ICH und das weiße Schwarz

Seit einiger Zeit bin ich immer wieder mit einer Erfahrung in verschiedenen Prozessen von Selbstbegegnungen befasst, die mich sehr zum Nachdenken und Nachspüren brachte:

Es geht dabei um an sich positive Verhaltensweisen, die wirklich nur zu begrüßen sind – nämlich an sich zu arbeiten, sich mit den Erfahrungen der Vergangenheit auseinandersetzen, um die Gegenwart bewusst gestalten zu können, den eigenen Beitrag in Beziehungskonflikten zu sehen, versuchen sich und nicht den Partner oder die Partnerin ändern zu wollen, …

… aber gerade diese wünschenswerten Verhaltensweisen erlebe ich zuweilen als Falle:

Insbesondere dann, wenn sie gebraucht werden, um die Realität als solche nicht erkennen und nicht benennen zu müssen, um die Realität nicht bewerten und nicht dementsprechend darauf reagieren zu müssen.

So betrachtet kann ein mit sich Beschäftigen und ein an sich Arbeiten durchaus eine Falle sein; und in eben diese Falle versuchen mich Menschen in ihrer Not und Ver-zweiflung, immer wieder zu locken. Aber nicht nur mich: Was noch viel schwer-wiegender ist, sie stellen damit auch sich selbst, ihren Partnern und Partnerinnen, und ihren Kinder eine Falle. Die Falle schnappt oftmals zu, ohne dass es zunächst jemand bemerkt. Doch die Auswirkungen sind mitunter gravierend. Deswegen ist es notwendig beizeiten innezuhalten, um den Prozessen der Selbstbegegnungen nachzuspüren und über sie nachzudenken.

Wie in diesem folgenden, etwas längeren Blogartikel über eben diese Prozesse, in denen die Realität nicht Realität sein darf…

… in denen Schwarz nicht schwarz und Weiß nicht weiß sein darf. Zwei Farben, die an sich fast nicht zu verwechseln sind, weil sie maximal weit auseinander liegen, nicht nur in ihrer Symbolik und Metaphorik, aber auch. Unmittelbar nebeneinander betrachtet, ist ihr Kontrast am deutlichsten:

Und doch wird Schwarz mitunter zu weiß und Weiß zu schwarz.

Was bedeutet das? Wie kann das sein? Wie kann Schwarz weiß, und Weiß schwarz werden?

Darüber schreibe ich anhand zweier Fallbeispiele. Wie immer selbstverständlich anonymisiert und so verändert und typisiert, dass die vorkommenden Personen nicht mehr einer realen Personen zuzuordnen sind.

Theo, 45, und Lara, 39, leiden in ihren Beziehungen an ihren Beziehungen, ohne jedoch eine Trennung als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Sie sind beide hoch-motiviert und bereit an sich zu arbeiten, damit sich die Beziehung zu ihren Partnern und ihren Kindern verbessert.

Theo kommt regelmäßig immer wieder in Einzelsitzungen und Gruppenseminare, um an der Beziehung zu seiner Frau Charlotte arbeiten. Sie haben zwei Kinder, einen 9-jährigen Sohn und eine 12-jährige Tochter. In einer Einzelsitzung reflektieren wir die bisherigen Prozesse seiner Selbstbegegnungen, insbesondere hinsichtlich seines großen Anliegens, nämlich die Beziehung zu Charlotte zu verbessern, um ein bewusster und aktiver Ehemann und Vater sein zu können:

Doch trotz seiner vielen Selbstbegegnungen ist Theos Beziehung zu Frau und Kindern unvermindert schwierig: Charlotte entfernt sich immer weiter von Theo und zieht sich in sich zurück. Die beiden Kinder sind ständig wie ein Schutzwall um ihre Mutter herum.

„Ich bin wirklich verzweifelt: Die drei sind wie eine geschlossene Einheit. Da weiß ich gar nicht mehr, was ich da soll. Da gibt es keinen Platz für mich als Mann, als Partner und auch nicht als Vater.“

Ich bin verwundert und durchaus ratlos, denn: Mehr als sich seiner Geschichte stellen, sich mit seiner Vergangenheit befassen, mehr als ehrlich und intensiv sich selbst begegnen, kann Theo nicht machen, denke ich mir. Wenn sich offenbar so gar nichts an seiner Lebenssituation – an seinem Anliegen – verändert, dann stimmt etwas nicht oder dann ist etwas noch nicht geklärt oder verstanden.

„Wie fühlt sich diese Situation für Dich an?“

„Es ist zu eng. Ganz ungut. Ich habe seit geraumer Zeit ein ganz ungutes Gefühl. So als wäre ich ein Bösewicht, ein übler Schuft, vor dem sich meine Frau schützen muss. Und, was für mich noch fast schlimmer ist, vor dem auch meine Kinder sie schützen müssen! Es ist furchtbar! Ich bin der Feind im eigenen Haus!“

„Was bedeutet das für Dich, für Deine Frau und für beide Kinder der böse Feind zu sein? Wie gehst Du damit um?“

„Na, ich komm‘ hierher und bearbeite das. Also, ich formuliere Anliegen um Anliegen, dass ich das endgültig gelöst bekomm‘, was das mit mir zu tun hat. Das hat ja was mit meiner Ausstrahlung, mit meinen unbewussten Anteilen zu tun, mit dem, was ich bis heute nicht blicke!“

„Ist das so?“

Theo schaut mich sichtlich irritiert an und meint dann etwas verärgert:

„Ja, sicher! Was sonst?! Das fragst Du mich?! Solange ich meine Vergangenheit nicht wirklich bearbeitet habe, solange reinszeniere ich diese in meiner Beziehung! Das ist doch klar: Sie sehen alle in mir meinen Vater! Da hab‘ ich doch noch etwas in mir nicht gelöst!“

Theo ist das einzige Kind seiner Eltern. Er ist kein Wunschkind. Im Gegenteil: Seine Eltern mussten wegen ihm heiraten, obwohl sie sich überhaupt nicht liebten. Theo entstand nach einem Faschingsball im Morgengrauen im Auto – beide waren dabei ziemlich betrunken. Die Ehe war für Theo und für seine Eltern die Hölle und ist es bis heute:

Der Vater ist bis heute frustriert über die Ehe und Vaterschaft, die er zu keinem Zeitpunkt wollte und zu der er sich aber gezwungen fühlt. Er ist gegenüber seiner Frau und Theo immer wieder verbal ausfällig und beschimpft beide auf das Übelste. War er betrunken, so verprügelte er seinen Sohn und seine Ehefrau immer wieder. Die Gewalt hörte nur in den Zeiten auf, in denen Theos Vater eine Geliebte hatte und dadurch weniger häufig zuhause war. (Wenigstens die körperliche Gewalt schwindet mit den körperlichen Kräften im Alter.)

Theos Mutter hingegen zeigt bis heute sehr viel Verständnis für ihren Ehemann und seinen unerträglichen Gewaltausbrüche: Sie fühlt sich bis heute schuldig an der ganzen Misere (mit Misere meint sie ihre Ehe mitsamt ihrem Sohn Theo), weil sie ja im Fasching offenbar die Pille nicht richtig eingenommen hatte. Sie hatte zu Theos Vater noch gesagt, sie bräuchten nicht aufzupassen, sie nähme ja die Pille, es könnte nichts passieren…

Eine Trennung und Scheidung kommt bis heute weder für Vater noch für Mutter in Frage: Der Vater sieht sich aufgrund seiner sehr streng katholischen Erziehung außerstande, eine Scheidung seinen längst verstorbenen Eltern anzutun, denn sie würden sich noch im Grabe umdrehen. Die Mutter muss die Suppe, die sie sich eingebrockt hat, bis heute immer wieder auslöffeln. Sie muss B sagen, weil sie ja schließlich auch A sagte.

Theo selbst dachte als Kind immer und immer wieder darüber nach, wie er es schaffen könnte, dass die Ehe seiner Eltern doch endlich besser werden würde, dass Vater und Mutter nicht so leiden müssten. Wie er denn seine Schuld, seinen Fehler wieder gutmachen könnte. Bis heute sieht er in seiner bloßen Existenz den Anfang des elterlichen Lebens in der Hölle und damit auch der Anfang seines eigenen Lebens in der Hölle. Manchmal ertappt er sich dabei, immer noch in der Eheberaterrolle fest zu stecken.

