ICH und das überlebte Leben

Ich war wandern. Stundenlang den Grenzkamm entlang, vorbei an so vielen toten Fichtenstämmen. Es sind die Reste eines dichten Waldes, der sich schier unendlich über die Berghänge entlang zog. Wald, nichts als Wald.  Doch er hatte keinen Bestand. Diese viel zu dicht aufeinander gepflanzte Monokultur fiel dem Borkenkäfer und nachfolgenden Stürmen zum Opfer.

Übrig blieben ganze Berghänge voller Totholz.

Die Erinnerung an unendliche Bergwälder schmerzt mich jedes Mal wieder. Sie schienen mir so unergründlich tief, so standhaft. Eine trügerische Illusion.

Es ist ein Schmerz, der mich während des Gehens an Nina erinnert.

Nina ist eine 58 jährige Frau, deren Leben völlig in Ordnung zu sein scheint. Erfolgreich. Selbstbestimmt. Selbstständig. Eine Geschäftsfrau, die mich vor ein paar Jahren wegen einer Frage bezüglich ihrer weiteren beruflichen Karriere kontaktierte: Soll sie weiterhin  – wie in ihrem Metier üblich – mit diversen Partnern zusammenarbeiten? Oder soll sie gänzlich unabhängig ihre Produkte verkaufen?

Nach dem sie mir von ihrem bisherigen beruflichen und privaten Leben erzählte, wollte sie mithilfe einer Aufstellung für sich eine Antwort finden. Währenddessen beschlich mich eine tiefe Traurigkeit, die ich nicht zuordnen konnte: Sie passte weder zu ihrem Gesagten, noch zur folgenden Aufstellung. Ich fragte sie nach meinem Gefühl der Traurigkeit im Kontakt mit ihr. Sie schüttelte nur den Kopf und sagte nichts dazu.

Als Nina zwei Wochen später zu einem Aufstellungsseminar kam, um mit Menschen in der Gruppe ihr berufliches Anliegen aufzustellen, tauchte diese bodenlose Traurigkeit wieder auf in mir. Und wieder zeigte sich nichts in ihrer Aufstellung – weder bei ihr selbst, noch bei den diversen Stellvertreterinnen. Im Gegenteil: Nina fuhr sichtlich zufrieden und zuversichtlich nach Hause mit einer Idee: Sie will zukünftig beruflich Neuland beschreiten.

In der Folgezeit hatte ich mit Nina ein paar Mal telefonischen Kontakt bezüglich ihrer konkreten praktischen Umsetzung der Aufstellungsergebnisse. Alles schien in bester Ordnung zu sein, wenn da nicht dieses beständiges Gefühl der Traurigkeit gewesen wäre, immer dann, wenn ich mit Nina in Kontakt war. Warum empfinde ich Traurigkeit, wenn sich doch in Ninas Aufstellungen nichts davon zeigt?

Ich beschäftigte mich immer wieder mit Nina und diesem Traurigkeitsgefühl: Etwas stimmte da nicht. Ganz und gar nicht. Wo ist dieser traurige Nina-Anteil? Warum zeigt er sich nie? Und: Was ist überhaupt derart traurig? Was ist das für ein Schmerz, den ich wahrnehme?

Nach zwei Jahren kam Nina erneut in eine Einzelstunde. Ihr Geschäft lief immer schlechter. Einige Kunden zahlten Rechnungen nicht und so mancher Geschäftspartner zog sie über den Tisch. Sie musste zusehends von ihren Ersparnissen leben. Sie wusste nicht mehr ein noch aus. Als sich dann noch ihr Ehemann wegen einer anderen Frau von ihr trennte, brach sie psychisch und körperlich zusammen:

„Was soll ich denn noch alles machen? Ich verstehe das nicht, ich habe die ganzen Themen der Familienseele doch schon bearbeitet. Nicht nur bei Dir, sondern schon zuvor immer wieder bearbeitet. Ich beschäftige mich mit dem Systemischen und mit mir seit ich 23 bin. Damit bin ich durch. Da bin ich auch richtig tief eingestiegen. Ich bin da wirklich fertig mit.“

„Hm. Offenbar nicht.“

„Nein, offenbar nicht.“, meint Nina ratlos zu mir.

„Nina, was ist Dir passiert? Was ist der kleinen Nina passiert?“

„Also, mir?! Mir ist – . Also meiner Mutter ist als Kind…“ Nina beginnt, ausführlich  von den traumatischen Lebenserfahrungen ihrer Mutter, ihres Vaters, ihres älteren Bruders und ihrer Großeltern zu erzählen.

„Nein, nein. Ich meinte, was ist Dir passiert? Warum bist Du so traurig?“

Für mich völlig unerwartet beginnt Nina zu weinen: „Ich weiß es nicht. Mir ist eigentlich so nichts passiert.“

Ich schlage ihr vor, das zu malen, was sie so bitterlich weinen ließ. Wortlos malt Nina das Körperschema eines kleinen Kindes und danach mit schwarzer Farbe mit unglaublicher Brutalität die Zerstörung dieses kleinen Kinderkörpers bis der schwarze Stift eingedrückt ist. „Jetzt ist er kaputt.“, meint Nina mit abwechselnden Blick auf das, was sie soeben auf dem Papier ausgedrückt hat, und auf den kaputten Stift.

