ICH und Hilfe!

Was hilft bei Trauma? Und warum? Und umgekehrt: Was hilft nicht, und warum nicht? Mehr noch: Was ist womöglich sogar schädlich?

Das sind die beiden Fragen, die mich in den letzten Jahren zusehends beschäftigen.

„Du fragst mich, wie es mir geht?! Im Ernst jetzt?! Beschissen geht es mir. Nichts wird besser bei mir. Bei allen anderen helfen die Aufstellungen, nur bei mir nicht. Ich hab das Gefühl, es wird immer alles noch schlimmer. Ich komme mir verarscht vor, wenn Du es genau wissen willst!“

Ich bin durchaus etwas überrascht von Roswithas Aussage.

„Ich habe immer noch keinen adäquaten Job, keinen Partner, bin noch einsamer als zuvor. Was hilft es mir zu wissen, was in meiner Kindheit wann wie war?!“

„Woran würdest Du denn merken, dass Dir die Aufstellungen helfen?“

Roswitha schaut mich nun ihrerseits völlig überrascht an: „Ja, keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“

Es ist die intensive Auseinandersetzung mit Menschen, die ernsthaft auf verschiedene Weise versuchen, endlich „gesund“ zu werden. Es sind die Gespräche mit Menschen, die verzweifelt auf der Suche nach einer wirklichen Hilfe sind, die so sehr darum kämpfen, dass ihnen endlich geholfen wird – und die sie nicht finden können.

Warum ist es manchmal so schwer? Warum gelingt es trotz aller Anstrengung nicht? Warum gibt es immer wieder Rückschläge? Warum hilft sogar die von mir so hochgeschätzte Anliegen-Methode manchmal nicht oder nicht so wie erhofft?

Hilflos und ohne Hilfe im Trauma

Ein Trauma ist ein lebensbedrohliches Ereignis.

Menschen, deren Leben bedroht ist, reagieren mit reflexhaften Verhalten:

  • Verteidigung: Kämpfen und/oder Fliehen
  • Hilfe: Suche nach Hilfe und Hilfeschrei

Gelingt es mir, dem Gewalttäter davonzulaufen oder ihn in die Flucht zu schlagen, oder kommt mir jemand zu Hilfe, dann kann ich durchschnaufen. Es noch einmal gut gegangen. Ich bin in Sicherheit! Ich kann mich entspannen und wieder zur Ruhe kommen. Ich kann das Geschehen verarbeiten als ein zwar sehr belastendes,  sehr stres- siges Ereignis, das ich aber bewältigen konnte.

Was aber, wenn es mir nicht gelingt? Wenn der Täter übermächtig ist?

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„Ein Psychotrauma ist ein Ereignis, dass ein Mensch mit seinen psychischen Kapazitäten nicht bewältigen kann.“ (Ruppert, Banzhaf. (2017). Mein Körper, mein Trauma, mein Ich, 33).

Diese Definition beschreibt ein Trauma kurz und prägnant als ein Ereignis mit einer bestimmten Qualität – als etwas, das Menschen völlig überfordert, weil

  • ihre individuellen Möglichkeiten, sich zu schützen nicht ausreichen, und
  • ihnen niemand hilft.

Wenn mir niemand hilft und ich mir selber nicht helfen kann, die Bedrohung aber unvermindert andauert, dann steigen meine Überforderung und meine Ohnmacht ins Unermessliche:

Meine körperlichen Schmerzen werden immer schlimmer, die entsprechenden schrecklichen Gefühle wie Todesangst, Scham, Wut ebenso, und keine Rettung und keine Hilfe ist in Sicht. Wenn es jetzt schon nicht aushaltbar ist, und alles immer schlimmer wird, und die Bedrohung nicht aufhört…

…dann bleibt als einziger Schluss „Es ist aus! Ich sterbe. Ich bin tot.“

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Aber wider all meiner Wahrnehmung – meines Spürens, Fühlens und Denkens – ist es nicht aus: Ich bin nicht tot. Ich bin am Leben. Doch stellt sich mir die Frage: Warum?

Nicht selten sind Menschen dauerhaft gefangen in dieser kognitiven Dissonanz: Das, was nicht überlebbar ist, doch überlebt zu haben.