„Bist Du tatsächlich wie Dein Vater? Verhältst Du Dich tatsächlich so wie Dein Vater? Gehst Du fremd? Schlägst Du Charlotte und Deine beiden Kinder? Bist Du ihnen gegenüber verbal aggressiv, verachtend und herabwürdigend?“

Theo erschrickt und zuckt zusammen. Nach einigen Momenten der Stille schaut mich Theo an und meint kopfschüttelnd:

„Nein. Ich hab‘ mich ja meiner Biographie gestellt, hab‘ vorsorglich ein Anti-Aggressionstraining gemacht, war bei der Suchtprävention, obwohl ich noch nie einen Tropfen Alkohol oder andere Drogen ausprobiert habe, war in vielen Erziehungskursen, habe – ich weiß nicht, wie viele Aufstellungen gemacht, damit ich eben anders als mein Vater mit meinen Emotionen umgehe. Wenn ich gewalttätig werden würde, dann würde ich sofort ausziehen.“

„Wenn dem so ist, was ich nicht bezweifle: Wie kann Dich dann Charlotte mit Deinem Vater verwechseln? Warum ist diese Annahme für Dich stimmig?“

„Das hab‘ ich doch schon gesagt: Ich hab‘ noch genügend blinde Flecken und Aspekte, die ich noch nicht genug oder noch gar nicht bearbeitet hab‘.“

„Wäre es für Dich denkbar, dass Du an der Situation mit Charlotte gar nichts ändern kannst? Dass es in der Biographie von Charlotte gründet, dass sie Dich als bösen Feind wahrnimmt? Dass sich nicht Du, sondern Charlotte selbst mit sich und dieser unsäglichen Verwechslung auseinandersetzen sollte?“

„Nein, nein. Ich muss das für mich, für uns, für meine Familie lösen. Charlotte macht ja bis jetzt nichts und wird auch nichts machen. Und überhaupt gibt es bei mir noch genug zu tun!“

Und so macht Theo die nächste Selbstbegegnung, um endlich von Charlotte als der gesehen zu werden, der er tatsächlich ist – nämlich Theo, ihr Ehemann und Vater ihrer Kinder. Doch es klappt nicht – wieder nicht. Der Prozess zeigt einmal mehr einen Aspekt, den Theo anscheinend in sich trägt, der zu der Verwechslung führt: Obwohl Theo noch keinen Tropfen Alkohol getrunken hat, fürchtet sich die Resonanzgeberin für Charlotte vor der bloßen Möglichkeit, dass Theo ja einmal Alkohol trinken könne. Und so versucht Theo in seiner Selbstbegegnung immer verzweifelter und immer intensiver, diese zu überzeugen, dass er dies noch nie getan hatte, nicht tut und auch nicht tun werde. Schlussendlich meint ‚Charlotte‘, er würde den Alkoholkonsum und die damit verbundene Gewalttätigkeit seines Vaters offenbar immer noch nicht richtig sehen und ernst nehmen, und daher könne sie auch kein Vertrauen in ihm haben und sehe deswegen immer seinen Vater in ihm, weswegen sie sich schützen müsse vor ihm. Das würden auch die beiden Kinder spüren und müssten sie deswegen vor ihm schützen. Der Resonanzgeber für Theos ‚Ich‘ steht den gesamten Prozess über hinter ‚Charlotte‘, um ihr den Rücken zu stärken. ‚Ich‘ redet ebenfalls vehement auf Theo ein, versucht ihm zu erklären, sie müssten da unbedingt noch mehr klären und noch mehr hinschauen.

Theo beendet seine Selbstbegegnung, bedankt sich bei den Resonanzgebern und Resonanzgeberinnen für deren wichtige Hinweise und meint zu mir:

„Naja, ich dachte das hätte ich schon genug gemacht. Aber gut, so weiß ich wenigstens, was ich noch zu tun habe. Das ist ja schon mal was!“

Nein. Theo kann das nicht alleine lösen. So sehr er sich auch bemüht, so viele Anliegen er auch formuliert und so viele Selbstbegegnungen er auch noch macht. Es liegt nicht an ihm.

Theos Eltern tun sich selbst massive Gewalt an, indem sie heirateten und diese nicht gewollte und verhasste Ehe bis heute zwanghaft weiterführen.

Sein Vater ist gegenüber seiner Ehefrau und seinem Sohn wiederholt emotional und körperlich gewalttätig. Er rettet sich zu anderen Frauen und kehrt aber doch wieder zurück.

Seine Mutter schützt weder sich selbst noch ihren Sohn vor dieser Gewalt. Sie zeigt bis heute Verständnis und übt Buße für ihren großen Fehler, indem sie sich eine Trennung verbietet.

Theo ist als Kind gänzlich ohnmächtig und hilflos dieser Ohnmacht und Gewalt, diesem Zwang zur Ehe seiner Eltern ausgeliefert. Er kann nichts machen. Er ist absolut darauf angewiesen, dass seine Eltern Verantwortung für sich selbst und für ihn als ihr Kind übernehmen: Beide hätten diese unerträgliche Beziehung längst beenden müssen; denn in dieser werden beide immer wieder zum Täter und zur Täterin an Theo, aber auch an sich selbst und an einander.

Aufgrund dieser existentiellen Abhängigkeit, ist es für Theo als Kind nicht möglich, die Realität als solche zu erkennen, zu bewerten und entsprechend zu handeln. Es ist zu schmerzhaft, zu lebensbedrohlich, zu hoffnungslos, als dass Theo diese Realität der Beziehung seiner Eltern gänzlich und dauerhaft erfassen könnte.

Schwarz darf nicht schwarz sein. Und deswegen ist Schwarz nicht mehr schwarz, sondern weiß. Nicht für seinen Vater, nicht für seine Mutter und schon gar nicht für ihren Sohn:

Es gibt eine Lösung:

Die Ehe ist zu retten. Er muss sie nur finden. Die Lösung liegt in ihm. Er ist ja die Ursache für die Misere:

Wenn er nur irgendwie anders wäre…

… lieber, braver, ruhiger, zugewandter, angepasster, …

dann hätten sich seine Eltern lieb und dann hätte die Gewalt ein Ende.

Alle leiden, weil er die Lösung noch nicht gefunden hat.

Schwarz muss weiß sein, weil so Theo diesen unerträglichen Schmerz der Ohnmacht und Hilflosigkeit nicht mehr wahrnehmen muss. Er ist nicht mehr ohnmächtig. Im Gegenteil:

Wenn er ja schuld an der ganzen Misere ist, dann braucht er ja nur das Richtige tun, sich noch mehr anstrengen, in seinen Selbstbegegnungen noch ehrlicher und konsequenter sein, dann…

… dann sähe Charlotte in ihm nicht mehr seinen Vater, dann könnte sie ihm vertrauen, dann würden seine Kinder die Mama nicht vor ihm schützen müssen, dann …

… dann könnte er die Beziehung zu Charlotte und den Kindern alleine retten, trotzdem Charlotte sich der Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Biographie gänzlich verweigert, weil sie ja an sich kein Problem hätte, ihr Problem sei Theo und seine unbearbeitete schreckliche Kindheit mit diesem Vater …

„Oh, ich glaube, ich ahne, was ich seit Jahren versuche: Ich schone Charlotte, wie ich meine Mutter und meinen Vater bis heute schone. Oh, je.“

Nach einigen Momenten der Stille:

„Aber eigentlich schütze ich mich ja vor dem Schmerz, vor den drohenden Konsequenzen, wenn Charlotte nichts macht, genauso nichts macht, wie Mutter und Vater – also wenn ich das tatsächlich als Realität akzeptiere… ja, was mach ich denn dann, wenn ich es in der Beziehung nicht mehr aushalte?“

Es ist nicht immer nur die Realität an sich, die wir Menschen nicht aushalten, sondern auch die Konsequenzen, die diese mit sich bringt: Wie im Beispiel von Theos Eltern, eine unerträgliche Beziehung voller Gewalt zu beenden, und wie im Beispiel von Theos Beziehung mit Charlotte, zu riskieren, dass es für ihn nicht mehr auszuhalten ist, diese Beziehung so weiterzuführen.

Für diesen Moment kann Schwarz schwarz sein: Es kann sein, dass Theo trotz all seiner Bemühungen seine Beziehung zu Charlotte nicht weiterführen kann, weil Charlotte die Mitarbeit verweigert…

… es kann aber auch sein, dass Theo seine Beziehung gerade deswegen weiterführen kann, weil Charlotte nun Verantwortung für ihren Anteil der Beziehung übernimmt, weil Theo nicht mehr zur Verfügung steht.

Ich bin gespannt: Denn es gibt Anlass zu Hoffnung auf wirkliche Veränderung…

… ganz anders in meinem zweiten Beispiel:

Anhand von ‚Lara‘ beschreibe ich die Dynamik eines Täterschutzprogramms, das für alle Beteiligten fürchterlich ist. Fürchterlich deswegen, weil es für niemanden einen Ausweg zulässt:

Nicht für das Kind als Gewaltopfer, nicht für den Vater als Gewalttäter, der als Kind selber Opfer von Gewalt war, nicht für die Mutter als Mit-Wisserin und dadurch Mit-Täterin, die als Kind ebenfalls Opfer von Gewalt war. Und nicht für mich, der ich der Realität und Wahrheit verpflichtet bin.

Niemandem ist in diesem Beispiel wirklich geholfen, wenn die Realität nicht anerkannt ist, wenn Schwarz zu Weiß gemacht wird. Und doch ist es geschehen.

Lara kommt in unregelmäßigen Abständen zu mir in meine Praxis. Von Anfang an ist ihr Anliegen, dass sich die Atmosphäre in der Familie verbessert, dass ihr Familienleben harmonischer, freundlicher und entspannter wird. Zur Familie gehören nicht nur Lara und Max und ihre 9-jährige Tochter Kia, sondern auch die beiden Elternpaare von Lara und Max, Laras Bruder und die beiden Schwestern von Max mitsamt deren Kindern.

Der Umgang in der Familie ist geprägt von einer wenig herzlichen, eher rüden und ruppigen Art und Weise miteinander umzugehen. Immer wieder kommt es dabei zu Beschämungen, Beleidigungen und Verletzungen. Dementsprechend ist die Stimmung in der Familie nur sehr selten entspannt und gelöst. Immer wieder berichtet Lara von Szenen der Eskalation innerhalb ihrer kleinen Familie, aber auch innerhalb der Großfamilie.