Ich bin erstaunt über diese Klarheit ihres Bildes und zugleich zutiefst erschüttert: „Nina, was hast Du da gemalt?“

„Die Zerstörung eines Kindes. Meine Zerstörung als Kind. Meine körperliche Zerstörung.“

„Was meinst Du mit Zerstörung? Was machen die vielen schwarzen Striche mit dem Körper der kleinen Nina?“

Nina findet in dem folgenden Prozess ihre eigenen Wörter für ihr Gemaltes:

Es gelang ihr tatsächlich sich zu erinnern, wie sie mit sieben Jahren in den Sommerferien zwei oder dreimal von einem entfernten Verwandten vergewaltigt wurde. Sie blieb allein mit den körperlichen Verletzungen. Niemand half ihr. Ihre Eltern und die anderen Erwachsenen ahnten und konnten oder wollten doch nichts ahnen. Sie wussten und konnten oder wollten doch nichts wissen. Sie blieb allein.

„Wie hast Du das alleine geschafft? Wie ging das mit Deinem verletzten Unterleib?“

„Ich weiß nicht. Ich spüre: Ich bin dann aus meinen Körper gegangen. Ich bin da einfach raus gegangen. Ich spüre den Moment ganz deutlich: Ich bin raus aus dem Körper. Seitdem bin ich weg.“

„Wo bist Du denn? Wo ist die Nina, die diese Vergewaltigungen erleben musste?“

„Ich weiß es nicht. Einfach weg. Der Körper, also die Hülle, die blieb zurück. Die hat dann weitergelebt. Irgendwie. Bis heute.“

„Hast Du von diesen Vergewaltigungen geahnt oder gewusst? Oder bist Du völlig überrascht von Deinem Bild?“

Nina schaut lange auf ihr gemaltes Bild und den kaputten schwarzen Stift. Sie beginnt leise zu weinen: „Nein, davon wusste ich nichts. Das war weg. Einfach weg.“

Ich frage sie, wie es ihr jetzt nach diesem Einzeltermin mit ihrer unerwarteten Erinnerung an diese Vergewaltigungen geht.

„Ich bin geschockt und zugleich bin ich froh, dass ich jetzt weiß. Es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Jetzt ist es gut.“

 

 

Während meiner Wanderung sah ich so viele dieser Baumskelette. Einige berührte ich mit meinen Händen, an einige klopfte ich. Sie klingen ganz hohl. Sie sind auch innen ganz hohl. Sie haben keine Substanz mehr. Da ist nichts mehr. Ich könnte sie ganz leicht umwerfen, sind sie doch nur noch eine hölzerne Hülle, die mit der Zeit immer morscher und dadurch brüchiger wird. Bis sie irgendwann zusammenbrechen und in sich zusammenfallen.

 

 

Mir fallen die ersten beiden Arbeiten mit Nina ein, während denen ich eine so tiefe Traurigkeit spürte. Wenn ich Nina bei ihrem eigenen Wort nehme, sie ernst nehme, dann kam eine leere körperliche Hülle zu mir. Es ist diese leere Hülle, die ihr berufliches Anliegen aufstellt. Die eigentliche Nina – die, die diesen Schrecken erlitten hatte – die war Nina nicht mehr zugänglich. Deswegen zeigte sie sich nicht einmal in den Aufstellungen. Es waren ihre Überlebensanteile, die Nina gänzlich vor dem Schrecken, vor den Schmerzen der traumatisierten Anteile schützten.

Wenn nicht diese Traurigkeit, dieser Schmerz gewesen wäre… . Dann wäre nichts von ihrem erlebten Schrecken fühlbar und spürbar gewesen. Nichts für Nina selber und nichts für mich. Dann hätte ich diese durchaus smarte Hülle mit Nina verwechselt. Das wäre schlimm gewesen. Denn dann wäre es so gewesen wie damals, als diese zerstörerische Gewalt nicht passiert sein konnte und nicht passiert sein sollte. Dann wäre die verletzte kleine Nina ein weiteres Mal vernichtet.

In den folgenden Monaten erinnerte sich Nina immer genauer an diese Sommerferien, immer mehr Details der Vergewaltigungen tauchten in Träumen und in Bildern auf. Zudem fielen ihr sehr viele nachfolgende Geschehnisse ein, die mit Wissen um die erlittene Gewalt eine neue Bedeutung bekamen. Wie zum Beispiel ein Schulaufsatz, den Nina in der dritten Klasse über ihre schönsten Sommerferien schreiben sollte. Darunter durfte sie auch ein Bild malen.