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Spätestens hier nehmen Körper und Psyche nachhaltigen Schaden. Wir Menschen sind nicht geschaffen, mit derartigen traumatischen Erlebnissen – den sicher geglaubten Tod zu überleben – normal weiter zu leben. Unsere Psyche verändert ihre Funktionsweise: Im Normalzustand ist die Aufgabe der Psyche die Wahrnehmung und Bewertung der Realität. Nach einem Trauma hingegen ist die zentrale Aufgabe der Psyche, die Realität mit der erlebten Lebensgefahr nicht wahrzunehmen und aus dem Bewusstsein zu halten. Die Psyche ist von da an im Überlebensmodus. Dieser ist zwar hochwirksam, hat aber mitunter quälende und ungesunde Nebenwirkungen.

Wie kann ich wieder in mein Leben finden? Wie kann meine Psyche in den normalen Funktionsmodus (zurück) finden?

Das kann ich alleine nicht schaffen. Dazu brauche ich Hilfe.

Hilfe!

Wurde mir schon während des Traumas nicht geholfen, so bin ich danach umso mehr auf Hilfe angewiesen. Ich brauche Menschen, die meinen womöglich verletzten Körper versorgen, die mir Schutz, Sicherheit und Geborgenheit geben, die meinen körperlichen Zuständen und Gefühlen Raum geben und sie mit mir aushalten können, und die mir erklären, was mir passiert ist.

Ich unterscheide bewusst zwischen ‚Trauma‘ – als der Bezeichnung für ein Ereignis mit einer ganz spezifischen Qualität – und ‚Traumatisierung‘ – als Bezeichnung für das Erleben eines derartigen Ereignisses mit den entsprechenden nachhaltigen Langzeitfolgen in einem Leben im Überlebensmodus. Diese begriffliche Unterscheidung ist für mich sehr wichtig, denn: Sie betont den Wert und das Potential von menschlicher Hilfe und menschlichem Beistand.

(Uns Menschen und der Gesellschaft als Ganzes wäre sehr geholfen, wenn uns rechtzeitig und passend geholfen worden wäre. Allerdings weist die Vielzahl an Menschen mit den unterschiedlichsten Überlebensmechanismen und Traumafolgestörungen darauf hin, dass oft eben nicht geholfen wurde.)

Manchmal frage ich Menschen, nach ihren schlimmsten Erfahrungen im Leben.

Zuletzt Roswitha, eine tatkräftige 53-jährige Frau: „Du erwartest sicher, dass ich jetzt die vielen Schläge in meiner Kindheit erwähne. Aber das war gar nicht das Schlimmste. Das war schon schlimm, weil es ja ganz furchtbar wehgetan hatte. Für mich aber war viel schlimmer – und ist es bis heute eigentlich – dass mir niemand geholfen hatte. Nicht mein Vater, der wusste ja dass meine Mutter ihre gewalttätigen Ausraster hatte. Nicht meine Großeltern, nicht meine Tanten, nicht die Lehrer in der Schule und auch niemand im Kindergarten. Es wussten ja alle, wie meine Mutter war. Und man sah ja auch meine blauen Flecken. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich dieses schreckliche Gefühl, mir wird nicht geholfen immer noch – auch bei meinem Mann, bei den verschiedenen Therapeuten, und ja –. Ich befürchte, auch bei Dir wird mir wieder nicht geholfen.“

Es ist nicht nur das Trauma an sich, das oft jahrzehntelanges Leiden hervorruft, sondern vor allem auch, dass niemand trotz aller Not, Hilflosigkeit und Ohnmacht half und hilft.

Uns so ist der Begriff ‚Hilfe‘ im Kontext von Trauma und Traumatisierung kein neutraler Begriff. ‚Hilfe‘ ist ein Signalwort, hoch emotional und deswegen mitunter sehr brisant. Das bedeutet: Traumatisierte Menschen erhoffen sich Hilfe und lehnen sie (zugleich) ab. Sie gehen (un)bewusst immer von der ‚Hilfe‘ aus, die ihnen während und nach dem Trauma begegnete.