„Alle sind so angestrengt und wie unter Hochspannung. Und wenn dann einer ein falsches Wort sagt, dann explodiert es. Mir wird schon immer Angst und Bange, wenn es wieder auf Sonntag zugeht und wie immer das große traditionelle Sonntagsessen stattfinden soll. Ich erfind‘ neuerdings schon Ausreden, warum ich und Kia nicht teilnehmen können, aber das geht ja auch nicht immer. Eigentlich geht es keinem in der Familie wirklich gut. Aber wehe, ich spreche das an, das heißt es immer ‚Du schon wieder! Hab‘ Dich doch nicht so.‘ Alle tun immer so, als wäre das alles ganz normal. Naja, sie haben ja recht. Es stimmt ja auch. Ich bin ja hochsensibel.“

Bei Lara wurde vor einigen Jahren ADHS und Hochsensibilität diagnostiziert. Je älter ihre Tochter Kia wird, desto sicherer ist sich Lara, dass Kia nach ihr kommt und mindestens Tendenzen zu ADHS und Hochsensibilität aufweist. In der Schule wird es schwieriger und schwieriger:

„Kia kann sich überhaupt nicht konzentrieren. Immer ist sie in Bewegung. Dauernd fällt Kia unangenehm auf. Alle sind schon sehr genervt von Kia und ihrem störenden Verhalten. Die Klassenlehrerin meinte neulich zu mir, wir sollten Kia auf ADHS testen lassen. Naja, ich kann Kia so gut verstehen, mir ging und geht es bis heute nicht anders.“

Lara beschreibt immer wieder, wie gut sie Kia verstehen kann und wie wenig sie persönlich eigentlich einen Handlungsbedarf sieht. Sie findet Kia gut, so wie sie ist. Wenn es nach ihre ginge…

… aber das tut es leider nicht. Die Schule macht zusehends Druck, die Familie auch und vor allem Laras Ehemann Max:

Max kann damit nicht gut umgehen. Er zeigt für ein derartiges Verhalten wenig bis kein Verständnis. Denn in seiner Welt ist es einfach wichtig zu funktionieren. Ein jeder hat das zu tun, was zu tun ist. Ist das gewährleistet, dann läuft es in der Familie und im Beruf, eigentlich überall. Es gibt Regeln, die sind nicht zu hinterfragen, die sind einfach da, damit sie zu befolgt werden, damit es in der Familie und in der Gesellschaft reibungslos läuft…

In einem Telefonat schildert mir Max, wie sehr er unter dem Wesen und Verhalten seiner Frau und seiner Tochter leidet:

„Ich kann das echt nicht verstehen: Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass in der Familie gemeinsam am Tisch gegessen wird, dass während des Essens sitzengeblieben wird, dass man schweigend ist, dass jeder sein Zeug aufräumt. Wenn das ein jeder befolgt, dann ist es ruhig, es gibt keinen Streit. Bei uns ist immer Chaos in der Familie. Ich kann das nicht ertragen und ich verstehe es auch nicht.“

„Was passiert, wenn Kia sich nicht daran hält?“

„Ja, das ist es ja, was ich die ganze Zeit sagen will: Dann haben wir wieder das Geschrei und Chaos, weil mich das einfach wütend macht: Es wäre so einfach, dass wir ein friedliches und harmonisches Familienleben haben. Aber so nicht. Es bringt mich einfach auf Hundertachzig! Ich werde dann laut. Das alles müsste nicht sein, wenn sich alle dran halten würden!“

„Welche Rolle in dieser Dynamik spielt dabei Deine Frau Lara?“

„Die macht alles noch schlimmer. Die ist den ganzen Tag zuhause. Die hätte genug Zeit, sich darum zu kümmern. Es kann ja nicht so schwer sein, Kia diese Regeln beizubringen. Wir haben ja eh‘ nur 1 Kind. Was hätt‘ meine Mutter getan mit drei Kindern? Da war nix mit so einer Rumspinnerei und Rumtuerei. Wir haben als Familie funktioniert.

Und so kommt Lara zu einem Einzeltermin mit dem Anliegen, den Spagat zwischen den Erwartungen und Bewertungen von Schule und Familie und ihren eigenen Erwartungen und Bewertungen besser zu bewältigen. Lara entscheidet sich zu einer Selbstbegegnung mit Kissen:

Während des Prozesses zeigt sich immer mehr, dass Kia sich zusehends in der Schule und zuhause fürchtet.

Auf dem Resonanzplatzhalter für ‚Kia‘ meint Lara:

„Oh, da spüre ich eine große Angst. Ich zittere am ganzen Körper. Ich bin furchtbar unter Druck, ja keinen Fehler zu machen. Ich hab‘ Angst vor der Lehrerin, aber vor allem spüre ich eine Angst vor Max!“

„Nimmst Du hier auf diesem Kissen Deine Angst wahr oder die Angst Kias vor der Lehrerin und vor Max wahr?“

„Nein, nicht meine. Es ist Kias Angst. Ich hab‘ ja keine Angst vor Max. Überhaupt nicht. Wenn dann fürchte ich mich davor, was passiert, wenn Kia wieder so ist, wie sie ist, und Max dann wieder ausrastet.“

„Was meinst Du mit ‚ausrasten‘?“

„Dass Max wieder so rumschreit und so gemeine Sachen zu Kia sagt: ‚Du bist so dumm, wie ein Ster Holz!‘ oder ‚Du bist ja richtig widerlich!‘ oder ‚Mit Dir muss man sich ja schämen!‘ oder lauter so schlimme Sachen… Naja, Kia ist halt immer wieder so, dass sie genau das provoziert, dass muss ich fairerweise schon auch sagen. Aber ich kann ja gar nichts sagen, weil ich es ja eigentlich gut finde, wie Kia ist.“

„Kennst Du die Angst von Kia? Kannst Du diese Angst, von der Du auf dem Kissen gesprochen hat, in der Realität fühlen und spüren?“

„Ja, klar. Die muss ich nicht fühlen und spüren. Das sagt Kia in letzter Zeit immer häufiger und irgendwie immer verzweifelter. Ihr Körper zittert dabei auch so schlimm. Das hat sie auch schon zur neuen Sportlehrerin gesagt.“

Diese Angst ist für mich körperlich spürbar. Es ist, als wäre mein Therapieraum voller Angst und voller Kälte, obwohl es an sich im Raum nicht kalt ist. Wie groß muss Kias Not und Verzweiflung sein, wenn sie ihrer Mutter und der Sportlehrerin öfter zitternd davon erzählt?!

Und nun?

„Ich will Kia so stärken und so zur Seite stehen, dass ihr die Kommentare von Max und den anderen nicht mehr so zu schaffen machen. Gleichzeitig will ich es schaffen, dass Kia nicht mehr ganz so aneckt mit ihrem Verhalten. Puh, da hab‘ ich noch was zu tun.“

„Und was ist mit dem Verhalten von Max?“

„Mei, da kann ich wenig machen. Ich versuch‘ halt immer wieder, ihm zu erklären, dass er mit seinen Ausrastern alles noch viel schlimmer macht. Aber ich erreich‘ ihn halt nicht oder nur ganz selten. Er müsst‘ halt selber was machen, aber das sieht er ja nicht so. Er müsst‘ sich halt auch mit seiner Kindheit auseinandersetzen. Aber das lehnt er strikt ab. Also müssen eben Kia und ich an unserer Empfindlichkeit arbeiten!“

Nach fast einem Jahr kommt Lara wieder zu einem Einzeltermin: Sie ist sichtlich „durch den Wind“. Auf meine Frage, weswegen sie gekommen sei, meint sie:

„Ich möchte unbedingt aufstellen. Mein Anliegen für heute ist, dass ich -. Also, ich möchte nicht lang reden, sondern gleich aufstellen. Mein Anliegen ist -.“

Lara vollendet ihren begonnen Satz nicht, holt tief Luft und sagt dann mit sehr leiser Stimme:

„Es ist was Fürchterliches passiert: Der Max ist so ausgerastet, dass -. Also wenn ich nicht ins Zimmer von Kia gekommen wäre, ich weiß nicht, ob der Max noch gestoppt hätte.“

„Was ist passiert?“

Lara beginnt zu weinen:

„Der Max hat Kia so geschlagen, dass ich Angst um ihr Leben hatte.“

„Wie hat Max Kia geschlagen?“

„Mit der flachen Hand hauptsächlich, auch mit der Faust, mit -. Ich weiß es nicht. Es war so furchtbar. Ich habe ihn gerade noch abhalten können.“

Ich bin schockiert. Jetzt verstehe ich, was ich zuvor offenbar nicht verstanden habe. Jetzt weiß ich, warum Kia so viel Angst hat, warum Kias Körper so zittert. Es ist nicht „nur“ emotionale Gewalt, es ist auch körperliche Gewalt, die Kia derart eingeschüch-tert, verängstigt und verstört sein lässt.