„Weißt Du, ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich da geschrieben und gemalt habe, nur dass danach meine Mutter zu meiner Lehrerin kommen musste. Darüber wurde nie mehr gesprochen. Meine Mutter sagte nichts dazu. Ich hab mich immer wieder mal gefragt, warum. Jetzt kann ich mir schon vorstellen, warum.“

Diese kleine verletzte Nina, welche die erwachsene Nina ein halbes Jahrhundert später derart zerstört auf Papier sichtbar werden ließ, fügte sich auf diese Weise immer mehr in Ninas erlebte Wirklichkeit ein:

„Weißt Du, das ist für mich auf eine bestimmte Weise sehr schön. Es stärkt mich. Es bestärkt mich. Das klingt vielleicht komisch für Dich, so schlimm es ist, so gut fühlt sich das jetzt, heute für mich an.“

Es war und ist nicht die kleine traumatisierte Nina, die der großen erwachsenen Nina Probleme bereitet, wie sie eigentlich erwartet hätte. Im Gegenteil. Nein, es ist diese leere Körperhülle, die Nina jetzt an ihre Grenzen bringt: Diese überlebte die Vergewaltigungen. Sie lebte danach weiter – verlassen, im Stich gelassen, alleine.

Es sind ihre Überlebensanteile, die seit damals mit dem Nichauszuhaltenden täglich umgehen. Es sind ihre Überlebensanteile, welche die kleine traumatisierte Nina täglich bekämpfen und ständig aufpassen, dass sie ja nicht ins Bewusstsein kommt, dass ja nichts sichtbar wird. Es sind die Überlebensanteile, die ein ganzes Leben lang versuchen, den längst geschehenen Schrecken zu verhindern und ungeschehen zu machen. Es sind die Überlebensanteile, die sie bedingungslos vor dem schützen, was längst passiert ist.

Es ist dieses bewusste Wissen um ein überlebtes Leben, das derart schmerzhaft ist für Nina und für andere Menschen.  Ein Wissen um das, was ich mir selber mein Leben lang antue, um nicht wissen, spüren und fühlen zu müssen, was ich längst schon erlebt habe.

Überlebensanteile sind einzig ausgerichtet auf die Vergangenheit. Sie binden (fast) die gesamte Lebensenergie. Diese schreckliche Vergangenheit wird ganz ausgelöscht und verleugnet und sie ist doch nicht weg. Nie wieder darf so etwas passieren. Lege ich jedoch den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit, um dadurch in Zukunft in Sicherheit zu sein – die Zukunft im Voraus zu kontrollieren – dann verliere ich meine Gegenwart ganz aus meinen Augen. Das ist mitunter eine bittere Erkenntnis. Denn: Die Gegenwart ist die einzige Zeit, die ich tatsächlich aktiv mit meinem Willen gestalten kann. Ein Leben im Überlebensmodus ist so betrachtet ein ungelebtes Leben. Norbert, ein langjähriger Klient, meinte neulich zu mir:

„Ich weiß nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen nicht zu wissen. Da bliebe mir wenigstens die Illusion von einem tatsächlich gelebten Leben. So stehe ich da, mit einer wirklich bitteren Erkenntnis, 73 Jahre nicht gelebt zu haben. Wie viele Jahre bleiben mir denn noch?“

Ja, das stimmt. Das ist tatsächlich bitter. In vielerlei Hinsicht. Ich kann Norbert nicht widersprechen.

Und nun? Was sollen Nina und Norbert tun? Was kann ich tun angesichts dieses überlebten Lebens?

Die toten Bäume bleiben einfach stehen. Bis sie aufgrund ihres inneren Verfalls umfallen oder vom Wind umgerissen werden. Sie bleiben einfach liegen und vertrocknen, vermodern, verfaulen. Sie wandeln sich zu Moder und Mulm.

Überlebensanteile sollen einfach so sein können, wie sie tatsächlich sind.

Einfach? Nein, einfach ist das sicher nicht.

Denn klar zu erkennen, wie lange ich schon nicht lebe, sondern mein Trauma überlebe, und zu welchem Preis, ist sehr schmerzhaft. Und doch: Wenn es mir gelingt, ohne dass ich gegen diese Erkenntnis ankämpfe, ohne dass ich meine Überlebensanteile bekämpfe oder sie beiseite schaffe, ohne dass ich mich dafür selbst anklage oder schäme, meine Trauer zu fühlen und meinen Schmerz zu spüren…

… dann können sich meine Überlebensanteile selbst überleben.

Wenn ich mich in meiner Gegenwart, im Moment, jetzt geschützt und sicher fühle, mich angenommen und geliebt fühle, dann kann ich über meine Überlebensanteile hinauswachsen.

Und am Ende bleibt nichts mehr vom Totholz übrig. Außer, dass sie zum Nährboden für all das Grün, das tatsächlich nach wächst. Das Totholz, das allen Widerständen zum Trotz stehen und liegen bleiben durfte, ist die Voraussetzung für das Wachsen eines gesunden Waldes am Grenzkamm. Eines Waldes, von dem niemand wissen konnte und bis heute nicht genau weiß, wie er tatsächlich einmal  ausschauen wird. Ich bin gespannt, wie es sein wird in 5 oder 10 Jahren da entlang zu wandern.

Genau so bin ich gespannt, wie sich Nina und Norbert, wie ich mich selber entwickeln werde, wenn ein Leben jenseits von Überleben beginnt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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