Diese ursprünglichen und später immer wieder verfestigten Erfahrungen mit ‚Hilfe‘, ‚Geholfen werden‘ und mit ‚helfenden Menschen‘ begegnen mir immer wieder in Gesprächen mit Menschen, die mit ihren Anliegen Hilfe bei mir suchen:

„Naja, ich hab eh nichts zu verlieren. Probiere ich halt das mit den Satzaufstellungen auch noch aus. Schlechter kann es nicht mehr werden.“ – „Mir kann sowieso niemand helfen.“ – „Ich muss Sie gleich vorab warnen, ich bin ein hoffnungsloser Fall…“ – „Ich war schon bei X und X und Z und das hat mir alles nichts gebracht. Glauben Sie, Sie können mir helfen?!“ – „Endlich bin ich bei Ihnen gelandet. Sie können mir helfen! Sie sind meine letzte Hoffnung…“

Nein, das bin ich nicht und das kann ich nicht. Denn hier sprechen Menschen aus ihren Überlebensanteilen heraus, aus ihren Erfahrungen mit ‚Hilfe‘ in der Vergangenheit.

Was dann? Was kann denn dann helfen?

 Was ist Hilfe bei einer Traumatisierung?

Ausgehend von meinen ganz grundlegenden Anmerkungen zu Trauma und Traumatisierungen muss eine Hilfe nach einem Trauma

  • Schutz und Sicherheit bieten, und
  • Wahrnehmung der Realität ermöglichen.

Einem traumatisierten Menschen ist demnach zunächst geholfen, wenn er in Sicherheit ist: Dazu ist es notwendig, zu spüren, zu fühlen und zu wissen, dass die Lebensgefahr wirklich vorbei ist: Ich war in der Vergangenheit in Lebensgefahr. Sie ist Teil meiner Biographie und wird es bleiben. Jetzt gerade, in der Gegenwart, bin ich nicht in Lebensgefahr. Und in Zukunft kann ich mein Leben so gestalten, dass mein Leben aller Wahrscheinlichkeit nicht in Gefahr ist.

Doch dazu ist es zwingend notwendig, meine Lebensgefahr zu kennen, um erkennen zu können, wenn ich wieder in Gefahr bin:

Deswegen ist einem traumatisierten Menschen geholfen, wenn er die Realität seiner Biographie – die Lebensgefahr und ihren entsprechenden Kontext – tatsächlich bewusst wahrnehmen kann. Demnach dann, wenn die Psyche ohne den Überlebensmechanismus ‚Dissoziation und Spaltung‘ Realität wahrnehmen kann.

Hilfe und Dissoziation / Spaltung

 Einer der wesentlichen Überlebensmechanismen ist die Dissoziation und die Spaltung.

Das lateinische Verb ‚dissociare‘ bedeutet sich trennen, aufteilen, sich auflösen. Die Psyche eines Menschen schützt sich vor dem drohenden Tod – keine Hilfe, kein Entrinnen in einer fortdauernden lebensgefährlichen Situation – in dem sie sich von dem akuten Geschehen trennt, die Verbindung dazu auflöst.

Was bedeutet das?

  • Ich nehme die lebensgefährliche Situation nicht wahr.
  • Ich nehme die Situation als nicht (so) lebensgefährlich war, wie sie tatsächlich ist.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation zwar wahr, aber sie passiert nicht mir, sondern einer anderen Person.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation wahr, aber nicht die Person, die mich bedroht.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation zwar wahr, aber sie wird mir von einer ganz anderen (ungefährlicheren) Person angetan.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation zwar als solche tatsächlich wahr, versehe sie aber mit einem Zweck, einem höheren Sinn.

Derart gespalten, getrennt und nicht verbunden können Menschen mit einer fortdauernden Lebensgefahr weiterleben.

Im Spaltungs- und Anteilskonzept von Franz Ruppert gesprochen, wissen die gesunden Anteile zunächst nichts vom lebensbedrohlichen Trauma. Dieses ist allein in den traumatisierten Anteilen bewusst. Diese werden jedoch von den Überlebensanteilen schnellstmöglich wieder aus dem Bewusstsein gedrängt, so sie denn die Schutzmauern überwinden.

So sehr die traumatischen Erfahrungen auch dissoziiert und abgespalten sind, sie sind niemals tatsächlich weg. Ein Trauma ist eine lebensbedrohliche Extremerfahrung. Sie ist immer – oft ein Leben lang – präsent und darf doch nicht bewusst und gewusst werden.

Das ist ein existentieller Widerspruch in sich mit einer zerstörerischen Sprengkraft.

Ich spüre, dass mit mir etwas nicht stimmt. Andere Menschen spiegeln mir immer wieder, dass ich komisch, nicht normal bin. Aber was ist mit mir denn los?