„Ist das zum ersten Mal passiert?“

„Nein, es ist schon ein paarmal, also nicht ganz oft, aber schon manchmal. Aber es war noch nie so schlimm, wie … . Warum schaust Du jetzt so betroffen, Christina?“

„Weil ich erst jetzt verstehe, dass Kia so viel Angst hat, weil sie nicht „nur“ emotionale Gewalt – was für ein Kind schon schlimm genug ist -, sondern auch körperliche Gewalt durch ihren Vater erleidet. Weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass Kia geschlagen wird.“

„Was heißt hier Gewalt? Ich weiß nicht, ob ich das hier wirklich Gewalt nennen würde… . Gewalt ist dafür doch wohl ein zu großes Wort, oder?“

„Doch ich bezeichne dies schon als körperliche Gewalt. Wie bezeichnest Du diese Eskalation?

„Ich weiß nicht. Als ‚körperliche Gewalt‘ sicher nicht, das ist viel zu groß gegriffen. Hm. Naja. Kia hörte ja wieder einmal nicht auf. Es war ein ganz schwieriger Tag mit Kia und da ist Max an seine Grenzen gekommen. Ich würde sagen: Max war am Abend einfach durch. Er war völlig mit den Nerven fertig und da ist er ausgerastet. Und da ist ihm die Hand ausgerutscht.“

Kia wird wiederholt von ihrem Vater angeschrien, verbal gede-mütigt, beleidigt und herabgesetzt. Das ist emotionale Gewalt.

Kia wird mehrmals von ihrem Vater geschlagen. Das ist körperliche Gewalt.

Der Tatbestand der emotionalen und körperlichen Gewalt ist klar.

Obgleich der Tatbestand völlig klar ist – das, was Lara beschrieb, ist körperliche Gewalt. Einen Menschen mit der flachen Hand und mit der Faust zu schlagen, ist per Definition ‚körperliche Gewalt‘. Seit dem 8.November 2000 ist in Deutschland das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert. Mit dem §1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches ist u.a. jede verbale Demütigung und Bestrafung, jede Ohrfeige und jeder Klaps auf den Hintern eines Kindes unter Strafe gesetzt.

Im Sozialgesetzbuch sieht §8a SGB VIII eine Kindeswohlgefährdung mit entsprechendem Schutzauftrag des Staates dann vor, wenn ein Kind misshandelt wird:

Der Begriff ‚Misshandlung‘ meint hier, psychische und körperliche Misshandlungen, welche die gesunde Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen und schädigen können.

Eine psychische Misshandlung kann beispielsweise sein, wenn Eltern ihr Kind ablehnen, verachten, abwerten, wenn sie ihrem Kind so das Gefühl der Ungeliebtheit, Wertlosigkeit oder Fehlerhaftigkeit vermitteln.

Eine körperliche Misshandlungen ist jeder körperliche Zwang oder jede körperliche Gewaltanwendung, weil sie die Entwicklung eines Kindes möglicherweise schädigen. kann.

Deswegen ist darüber ist an sich nicht zu diskutieren.

Und doch spüre ich in mir eine Scheu und Hemmung, dies auch so zu benennen und auszusprechen, so als sei es ein Fehler, so als dürfe ich dies nicht sagen. Und doch muss ich – Schwarz ist schwarz. Schläge mit der flachen Hand und der Faust sind körperliche Gewalt. Darüber kann ich nicht diskutieren.

„Doch, Lara. Das, was Du schilderst, wird als körperliche Gewalt bezeichnet.“

„Nein, Christina ganz sicher nicht. Mir scheint, Du überdramatisierst das. Eine körperliche Gewalt ist das nicht, sicher nicht. Nein, ich bin nicht glücklich darüber, dass es geschehen ist, aber so schlimm, wie Du tust, ist es nicht.“

„Nein, das tu ich nicht. Wie bewertest Du dann die Angst von Kia? Warum zittert Kia so? Warum hat Kia dann Angst vor ihrem Vater? Warum sollte sie einer neuen Lehrerin, die sie erst seit einem Monat kennt, immer wieder von der Angst erzählen, wenn es gar nicht schlimm ist?“

„Das versuche ich Dir doch seit Jahren zu erklären. All das, was ich Dir erzählt hab‘, ist nicht so schlimm, weil es wirklich schlimm ist, sondern weil ich es als so schlimm empfinde. Das ist doch nur ein Symptom meiner Hochsensibilität. Und Kia ist bestimmt auch hochsensibel. Ich dachte echt, Du hättest mich verstanden. Ich dachte, Du wärest eine der wenigen Menschen gewesen, die mich wirklich verstehen. Da hab‘ ich mich offenbar getäuscht.“

Lara steht auf, bedankt sich noch für unsere gemeinsame Arbeit, nimmt ihre Tasche und geht…

… und ich bin ziemlich konsterniert und erschüttert. Denn: Ich rechnete nicht damit, dass meine bloße Benennung eines klaren Tatbestandes als solche negiert werden könnte. Schwarz ist schwarz und Weiß ist weiß. Darüber ist, wie gesagt nicht zu diskutieren.

Wohl aber wäre zu diskutieren und zu überlegen, wie mit dieser Realität umzugehen, wie Lara Kia helfen könnte, wie Lara damit umgehen könnte, dass Max wiederholt gewalttätig wurde, was Max für sich tun könnte, dass es nicht wieder passiert, …

… darüber ist durchaus zu nachzudenken.

Körperliche Gewalt ist für Lara etwas sehr Schlimmes:

Aufgrund ihrer ‚Hochsensi-bilität‘ kann Lara dies aber gar nicht bewerten.

Lara nimmt die Welt grund-sätzlich und immer intensiver wahr, als sie tatsächlich ist.

Folglich bleibt ihr als einzige Möglichkeit, an ihrer Hoch-sensibilität zu arbeiten.

Lara geht davon aus, dass auch Kia höchstwahrscheinlich hochsensibel ist: Aufgrund dessen kann auch Kia die erlittene Gewalt nicht als solche bewerten. Und so bleibt Mutter und Tochter nichts anderes, als ihre „Wahrnehmungsstörung“ zu beheben, sich also zu befähigen und zu bemächtigen, das, was sie erleben, auch bewerten zu können. Noch ist es nicht so weit. Noch sieht sich Lara als zu sensibel, als zu empfindlich.

So wie es Max in dem Telefonat mir gegenüber ausgedrückte. Ich fragte Max, wie er damit umgeht, dass Lara und Kia Angst vor ihm und seinen Ausrastern habe:

„Die sollen sich nicht so anstellen. Manchmal geht es halt ein bisschen ruppiger und gröber zu im Leben, in einer Familie. Ich hab‘ mir das als Kind und Jugendlicher auch abtrainieren müssen, auf alles so empfindlich zu reagieren. Nur so geht das, wenn man alles gleich als Gewalt empfindet, wo soll das hinführen, später im Beruf, im normalen Leben?! Was macht man denn dann, wenn man einmal wirkliche Gewalt erlebt? Meine Meinung. Das geht. Das muss man halt auch wollen.“

Lara unterwirft sich gänzlich der Haltung und Bewertung von Max – also demjenigen der etwas tut, dem ‚Täter‘ also. Für Max ist sein Verhalten in keiner Weise Gewalt, für ihn ist es ist normal und alltäglich. Ihm zufolge ist also das Schlagen mit der flachen Hand und mit der Faust, das Anschreien und das Abwerten, das Beschimpfen keine Gewalt und für Lara folglich auch nicht.

An sich wird eine Tat nicht nur durch die Absichten des Täters oder der Täterin bewertet, sondern auch durch die Konsequenzen für die betroffenen Menschen. Doch das ist hier in diesem Fallbeispiel nicht so:

Für Lara ist eben nicht ausschlaggebend, was sie selbst und ihre Tochter fühlen, spüren und denken, wenn sie (mit)erleben, angeschrien, beleidigt und geschlagen zu werden: Der Maßstab für Laras Bewertung ist einzig und allein, was Max dabei fühlt und spürt, wie Max über sein Tun denkt.

Die Diagnose ‚Hochsensibilität‘ ist für Lara wie geschaffen, sich dem Täter zu unterwerfen – sie selber ist ja in ihrer Wahrnehmung gestört. Lara gebraucht sozusagen ihre Hochsensibilität, um die Gewalttaten ihres Mannes nicht als solche bewerten zu müssen. Das ist ein besonders wirksames und doch so subtiles Täterschutzprogramm.

(Ich schreibe hier nicht allgemein über Hochsensibilität, sondern speziell über Laras Gebrauch? Missbrauch? dieses Konzeptes. Ich schreibe darüber, weil ich wieder einmal ziemlich erschrocken bin, dass wir Menschen scheinbar alles zu unserem Gunsten oder Ungunsten verwenden können. Es bedarf immer wieder eines sehr genauen und klaren Blickes auf den jeweiligen Einzelfall.)

Aber warum ist das so? Warum verhält sich Max so, wie er sich verhält? Warum verhält sich Lara so, wie sie sich verhält?

Max ist mit sehr gewalttätigen Eltern aufgewachsen. Immer wieder wurden Max und seine beiden Schwestern von Mutter und Vater geschlagen, wenn sie gegen Regeln verstoßen haben. Dabei gab es keine Ausnahmen, keine mildernden Umstände und keine Entschuldigung. Jeder Übertritt einer Regel wurde von Mutter und Vater mit Prügeln bestraft. Weder Max noch seine Schwestern können sich erinnern, je geschlagen worden zu sein, ohne davor eine Regel übertreten zu haben.

