicht erinnern kannst? Was ist, wenn etwas passiert ist, was das Erinnern funktional unmöglich macht?“

„Das wäre echt schlimm. Dann wäre ich ja komplett ohnmächtig. Dann hätte ich ja nicht einmal mehr die Erinnerung. Nein, das ist unerträglich für mich. Was, wenn ich bei einer der zahlreichen Watschn tatsächlich ohnmächtig geworden bin? Wenn bei mir einmal sämtliche Lichter ausgegangen sind?“

„Ja, die Frage stellt sich tatsächlich.“

„Puh, das ist aber schwer. Ich weiß nicht, ob ich das akzeptieren kann oder will.“

Warum kann ich mich nicht erinnern? Warum konnte ich mich damals unmittelbar danach nicht erinnern?

Ich bin damals nach meiner Flucht aus Regensburg wieder zu meinen Eltern gezogen. Sie haben mich monatelang sichtlich verstört und verletzt im Schockzustand erlebt – offenbar wegen des Umgangs mit mit mir und der schlechten Benotung. Einige Tage nach meiner Aufstellung hatte ich das Bedürfnis, sie anzurufen und ihnen den wirklichen Grund meines Zustandes mitzuteilen. Die erste Reaktion meiner Mutter, bevor sie sonst irgendetwas gesagt hatte und noch bevor sie zu weinen begann, war für mich völlig überraschend:

Christina, was haben die Dir gegeben?

Diese Frage hat mich wieder innwendig getroffen, ähnlich wie der Satz „Christina, das weißt Du doch!“. Nur, dass ich diesmal nicht körperlich zusammenbrechen konnte, weil ich auf der Couch gesessen bin.

„Das weiß ich nicht.“ Mir wurde übel und schwindelig. „Aber mir scheint, Du stellst die richtige Frage.“

Daran hatte ich noch nicht gedacht, auch nicht die Resonanzgeber in der Aufstellung und auch sonst niemand.

„Was ist, wenn mir die beiden Seminarrektoren mir KO-Tropfen gegeben hätten?“

(Nach Wikipedia sind KO-Tropfen (auch: K.-o.-Mittel, Knockout-Tropfen, Date-Rape-Drogen oder Vergewaltigungsdrogen) sedierende Stoffe, die im Rahmen von Straftaten wie Sexual- und/oder Eigentumsdelikten genutzt werden, um die Opfer zu betäuben und damit wehrlos zu machen. Sie werden Opfern unbemerkt oder in heimlich überhöhter Dosis verabreicht. Dazu werden sie zumeist in Getränke, manchmal auch in Speisen gemischt. Nach Erwachen können sich die Opfer häufig aufgrund von Gedächtnislücken für die Wirkungszeit von ca. 2 – 3 Stunde nicht mehr an die Tat oder den Tathergang erinnern. Das macht den strafrechtlichen Nachweis der Tat oft schwierig.)

Bei dieser Frage meiner Mutter spürte und spüre ich Wut und Empörung in mir. Eine richtig große Wut und Empörung, die ich ansonsten so intensiv bis dato nicht empfunden hatte. Ich bin zutiefst wütend und empört, weil ich mich derart chemisch betäubt, ja nicht wehren konnte, nicht Nein sagen konnte.

Konnte ich noch empört Nein! sagen zu dem Vorschlag „Wir sollten uns einen schönen Abend machen in einem angenehmen Ambiente.“, so konnte ich nicht mehr Nein! sagen und mich wehren bei der nachfolgenden oralen Vergewaltigung. Mein Wille, meine Empörung, mein Körper ist chemisch von den beiden Tätern außer Kraft und außer Funktion gesetzt worden. Wohl nicht aus einem Affekt, aus einer Gelegenheit heraus, nein, langfristig geplant.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich auch an ein Gespräch mit einer Beratungsstelle im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus an die ich mich nach der Lehrprobe wandte. Ich schilderte dort meine beschämenden Erfahrungen im Referendariat und in der Lehrprobe. Von der Besprechung am Vortag konnte ich nichts sagen, weil ich mich ja nicht erinnern konnte:

„Ach ja, wieder dieses Seminar. Das wissen wir schon. Unter uns gesagt: Das kam schon öfter vor. Es haben auch schon zwei, drei Referendare in seinem Seminar versucht, sich umzubringen und eine hat es auch geschafft. Wissen Sie, der geht in drei Jahren in Pension. Da haben Sie keine Chance mehr. Da steht Aussage gegen Aussage. Und da macht sich sowieso niemand mehr die Mühe. Das wird ausgesessen. Der geht bald. Und ich sage es Ihnen gleich, Sie wissen ja, der ist der Leiter der gesamten Seminarlehrer für Deutsch in Bayern. Wenn Sie woanders anfangen, der hat überall seine Finger im Spiel.“

Dann kann ich mich kognitiv tatsächlich nicht erinnern.

Ich weiß, was mir passiert ist, und ich weiß, warum ich mich nicht erinnern konnte. Ich kann mich wieder erinnern. Ich zweifle tatsächlich nicht mehr. Ich kann mich erinnern und aber es ist keine RICHTIGE Erinnerung, keine bildhafte Erinnerung. Das ist schwer.

Meine Erinnerung sind verschiedene Körperempfindungen und spezifische Emotionen, sind bemerkenswerte Verhaltensauffälligkeiten und ist mein kognitiver Wissenssatz:

„Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“

Das ist meine Erinnerung bis jetzt, nicht mehr und nicht weniger.

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