Und so kreise ich um die Frage: „Was ist mit mir los?“ – „Warum bin ich so?“ – „Warum fühle ich mich so?“ – „Warum passiert mir das?“ … Es bleibt ein quälendes Grübeln, letztendlich ohne befriedigende und befreiende Antwort. Denn ich darf ja nicht wissen… Mit meinen Suchen nach Antworten und Lösungen stoße ich immer wieder auf meine Schutzmauer. Ich komme nicht weiter.

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Und nun?

Ich brauche Hilfe. Ich brauche ein Gegenüber. Einen Menschen, der einen Blick von außen auf mich wirft, der nicht in meiner Dissoziation und Spaltung feststeckt und darin verstrickt ist, der meine Dissoziation und Spaltung als Traumafolge erkennen und benennen kann.

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Dieser Blick von außen, diese Position außerhalb ist wesentliches Element einer Hilfe. Sie eröffnet einen neuen Blick auf Spaltungen und auf entsprechende unbewusste Traumalandschaften. Eben deswegen, weil sie sich eine derartige Hilfe außerhalb der undurchsichtigen Dissoziationsnebel befindet. Sie kann sich hineinbewegen und wieder hinausbewegen.

Eine Hilfe, die sich ausschließlich außerhalb oder innerhalb der Dissoziation und Spaltung befindet, ist daher wenig hilfreich.

Auf diese Weise lernen traumatisierte Menschen eine bisher ungeahnte Position kennen: Es gibt mich selbst jenseits meiner Spaltungen und Dissoziation! In meinen gesunden Anteilen kann ich meine Überlebensanteile und ihre traumatisierten Anteile sehen und als solche erkennen.

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Ein Beispiel für eine derartige Hilfe ist die Anliegen-Methode, eine von Franz Ruppert entwickelte besondere Art von Aufstellungen:

Menschen kommen mit ihrem Anliegen – einer Frage, einem Satz – für das sie selbst, aus sich heraus keine Antwort, keine Lösung, keine praktische Umsetzung finden. Dieses Anliegen wird in seinen einzelnen Elementen mittels Menschen repräsentiert. Sie können qua ihres Menschseins in Resonanz gehen mit den entsprechenden Anteilen und Zuständen des Hilfesuchenden, die sich in seinem Anliegen ausdrücken. So drücken Resonanzgeber in Aufstellungen mitunter erstaunlich klar die Realität aus, die bisher aufgrund der beschriebenen Überlebensmechanismen Spaltung und Dissoziation nicht bewusst sind und gewusst werden durften. Das ist möglich, weil die Resonanzgeber in die Dissoziationsnebel hineingehen können und wieder herausgehen können. Sie unterliegen nicht dem überlebensnotwendigen Schutzgebot.

Mit diesem für mich immer wieder erstaunlichen Trick können die Schutzmauern überwunden werden und Dissoziationsnebel gelichtet werden.

Und doch hat dieses gewaltsame Überwinden der Schutzmauern seine Tücken. Ich verwende absichtlich diesen Begriff, weil es sich hierbei nicht um einen natürlichen, gewachsenen, sondern einen von außen herbeigeführten Erinnerungsprozess handelt: Ohne Eingriff von außen bliebe der erlebte Schrecken in der Abspaltung.

Klaus ist ein 61 jähriger Mann, der seit längerer Zeit regelmäßig in größeren Abständen zu meinen Seminaren kommt. In seinen ersten Aufstellungen fragte Klaus „Was ist mit mir los?“. Dabei zeigte sich deutlich, dass ihm in seiner Kindheit, ungefähr im Kindergartenalter, etwas Schlimmes, etwas Gewaltsames passiert ist. Obwohl er ja mit der Frage „Was ist mir los?“ gekommen ist, fiel es ihm sichtlich schwer, zu akzeptieren, dass tatsächlich etwas mit ihm los ist.

Nach einem sehr schwerwiegenden Skiunfall, dessen Unfallhergang sich niemand erklären konnte, kam Klaus zu einem Seminar mit dem Anliegen „Was ist mir passiert?“.