„Die Spielregeln waren allen klar und wurden auch ausnahmslos durchgesetzt. So war das bei mir in der Familie. So wurde erzogen. Ja, das war schon ein hartes Regiment, aber ich wurde auch nie bestraft, ohne etwas falsch gemacht zu haben. Hart, aber gerecht. Das habe ich mitbekommen von meinen Eltern. Ja, und für mich ist das nicht das Schlechteste gewesen. So habe ich gelernt, mich an Regeln zu halten.“

Lara ist als Kind ebenfalls von ihrem Vater immer wieder verprügelt worden, was sie als sehr schlimm und demütigend in Erinnerung hat. Immer wieder berichtet sie von den körperlichen und seelischen Schmerzen danach, von ihrer Einsamkeit in ihrem Zimmer, mit nichts als der Bettdecke als Trost. Lara weiß bis heute nicht, ob ihr älterer Bruder auch geschlagen wurde. Sie reden nicht über ihre Kindheit.

Doch dann mit ungefähr 9 Jahren hörte der Vater auf sie zu schlagen.

„Er hörte auf zu schlagen, als ich endlich verstanden habe, mich in die Familie, in die Schule, heute würde ich sagen, überhaupt in die Gesellschaft einzufügen. Ich bin brav geworden, war ein anständiges, hilfsbereites, zuvorkommendes und höfliches Mädchen. Da gab es keine Veranlassung mehr für meinen Vater, mich zu schlagen. Mit einem Schlag waren meine Zeugnisbemerkungen sehr gut, bei den Elternsprechtagen wurde nur noch Gutes berichtet, meine Großeltern lobten mich nur noch… Ja, das war eine harte Schule in meiner Kindheit, doch dann war es gut. Dann hatte ich eine richtig unbeschwerte Jugend. Ich wusste, wie ich mich zu verhalten hatte. Manchmal denke ich, warum habe ich das nicht früher gekonnt. Da hätte ich mir so viel Schmerzen ersparen können. Das will ich auch Kia ersparen…“

Mit einem Schlag, nein, mit vielen Schlägen…

Es ist eine fürchterliche Lektion, die Lara für sich als ihren Lernerfolg bezeichnet:

Die Gewalt hört auf, wenn ich lerne als Kind mich wohl zu verhalten. Ich erlebe Gewalt, weil ich mich falsch verhalte. Mein Verhalten ist das Problem. Ich muss mich richtig verhalten, dann erlebe ich keine Gewalt. Die Gewalt ist nicht das Problem, sondern mein falsches Verhalten ist das Problem. Folglich muss ich an meinem Verhalten arbeiten, damit die Gewalt aufhört.

Schwarz ist nicht mehr schwarz. Die Realität der Gewalt hat ein weißes Gewand bekommen.

Für mich ist es erschreckend und furchtbar, wie sehr die Muster der Gewalt in Lara und in Max zusammenpassen. Unsäglich. Lara und Max versuchen der Gewalt ihrer Kindheit zu entkommen, indem sie sich bis heute in absolutem Gehorsam ihren Eltern unterwerfen…

… und dadurch den Terror der Gewalt in der Kindheit in ihrer jetzigen Familie weiterführen.

Und so beende ich diesen Blogeintrag mit einem Gefühl der Ohnmacht, meiner Ohnmacht, angesichts der übermächtigen, generationsübergreifenden Realität der Gewalt, die als solche nicht benannt und bewertet werden darf.

Mir blieb und bleibt nichts, als diese Gewalt als Gewalt zu benennen. Wenn dies nicht möglich ist, wenn dies verleugnet wird, dann ist kein sinnvolles Arbeiten, keine heilsame Selbstbegegnung möglich. Nicht für mich…

… denn Schwarz ist schwarz und Weiß ist weiß.

ICH – und das nicht zu ertragende Dunkelfeld

Wie jedes Jahr bin ich im April und Mai mit der Auswertung der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) bezüglich der „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ beschäftigt.

An sich ist die Welt der Zahlen, der Statistiken nicht meine Welt. Es sind die Menschen und ihr Leben, die mich interessieren. Doch hinter jeder dieser Zahlen der PKS stehen Gewalttaten, die von Menschen an Menschen begangen wurden.

2021 wurden in Deutschland insgesamt 106.656 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Anzeige gebracht und strafrechtlich verfolgt:

16.235 Fälle des sexuellen Missbrauchs an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen und 44.275 Fälle des Erwerbs, der Verbreitung, des Besitzes und der Herstellung von Kinder- und Jugendpornographie.

Es sind erschreckende Zahlen.

Seit 2014 biete ich an der KSH München für Studierende der Sozialen Arbeit ein Seminar über „sexuelle Gewalt“ an. Und seit dem befasse ich mich jedes Jahr wieder mit den Fallzahlen des zurückliegenden Jahres… währenddessen die Fallzahlen des laufenden Jahres steigen.

Seit 2014 wurden rund 135.000 Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB) angezeigt.

Es sind wahrlich erschreckende Zahlen. Und doch zeigen sie die Wirklichkeit nur verzerrt.

Die jährliche PKS bildet nur das Hellfeld der sexuellen Gewalt in Deutschland ab.

Die Realität der sexuellen Gewalt insbesondere an Kinder und Jugendliche ist eine andere. Sie findet im Dunkeln und im Verborgenen statt.

Hellfeld und Dunkelfeld der 2021 zur Anzeige gebrachten Fälle von sexuellem Missbrauchs an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen (16.235) und von Erwerb, Verbreitung, Besitzes und Herstellung von Kinder- und Jugendpornographie (44.275)

2020 lebten in Deutschland ca. 10.740.000 Kinder (unter 14 Jahren).

Die Dunkelfeldforschung geht von 1.000.000 in Deutschland betroffenen Kindern und Jugendlichen aus. Das sind ca. 600.000 Schüler und Schülerinnen. Statistisch ist davon auszugehen, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder und Jugendliche sind, die juristisch strafbare sexuelle Gewalt erleiden.

Und auch dieses Dunkelfeld bildet noch nicht die Realität ab. Denn:

Die PKS bildet nur sexuelle Gewalttaten ab, die im juristischen Sinne Straftaten sind. Hinzukommt noch die juristisch nicht strafbare sexueller Gewalt. Diese kann folglich nicht zur Anzeige gebracht werden und dementsprechend auch nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Ergebnis der Dunkelfeldforschung ca. 1.000.000 betroffene Kinder in Deutschland und das absolute Dunkelfeld der sexuellen Gewalt – nicht strafbare und strafbare sexuelle Gewalt an Kinder

Das an sich schon nicht zu fassende Dunkelfeld der PKS wird noch unfassbarer. Die geschätzten 1.000.000 Kinder sind „nur“ die Kinder, die von der strafbaren sexuellen Gewalt betroffen sind. Wie hoch ist dann die tatschliche Realität der sexuellen Gewalt an Kindern in Deutschland?

Diese nicht juristische sexuelle Gewalt ist obschon nicht strafbar und nicht strafrechtlich verfolgbar, mitunter nicht minder verletzend.

Diese Zahlen sind für mich immer wieder unerträglich und unvorstellbar. Nicht nur wegen dem Faktum „so viele Fälle“. Es ist noch etwas anderes, was mich zutiefst verstört und mich sprachlos machte. (Bis zu diesem Blogbeitrag konnte ich nicht wirklich in Worte fassen, warum mich diese jährlichen Fallzahlen derart befassten.)

In Anbetracht von ca. 14.500-15.000 Fällen von Kindesmissbrauchs pro Jahr bei einer Gesamtzahl von 10.760.000 Kinder in Deutschland kann ich mich immer wieder ganz gut distanzieren – solange ich nicht unmittelbar und wissentlich betroffen bin. Gehe ich aber von den hochgerechneten 1.000.000 betroffenen Kindern aus und beziehe ich noch die nicht strafbare sexuelle Gewalt mit ein, gehe ich also von 1.000.000 + X aus, dann…

…. kann ich mich nicht mehr distanzieren. Denn: Dann ist davon auszugehen, dass ich immer wieder Kindern begegne ich, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe – kurz vorher oder kurz nachher – Opfer sexueller Gewalt werden. Und es ist weiter davon auszugehen, dass ich Tätern und Täterinnen begegne, die ebenfalls in zeitlicher Nähe – kurz vorher oder nachher – Kindern sexuelle Gewalt zufügen. (Abgesehen von eher seltenen Ausnahmen bin ich wissentlich an sich persönlich wie beruflich mit lang zurückliegenden Gewalttaten, mit längst geschehenem Leid befasst.)

Wer sind diese Kinder und diese Jugendlichen, die Opfer sexueller Gewalt wurden und werden? Wer sind die Menschen – die Kinder, die Jugendlichen, die Frauen und Männer, die diese sexuellen Gewalttaten begehen? Wer sind die Täter und Täterinnen, die derart viele Kinder zu Opfern sexueller Gewalt machen?

1.000.000 + X Kinder als Opfer sexueller Gewalt? 1.000.000 + X Täter und Täterinnen?

Wo sind sie?

Opfer und Täter/Täterinnen sind inmitten meiner Lebenswelt, inmitten unser aller Lebenswelten. Sie begegnen einer Vielzahl von Menschen vor und nach dem sie sexuelle Gewalt erleben oder vor und nachdem sie sexuelle Gewalt ausüben.

Die Kinder, die sexuelle Gewalt erfahren, leben in Familien mit Müttern und/oder Vätern, mit Geschwistern, besuchen Onkel und Tanten, spielen mit Cousinen und Cousins, werden von Großeltern behütet, wenn Mütter oder Väter in der Arbeit sind. Sie sind in Kinderkrippen, in Kindertagesstätten, gehen in Kindergärten, in Schulen, in Kinderhorte und in Nachmittagsbetreuungen, in Sportvereine und in Jugendgruppen, besuchen Gottesdienste, Dorfveranstaltungen, spielen in Musikgruppen. Sie werden von Kinderärzten untersucht, gehen zum Zahnarzt, besuchen Homöopathinnen, werden von Logopäden und Ergotherapeuten gefördert, nehmen Nachhilfe und Gesangsunterricht, lernen Musikinstrumente. Sie haben Freunde und Freundinnen, sind auf Geburtstagsfeiern eingeladen, sitzen neben Banknachbarn, fahren zusammen im Bus zur Schule, begegnen Nachbarn, spielen mit Nachbarskindern und besuchen Nachbarsfamilien.

Was haben diese Kinder erlebt? Was ist sexuelle Gewalt überhaupt?

Definition von sexueller Gewalt (vgl. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs)

Sexuelle Gewalt können Grenzverletzungen, wie unbeabsichtigte Blicke und Berührungen, können Küsschen und Küsse, können Freizügigkeit und Freikörperkultur (FKK) sein.

Sexuelle Gewalt sind verbale Belästigungen, voyeuristische Blicke, exhibitionistisches Verhalten, sexuelle Handlungen vor dem Kind, Streicheln der Brüste, Zungenküsse, Masturbieren vor dem Kind, Zeigen von pornographischen Darstellungen, Manipulation der Genitalien, sexuelle Gewaltdarstellungen fotografieren, schreiben, filmen und verbreiten und (orale, vaginale und anale) Penetrationen.

Derartigen Handlungen sind betroffene Kinder ausgesetzt.

Sexuelle Gewalt verletzt Körper und Psyche, verletzt Seelen und verstört Gefühle. Sie (zer)stört die Beziehung zu sich selbst und zur Welt, das Vertrauen in sich selbst, in die Menschen, in die Welt, in das Leben an sich. Kinder erleben Gewalt, die im Verborgenen und im Dunklen geschieht und die auch danach viel zu oft im Dunklen und Verborgenen bleibt.

Doch sind es nicht allein die sexuellen Gewalttaten an sich, die derart vergiftend, zerstörend und vernichtend wirken. Vielmehr sind es die Erfahrungen der Kinder danach, die Begegnungen mit Menschen nach einer erlittenen Gewalt, die entscheidend sind, ob ein Gewalttrauma seine zerstörerische Sprengkraft entfalten kann oder nicht.

Dieses unsägliche Dunkelfeld sexueller Gewalt 1.000.000 + X konfrontiert mich immer wieder mit Sehen oder Nichtsehen von Menschen, mit ihrem Erkennen oder Nichterkennen und mit ihrem Handeln oder Nichthandeln.

Die Kinder begegnen, nach dem sie sexuelle Gewalt erlebten, immer Menschen – sie begegnen ihren Müttern und ihren Vätern, Erziehern und Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern, den Großeltern, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern, Freunden und Freundinnen, Tanten und Onkeln, den Ärzten und Ärztinnen, Therapeutinnen und Therapeuten, Trainern und Trainerinnen, Verwandten, Jugendgruppenleitern, Nachbarn, Seelsorgern und Seelsorgerinnen, Klavierlehrerinnen und Geigenlehrern, …

1. Axiom der Kommunikation, nach Paul Watzlawick

Dieses Axiom der Kommunikation ist grundlegend, so allgemein und fast schon banal es klingen mag, so weitreichend ist es in seiner Konsequenz. Denn dieses Axiom ernstgenommen bedeutet:

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Kinder, die vor kurzem sexuelle Gewalt erlitten hatten – also etwas derart Verstörendes, Verwirrendes, Vernichtendes, Verletzendes, Beschämendes, Beängstigendes erfahren mussten, gänzlich ohne Reaktion darauf weiterleben und einem begegnen, als wäre nichts dergleichen geschehen.

Kinder danach sind betont unauffällig oder sehr auffällig, verstummen oder sprechen laut und schwallartig, ziehen sich zurück oder werden aggressiv, verlieren an Gewicht oder nehmen an Gewicht zu, schlafen nicht mehr oder schlafen viel mehr, sind gänzlich angepasst oder sehr unangepasst, sind sehr ängstlich oder ganz angstfrei, werden in der Schule immer schlechter oder immer besser, sind lebensmüde oder extrem lebensfroh, sind bewegungslos oder hyperaktiv, sind körperlos oder sehr körperbetont, sind ohne jedes Selbstbewusstsein oder mit extremen Selbstbewusstsein, schämen sich sehr oder sind völlig schamfrei, sind depressiv oder sehr lebendig, sind völlig abwesend oder überaus präsent, sind …

… anders als zuvor.

Doch nehme ich diese Veränderungen war? Kann ich? Will ich? Ich sollte.

Ich sollte Veränderungen im Wesen und im Verhalten von Menschen, von Kindern, mit denen ich in Beziehung bin, mit denen ich in Kontakt bin wahrnehmen.

Etwas ist geschehen, etwas ist passiert, was die Kinder in ihrem Wesen und ihrem Verhalten verändert.

Ich sollte diese kleinen und großen Veränderungen wahrnehmen, denn:

Es kommt darauf an, wie nach einer sexuellen Gewalt reagiert wird, ob Kinder nachhaltig traumatisiert sind und unter langwierigen und quälenden Traumafolgestörungen leben müssen oder ob sie dieses Trauma mit Hilfe lernen zu bewältigen und danach durchaus gestärkt weiterleben können.

Ein Trauma wird mir erst zu einer langanhaltenden Traumatisierung durch ausbleibende hilfreiche Reaktionen und/oder durch zusätzlich traumatische Reaktionen der Menschen auf ein Trauma.

Ergeht es ihnen wie Elena oder wie Jan? Zwei Beispiele, die mich bis heute immer wieder beschäftigen. Zwei Beispiele, die zwei vielleicht extreme Pole von Reaktionen veranschaulichen:

Elena kommt nach einem längeren Psychiatrieaufenthalt aufgrund von Schizophrenie zu mir, um mir zu erzählen, was sie in der Psychiatrie niemandem erzählen konnte, weil es dort niemanden interessiert hatte. Die behandelnden Ärzte und betreuenden Pflegekräfte, auch der Sozialdienst befanden sich dafür nicht zuständig.

Elena ging nach dem Abitur als Au-pair für ein Jahr in die USA. Dort bekam sie plötzlich und völlig unerwartet Alpträume und Flashbacks. Diese zeigten klar und deutlich, wie sie als kleines Mädchen im Alter von 4 Jahren von dem Vater ihrer besten Freundin oral und anal vergewaltigt wurde. In den folgenden Tagen erinnerte sich Elena an immer mehr Einzelheiten. Sie notierte alles in einem Schulheft. Bis dahin hatte sie nichts mit dem Thema „sexuelle Gewalt“ zu tun. Allenfalls war sie damit konfrontiert, wenn in den Medien darüber berichtet wurde.

Diese Erinnerungen waren äußerst plastisch und detailliert, unmissverständlich.

Als ihre Mutter sie in den USA besuchen kam, erzählte Elena von den Flashbacks der Vergewaltigung. Sie las minutenlang aus ihrem Erinnerungsheft vor, währenddessen ihre Mutter mehrmals nickte.

„Ah, deswegen war Deine Unterhose blutverschmiert, als Du nachhause gekommen bist. Ich hab‘ mich schon gewundert. Jetzt wird mir alles klar.“

Elena ist schockiert. Es ist dieser Satz, den sie nicht aushalten konnte, den sie jahrelang nicht aushalten konnte. Elena schrie daraufhin ihre Mutter an, warum sie denn nichts gemacht hätte, wenn sie doch die blutverschmierte Unterhose ihrer 4-jährigen Tochter findet.

„Du wolltest ja dort immer hin. Ich wollte ja, dass Du dort nicht hingehst. Mir war der ja immer schon unangenehm. Du wolltest doch unbedingt hin. Dir hat es ja dort besser gefallen als bei mir. Dort war ja alles besser.“

Diese Reaktion ihrer Mutter, 17 Jahre nach der brutalen Vergewaltigung, ist unerträglich. Einige Wochen später begann Elena Stimmen zu hören und sich verfolgt und bedroht zu fühlen. Diese Symptome wurden immer intensiver und unkontrollierbarer. Ihr Zustand verschlechterte sich derart, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen wurde.

Ein paar Jahre später hatte ich die Möglichkeit mit der Mutter zu sprechen. Ich fragte sie im Beisein von Elena, wie sie auf die unerwarteten Erinnerungen ihrer Tochter reagiert hatte. Ihre Antwort stimmte nahezu wörtlich mit Elenas Bericht überein.

Ich war sprachlos und Elena begann leise und still zu weinen. Nach einigen Minuten fragte ich die Mutter, was sie denn damals dachte, spürte und fühlte, als sie die blutverschmierte Unterhose ihrer 4-jährigen Tochter in den Händen hielt.