Seine Frage implizierte, dass etwas passiert ist. Und so zeigte sich auch erschreckend klar und eindeutig, dass Klaus in seiner Kindheit ein Gewalterlebnis hatte; welche Art von Gewalt ihm widerfahren ist und durch wem, blieb hingegen noch unklar. Klaus weinte bitterlich und begann vor lauter Angst am ganzen Körper zu zittern. Nachdem Klaus alle Resonanzgeber wieder entlassen hatte, meinte er:  „Ja, das wird schon so gewesen sein. Ja, so muss es gewesen sein.“ Es schien, als hätte Klaus tatsächlich erkannt, dass er eine Gewaltsituation erfahren hatte, die er mit seinem Skiunfall reinszenierte. Ich freute mich sehr für ihn. Leider täuschte ich mich.

Einige Monate später kam er wieder mit dem Anliegen „Was ist mir passiert?“ in ein Seminar. Er wusste nichts mehr von seiner letzten Arbeit, insbesondere nichts von dem Ergebnis. Der Prozess der Aufstellung verlief wieder ähnlich: Sehr klar und schlüssig zeigte sich ein Gewalterlebnis, womöglich sexuelle Gewalt. Klaus brach unter seinen Tränen zusammen. Danach beendete er die Aufstellung mit den Worten: „Ja, so wird es wohl, so muss es wohl gewesen sein.“

Doch auch dieses Ergebnis blieb nicht im Bewusstsein. Als ich ihn wieder nach einigen Monaten während seiner Aufstellung frage, was ihm eigentlich passiert ist, meint er: „Nichts. Ich weiß nicht, was mir passiert ist, ob mir überhaupt etwas passiert ist. Aber, wenn Du mich so direkt fragst, wird schon was gewesen sein.“

Seine Worte erschüttern mich. Es sind nicht nur die insgesamt 6 Aufstellungen, die jeweils sehr klar und immer sehr ähnlich ein konkretes sexuelles Gewalttrauma zeigten, sondern vor allem auch mehrere Fakten, an die sich Klaus erinnern kann, die das Aufstellungsgeschehen stützen. Und dennoch verschwindet nach den Aufstellungen jede Erkenntnis wieder in der Dissoziation, spaltet Klaus seine Traumaerinnerung immer wieder ab.

Dieser Trick mithilfe von Resonanzgebern die Schutzmauern zu überwinden, führt immer wieder zu tatsächlich stimmigen Ergebnissen, die jedoch nicht selten nicht im Bewusstsein bleiben, sondern wieder dissoziiert werden müssen. Wenn ich mit meinem Anliegen wirklich abgespaltene Traumalandschaften betrete, dann betrete ich immer auch ein lebensgefährliches Terrain. Was dazu führt, dass ich mich wieder mit meinen verschiedenen Überlebensmechanismen schützen muss.

Das bedeutet: Eine Hilfe die tatsächlich Hilfe ist, bewegt sich zwangsläufig immer auf einem schmalen Grat zwischen Wissen-wollen / Wissen-können und Nicht-Wissen-wollen / Nicht-Wissen-können.

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Diese immer wieder Verschwinden von sicher geglaubten Erkenntnissen in der Versenkung von Dissoziation und Spaltung ist (leider) nicht das einzige Problem der Hilfe nach einem Trauma und während der Traumatisierung.

Eine weitere Folge von erlebter traumatischer Gewalt ist die Täter-Opfer-Dynamik:

Die Unterwerfung unter die Hilfe

 Einer der wesentlichsten Aspekte eines Gewalt-Traumas und der daraus folgenden Täter-Opfer-Dynamik ist die Unterwerfung des Opfers unter den Täter.

Werden Menschen angegriffen, so werden zwei Systeme aktiviert: das Verteidigungssystem und/oder ihr Bindungssystem. Beide verfolgen das gleiche Ziel, das Leben zu schützen, aber mit gänzlich unterschiedlichen Strategien:

  • Reagiere ich mit meinem Verteidigungssystem, dann schütze ich mich bedingungslos. Ich stoße den Angreifer weg, schlage auf ihn ein, schreie ihn an, werfe Gegenstände auf ihn… . Ich tu alles, dass er von mir ab lässt. Ob ich dabei im Recht bin, ob meine Mittel verhältnismäßig sind, ob ich dem Angreifer weh tue, … das ist in diesem Moment zweitrangig.
  • Reagiere ich hingegen mit meinem Bindungssystem, dann schütze ich die Bindungsperson bedingungslos. Denn sie allein ist es, die mich schützen kann. Selbst, wenn die Bindungsperson identisch mit dem Angreifer ist – demnach meine Lebensgefahr – ist sie die Person, die mich schützen kann
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Wenn derjenige Mensch, der mein Leben bedroht, der einzige ist, der mein Leben retten kann, der mir helfen kann, dann hat das weitreichende Auswirkungen für mein Leben.