„Das war – ich weiß es nicht mehr genau. Aber da war so etwas wie Genugtuung. Ich hatte mich ja immer schon so um meine Tochter gekümmert, richtiggehend aufgeopfert, wollte ihr ein schönes Zuhause bieten, und dann war sie so, ja, in meinen Augen so undankbar. Immer war alles dort schöner und besser. Ich weiß, das klingt jetzt unmöglich, aber so war es. Jetzt kann sie nicht mehr sagen, das dort alles besser ist.“

Und so ist Elena nicht nur gezwungen mit der Realität zu leben, als Kind äußerst brutal vergewaltigt worden zu sein und unter den entsprechenden körperlichen und psychischen Folgen zu leiden. Sie muss zusätzlich noch die Reaktion der Mutter unmittelbar danach und nochmal wiederholt 17 Jahre später verkraften. Elena erfuhr nicht nur keine Hilfe in aller größter Not, sondern erlitt noch zusätzlich den unsäglichen Schmerz des Verlassenwerdens und Verratenwerdens durch die Mutter. Dies manifestierte sich in den quälenden Symptomen, immer wieder von den Stimmen des Vergewaltigers und der Mutter gepeinigt zu werden, ständig nach einer Lösung zu suchen, wie etwas doch noch auszuhalten ist, was nicht auszuhalten ist.

Und zusätzlich muss Elena damit leben, dass auch sonst niemand gesehen, erkannt und gehandelt hatte, auch nicht die Kindergärtnerinnen. Denn Elena ging danach weiterhin in den Kindergarten, sie ist dort auch weiterhin mit der eigentlich besten Freundin in der gemeinsamen Bienchen-Gruppe gewesen.

So potenziert sich das Zerstörungspotential des ursprünglichen Gewalttraumas noch zusätzlich.

Wie anders ist es Jan ergangen:

Jan ist ein 8 jähriger Junge, um den sich seine Mutter Ursula große Sorgen macht. Ursula rief mich an um mir zu berichten, dass sie jetzt endlich wisse was mit ihrem Sohn los sei. Schon länger spürte sie, dass etwas nicht stimme. Jan wäre so abwesend und so unkonzentriert, dann wieder so weinerlich. Auf ihre Fragen wich Jan immer aus und meinte, es wäre nichts. Dem Klassleiter sei dieses Verhalten auch schon aufgefallen. Er meinte, es könnte mit dem Leistungsdruck wegen dem Übertritt auf das Gymnasium zu tun haben. Da hätten einige Kinder Probleme damit. Aber Ursula spürte immer und immer wieder, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, dass es nicht der Übertritt sei. Und so blieb sie dabei. Sie fragte Jan immer wieder, was los sei. Doch er wich weiterhin aus. Erst als Ursula von guten und von schlechten Geheimnissen sprach und davon, dass jeder Mensch über die schlechten Geheimnisse reden darf, ja sogar soll, weil ihm nur dann geholfen werden kann, erst dann begann Jan zu sprechen. Es wäre wegen Stefan…

Stefan ist der neue Lebenspartner von Ursula. Sie wohnen seit einem halben Jahr zusammen. Als Ursula zum ersten mal wieder Nachtwachen im Krankenhaus übernahm und Jan zum ersten Mal alleine mit Stefan über Nacht zuhause war, kam Stefan ins Bett von Jan. Dies wiederholte sich in den nächsten Nächten. In der letzten Nacht von Ursulas Nachtschicht masturbierte Stefan vor Jan und bot ihm an, das auch mit Jans Penis zu machen. Das wäre ein sehr, sehr schönes Gefühl. Und sie hätten jetzt ein Männergeheimnis, über das Jan mit niemanden reden dürfe. Denn Jan sei ja nun ein echter Mann, und Männer könnten schweigen wie ein Grab…

Ich fragte Ursula, wie es ihr mit der Offenbarung von Jan ging.

„Ich war perplex und brauchte einige Minuten um mich zu sammeln. Ich wurde immer wütender und wütender. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Ich ballte meine Fäuste und biss mir die Lippen blutig. Erst als mich Jan fragte, ob das ein gutes oder schlechtes Geheimnis gewesen wäre, was er ja nun verraten hätte, kam ich wieder zu mir. Ich sagte Jan, dass das ein sehr, sehr schlechtes Geheimnis sei und dass es absolut richtig gewesen sei, darüber zu sprechen, weil ich ihm nun helfen könne, dass so etwas nie wieder passiert.“

Ursula ging danach mit Jan zunächst zum Kinderarzt, um abzuklären, ob nicht noch Schlimmeres passiert ist und ob Jan Verletzungen davon getragen hat. Glücklicherweise war Jan unverletzt. Danach erstattete Ursula bei der Polizei Anzeige wegen sexuellem Missbrauchs und rief danach Stefan in der Arbeit an, um ihm mitzuteilen, dass sie von dem sexuellen Missbrauch wisse, dass sie ihn angezeigt hätte und er nun drei Stunden Zeit hätte, seine Sachen zu abholen… Als Stefan anfing zu weinen und seine Unschuld zu betonen, beendete Ursula das Gespräch.

Jan war bei alledem mit dabei und schien das Geschehen genauestens zu beobachten. Am Abend fragte er Ursula, warum sie denn Stefan rausgeschmissen hätte und bei der Polizei angezeigt hätte, wenn sie ihn doch so lieben würde, wie sie einmal den Papa geliebt hätte.

„Ja, und da sagte ich ihm, dass Stefan ein Verbrechen begangen habe, dass das, was Stefan in der Nacht gemacht hat, eine Straftat ist, und dass das niemand machen darf und wenn doch, dann muss er sich vor Gericht dafür verantworten. Und dass es sich da aufhört mit der Liebe…“

Danach ging Stefan ins Bett, nicht ohne zu verkünden, dass er nun Polizist werden wolle…

„Das wollte ich Dir nur erzählen…“

Einige Wochen später rief mich Ursula nochmals an. Sie berichtete, dass nun Stefan endgültig ausgezogen sei, dass sie keinerlei Kontakt mehr zu ihm habe und dass er bei der Polizei alles gestanden hätte. Es wäre jetzt endlich Ruhe eingekehrt. Danach bat sie mich, ob ich nicht mit Jan arbeiten könnte.

„Warum und wozu soll ich mit Jan arbeiten?“

„Ich will nichts versäumen, nicht dass er sein Leben lang unter dem sexuellen Missbrauch leiden muss. Lieber jetzt gleich daran arbeiten, als später umso härter.“

„Woran bemerkst Du, dass Jan leidet? Dass es etwas zu bearbeiten gibt?“

„Bemerken tu ich nichts. Aber ich denke mir halt, dass es nicht schaden könnte….“

„Um Dich zu beruhigen?“

„Ja, weil er selber sagt, dass es ihm gut geht, weil es aufgehört hat und er das nicht mehr erleben muss. Und er sagt auch, dass er froh ist dass sich die Polizei jetzt um Stefan kümmert. Und er sagte auch, dass er eigentlich nicht mehr dauernd darüber sprechen will. Es wäre jetzt vorbei.“

Ich habe mit Jan nicht gesprochen und auch nicht gearbeitet. Es gab für mich nichts mehr zu tun. Ursula hatte alles getan, was für Jan notwendig war, um das traumatische Erlebnis der Masturbation in seinem Bett vor seinen Augen, durch einen Mann, denn Mama liebt und der vorgibt, Mama zu lieben, auf seine Weise zu verarbeiten, ohne dass er momentan traumatisiert zu sein scheint. Zudem ist Ursula immer wieder auch Menschen begegnet, die sehen wollten und konnten, wie der Klassenlehrer, dem ebenfalls aufgefallen war, dass etwas mit Jan offenbar passiert ist, dass etwas Jan offenbar sehr beschäftigt.

Es gibt leider das eine entscheidende Symptom nicht. Es gibt das vielfach zitierte Missbrauchs-Syndrom einfach nicht. Es gibt nichts dergleichen, was hundertprozentig sagen könnte, beweisen könnte, was genau geschehen ist. Es gibt nur Hinweise, dass mit Kindern etwas passiert ist, dass mit Kindern etwas Traumatisches passiert ist.

Doch dieses ist gewiss: Etwas Schlimmes ist passiert, worauf das Kind mit diesen sichtbaren, spürbaren und fühlbaren Veränderungen von Wesen und Verhalten – mit seinen Symptomen reagiert. Aber was?

Fehlen objektive gerichtsfeste Beweise, wie Fotos, Filmaufnahmen, körperliche Verletzungen und Spermaspuren oder eindeutige Zeugenaussagen von dritten, hinzukommenden Personen, lässt sich die Wahrheit, dessen was tatsächlich passiert ist, nur über den Ausdruck der betroffenen Kinder finden – über direkte oder verschlüsselte, bildhafte und umschreibende Wörter, über körperliche Verhaltensweisen, über emotionale Ausbrüche, über bildhaftes und spielerisches Gestalten…

Es bleibt nur: Diesen Ausdruck der Kinder wahrnehmen zu können und wahrnehmen zu wollen, ihn als solchen zu erkennen und zu bewerten und dem dann besonnen nachzugehen. Dafür Sorge tragen, dass Kinder einen sicheren und geschützten Platz finden, in dem sie ihre eigenen Worte finden können, für das was ihnen angetan wurde, ein Platz an dem sie sich ausdrücken können und sicher sprechen können, wenn sie dazu bereit sind, wenn sie sprechen wollen.