Ich muss mir diesen Menschen gewogen machen, der mir entsetzlich weh tut, vor dem ich mich zu Tode fürchte, der mich zutiefst beschämt und demütigt. Ich muss mich, mein Bedürfnis mich zu schützen, in diesem Moment aufgeben, mich der Gewalt unterwerfen.

Es kann sein,

  • dass ich der Gewalt zustimme, weil ich sie verdient habe („Du hast recht, ich muss bestraft werden, weil ich einen Fehler gemacht habe, weil ich böse, schlimm, ungezogen bin.“)
  • dass ich verspreche, alles wieder gutzumachen und den Angreifer nie wieder dazu zwinge, mich bestrafen zu müssen (Bitte, bitte, bitte, ich bin ab jetzt ganz brav, ich bin ganz lieb zu Dir, …),
  • dass ich so froh und dankbar bin, dass er/sie aufgehört hat, dass ich am Leben geblieben bin,
  • dass ich aufgebe, mich ergebe, mich totstelle. („Ich bin schon tot. Du musst nicht mehr schlagen, ich werde nie wieder …)

Das ist ein Widerspruch mit einer extremen Sprengkraft für unsere Psyche: Ich bin dem Menschen, der mich zu vernichten drohte, zutiefst dankbar, dass er mir hilft, dass er mich rettet. Ich muss meine Wahrnehmung –  meine Enttäuschung, meine Empörung und meine Wut, dass dieser Mensch mir das antut, gänzlich aus meinem Bewusstsein abspalten. Stattdessen übernehme ich sämtliche Ansichten des Täters. Ich entledige mich meiner eigenen Kleider und schlüpfe in seine Kleider.

Menschen, die (sehr früh) in ihrem Leben erfahren haben, dass sie nur und ausschließlich über ihre Bindungspersonen – Mama, Papa, Erzieherinnen, Lehrer, Partner, Vorgesetzte, Freunde … – etwas für sich erreichen und gewinnen können, und sich schützen und verteidigen können, entwickeln ein sehr feines Gespür für Menschen, die ihnen wichtig sind; wichtig, weil sie von ihnen verlassen werden könnten, weil sie von ihnen negativ beurteilt werden könnten, weil sie von ihnen ausgelacht werden könnten, weil sie von ihnen ausgegrenzt werden könnten, weil sie von ihnen nicht mehr gemocht und geliebt werden könnten, … Um sich vor diesen schlimmen Erfahrungen zu schützen, versuchen sie, den tatsächlichen oder aber auch angenommenen Wünschen und Vorstellungen, den Ansichten und Meinungen dieser wichtigen –  und damit auch „mächtigen“ Personen – zu entsprechen, wenn möglich schon im Voraus, sozusagen im vorauseilenden Gehorsam.

Denn mit sich selbst, mit ihren eigenen Kleidern, ist keine Auseinandersetzung, kein Kampf, kein Streit zu führen, und kein „Blumentopf“ zu gewinnen.

Dies ist weniger ein bewusst gesteuerter Vorgang, sondern eher ein automatisiertes Verhalten wichtigen und mächtigeren Menschen gegenüber. Insofern stellt sich mir die Frage: Wann ist mein „Ja“ und mein „Nein“ Ausdruck meines Willen? Oder ist es nicht der tatsächliche oder angenommene Wille meines Gegenübers?

Diese Frage stellt sich mir zusehends in vielen Bereichen unseres Lebens – in der Partnerschaft ebenso wie in der Schule…

…und insbesondere auch im Bereich der ‚Hilfe‘.

In dem bisher Geschriebenen versuche ich, die vielschichtige und mehrfache Bedeutung der ‚Hilfe‘ im Kontext von Trauma und Traumatisierung zu erfassen und darzustellen. ‚Hilfe‘ ist für traumatisierte Menschen sehr, sehr wichtig. Mittels ‚Hilfe‘ erhoffen sich Menschen endlich ein Leben jenseits von Leid und Schmerz, jenseits von Symptomen, Krankheiten und Spaltungen. Insofern ist Hilfe – die Menschen, die helfen, und die Methoden, mit denen geholfen wird, sehr wichtig und mächtig. Ich alleine kann mir ja nicht helfen. Ich brauche jemand Kompetenteren, Sachverständigeren, Klügeren, der mir mit meinen nicht auszuhaltenden Lebenserfahrungen hilft.

Bruno, ein 63 jähriger kommt in Seminar mit dem Anliegen: „Was sagen mir meine Schlafprobleme?“. Der Prozess der Aufstellung ist sehr klar: Der kleine Bruno fürchtet sich jede Nacht, dass sein betrunkener Vater nach Hause kommt und in sein Zimmer geht. Dort geschieht etwas, was Bruno auf keinen Fall möchte. Die beteiligten Resonanzgeber sind sich sehr sicher, dass Bruno von seinem Vater sexuelle Gewalt erlitten hat und deswegen bis heute nicht schlafen kann in der Nacht. Ich bin überrascht, über die Vehemenz ihrer Aussagen. Auf meine Frage hin, ob das Geschehen für Bruno stimmig sei, meint Bruno ohne zu zögern: „Ja, sehr stimmig. Sehr sogar. Genauso ist es gewesen.“  Ich frage ihn, ob er sich schon einmal mit der Thematik ‚sexuelle Gewalt‘ beschäftigt hat. „Nein, noch nie. Das höre ich zum ersten Mal, zum ersten Mal bezogen auf mich.“ Danach beendet Bruno seine Aufstellung. Die Gruppe ist sehr bewegt über diese klare Arbeit. Einzelne Beobachter teilen ihre Gedanken und Empfindungen noch mit, wie sehr für sie dieser Arbeit und das Ergebnis schlüssig sei.

Nach einigen Wochen kommt Bruno in eine Einzelstunde, um über seine Aufstellung zu sprechen: „Es stimmt nicht für mich, ich habe mich nicht um mich gefürchtet, sondern ich habe mich gefürchtet, dass er zu meiner Mutter ins Schlafzimmer geht, um Sex zu haben. Wenn sie dann nicht wollte, dann wird er sie wieder so furchtbar schlagen.“ Ich frage ihn, warum er auf meine Frage während der Aufstellung mit „Ja“ antwortete. „Ich hab mich nicht getraut, alle im Raum wussten irgendwie Bescheid. Und mir kam die Idee mit meiner Mutter ganz plötzlich, und da war sie wieder da meine furchtbare Angst der Kindheit. Außerdem weiß ich ja, dass die Methode so stimmig ist. Irgendwie wollte ich in dem Moment, dass es stimmt. Vielleicht wollte ich kein Spielverderber sein.“

Brunos „Ja“ zu etwas, was für ihn nicht stimmt, ist nicht überraschend: Bruno ist wirklich begeistert von den Aufstellungen und den Resonanzphänomenen. Er erhofft sich über seine Spaltungen hinauszukommen – einen Blick in die schrecklichen Nächte in seinem Kinderzimmer, voller Angst – zu werfen. Methode und ich als Leitung, die Gruppe und die Resonanzgeber sind sehr wichtig für Bruno – er erhofft sich wirklich Hilfe für seine schlaflosen Nächte. Er kennt sich ja nicht aus. In dem Moment, wo die Resonanzgeber, die Beobachter im Kreis, und ich vermeintlich wussten, warum Bruno in der Nacht nicht schlafen konnte, zog sich Bruno unser Gewand an – unterwarf sich sozusagen unter unsere Wahrnehmungen, und verließ seine eigene Wahrnehmung. Wie damals in der Kindheit, als er seine Mutter immer wieder darauf ansprach, und sie zu ihm meinte, dass das nicht stimmt, dass alles in Ordnung wäre, dass er nur schlecht geträumt hätte.

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Es ist nicht einfach, für die Hilfe, Hilfe zu sein. Und so erinnere ich mich an meine Diplomarbeit über AD(H)S und Trauma, in der ich Aufstellungen wörtlich transkribierte. Es war eine noch eine andere Art der Aufstellung… Da gab es eine Stellvertreterrolle, die hieß: „eine Hilfe für die Hilfe, dass sie Hilfe sein kann.“

Nein, es ist nicht immer einfach mit der Hilfe im Traumakontext und doch ist sie unablässig.

 

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