Dann fänden Kinder nach einem sexuellen Gewalttrauma in den Begegnungen mit uns Menschen ihrer Umgebung Beistand und Hilfe und dann bliebe die Gewalt nicht mehr im Dunklen und Verborgenen.

Wenn dies viel öfter gelänge, dann erlebten Kinder zwar ein schlimmes Gewalttrauma, wären aber nicht zwangsläufig traumatisiert und ausweglos gefangen in anstrengenden, quälenden und (selbst)zerstörerischen Traumafolgestörungen und Traumaüberlebensmechanismen.

ICH und die fehlende WIRKLICHE Erinnerung

„Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Da kann ich noch so viele Aufstellungen machen, es nützt alles nichts.“, meint Peter sichtlich verzweifelt zu mir.

„Was meinst Du mit ’nicht erinnern können‘? Wann wüsstest Du, dass Du Dich erinnern kannst?“ frage ich Peter.

„Na, wenn ich Bilder hätte, wenn ich einfach wüsste, was mir genau passiert ist.“, antwortet Peter.

„Und was schließt Du daraus, dass Du keine Bilder hast, Dich also demzufolge nicht erinnern kannst?“, frage ich nach.

„Dass es vielleicht nicht stimmt, dass ich mir nur was einbilde, dass die ganzen Aufstellungen eben nicht wahr sind.“

Peter, ein Mann Ende 40, will unbedingt wissen, was ihm in seiner Kindheit zwischen 6 und 12 Jahren passiert ist. Trotz aller Hinweise und Indizien, trotz aller Ahnungen, trotz aller Symptome und trotz aller verblüffend stimmigen Aufstellungen, behauptet Peter weiterhin, er könne sich nicht erinnern, was ihm passiert ist. Bis dahin, dass er immer wieder bezweifelt, dass ihm überhaupt je etwas Schlimmes passiert wäre.

„Ich hatte so gehofft, dass ich in den Aufstellungen endlich erfahre, was mir passiert ist, und dass ich mich endlich erinnern kann. Das ist aber nicht passiert. Vielleicht ist mir eben nichts passiert. Einfach nichts.“

Dieser Auszug aus einem Gespräch mit Peter ist ein Beispiel von vielen derartigen Gesprächen.

Nein, es stimmt nicht, dass sich Peter nicht daran erinnern kann, was ihm passiert ist. Er erinnert sich durchaus, nur eben anders: Nicht nicht bewusst – also nicht kognitiv und auch nicht visuell.

In diesem Zusammenhang ist es für mich bemerkenswert, dass wir unsere Bilder im Kopf – unsere visuellen Wahrnehmungen – als wahr, als wirklich geschehen, als real bewerten. Wenn ich Bilder hätte, dann…

… wäre ich mir sicher, würde ich mir glauben, hätte ich einen Beweis.

Daneben gibt auch aber auch noch un-bewusste, vor-bewusste Formen der Erinnerns. Unser Körper und unsere Gefühle erinnern und speichern auf ihre entsprechende körperliche und emotionale Weise unsere prägenden Erfahrungen und Erlebnisse.

Es gibt Erinnerungsfragmente, Flashbacks und Alpträume, es gibt körperliche Symptome und Zustände, es gibt Verhaltensauffälligkeiten, es gibt übersteigerte und nicht situationsadäquate Emotionen – zusammen ergeben sie eine Erinnerung. Allerdings eben eine andere Art Erinnerung,

Diese ist psychologisch betrachtet nicht weniger oder mehr vertrauenswürdig und belastbar, als die gerichtsfeste kognitive und visuelle Erinnerung.

„Ja, ja… Ich weiß schon, aber ich täte mich trotzdem -, nein, ich muss mich erinnern können, mich WIRKLICH erinnern können! Erst dann bin ich mir sicher. Erst dann kann ich mir glauben.“

Dieser Auszug aus einem Gespräch mit Peter ist nur ein Beispiel von vielen ähnlichen Gesprächen, die ich mit Menschen führe, die sich trotz aller Bemühungen ihnen zufolge „nicht richtig“, „nicht wirklich“ erinnern können. Diese verschiedenen Formen der Erinnerung, die unterschiedlichen Gedächtnistypen sind tatsächlich sehr gut erklärbar, logisch nachvollziehbar, stimmig und auch wissenschaftlich „hieb-und stichfest“. Aber es scheint trotzdem und wider meiner Erwartungen gar nicht so einfach zu sein…

… wie ich persönlich, sozusagen am eigenen Leib und im eigenen Kopf, erfahren durfte.

Erst vor wenigen Monaten ist mir bewusst aufgefallen, dass ich mich nicht erinnern kann:

Ich kann mich nicht erinnern, was an einem Dienstag oder Mittwoch, im Mai 2000 zwischen 14 Uhr und 19 Uhr in einem Lehrerzimmer an einem Regensburger Gymnasium passiert ist.

Ich kann mich nicht erinnern, was mir, einer 26 jährigen Referendarin für Deutsch und Geschichte dort in diesen Stunden im Rahmen einer Besprechung meiner Lehrprobe im Fach Geschichte am folgenden Tag passiert ist.

Ich kann mich hingegen sehr gut erinnern, was von Februar bis eben zu diesem Tag, und was am Tag danach in der Lehrprobe und in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten danach passiert ist.

Ich hatte mich schon einmal in einem Blog-Beitrag „ICH verloren in der Täter-Opfer-Dynamik“ (10.01.2019) mit meinem Erfahrungen im Referendariat befasst. Allerdings mit meinen bewussten Erinnerungen an die demütigenden und entwürdigenden Erfahrungen, an die ich mich bewusst erinnern kann. Die sexuelle Gewalterfahrung in meiner fehlenden Erinnerung erwähnte ich zwar, aber ohne eine bewusste, entsprechend adäquate Bewertung.

Nun bin ich zweieinhalb Jahre später in den Bergen unterwegs, nachdem ich zuvor mit Peter eine Einzelsitzung hatte, und denke über dessen fehlende Erinnerung und meine Erklärungen nach: Sie haben offenbar wenig bis nichts bewirkt.

„Ja, ja… Ich weiß schon, aber ich täte mich trotzdem -, nein, ich muss mich erinnern können, mich WIRKLICH erinnern können! Erst dann bin ich mir sicher. Erst dann kann ich mir glauben.“

Und so laufe ich den Berg hinauf und sinniere über Erinnerungen und sich erinnern…

…bis mir ein eklatanter Widerspruch in mir auffällt:

Warum kann ich mich an das für mich Schlimmste – die schlechte Benotung der Lehrprobe – zweifelsfrei und sehr genau erinnern? Warum erinnere ich von der Besprechung am Tag davor allenfalls Splitter und Schemen? Warum erwähne ich immer wieder andeutungsweise die sexuelle Gewalt, ohne ihr aber Gewicht beizumessen? Hätte ich zumal als Fachfrau nicht schon längst feststellen müssen, dass nicht im Erinnerbaren, sondern eher im Nicht-Erinnerbaren mein Schrecken sitzt?

Nein, bis dahin hatte ich diese kognitive Dissonanz tatsächlich nicht bemerkt.

Ich bin schockiert.

In den folgenden Monaten befasste ich mich intensiv mit meinen fehlenden Stunden:

Ich will mich erinnern können. Ich muss wissen, was da mit mir wirklich passiert ist. Ich will mich richtig erinnern können.

Dabei stellte ich fest, dass das Nicht-Erinnerbare nicht eine Verletzung von vielen Verletzungen bis hin zur großen und finalen Gewalteskalation – der Lehrprobe – war. Nein, mein Trauma ist eben nicht die Lehrprobe an sich, sondern das, was mir einen Tag zuvor in der Besprechung passiert ist, und was ich bis dato nicht erinnern konnte.

Mit dieser Erkenntnis meldete ich mich an einem Selbstbegegnungsseminar an. Ich hatte das Glück, dass ich dort mein Anliegen gänzlich ungeplant und unverhofft, völlig unvorbereitet aufstellen konnte. Ich begegnete mir dort tatsächlich in wesentlichen Aspekten – in meinem ICH (26, im Lehrerzimmer), dem Lehrerzimmer als Ort des Geschehens und dem Seminarrektor für Deutsch.

Ich erhoffte mir tatsächlich, dass ich mich währenddessen oder danach RICHTIG und WIRKLICH erinnern kann: Ich mache meine Aufstellung und dann – BÄM – die Erinnerung ist plötzlich da, ich habe Bilder oder Filme in mir, und dann weiß ich kognitiv und visuell, was mir dort passiert ist. Das war meine Erwartung, meine Sehnsucht, meine Wunschvorstellung, aber…

… so war es nicht und so ist es bis jetzt nicht.

Eine der wichtigsten Momente dieser Arbeit war, als ich meine Resonanzgeber fragte, was sie mir denn angetan hätten im Lehrerzimmer:

„Was haben die mit meinem Körper gemacht?“

„Christina, das weißt Du doch!“, antwortete mir die Resonanzgeberin für „Lehrerzimmer“.

Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte. Machte ich nicht gerade deswegen diese Arbeit?

Noch während ich mich über die Antwort beinah ärgerte – was, ich soll das wissen?! – bin ich unvermittelt körperlich zusammengebrochen.

So am Boden liegend war plötzlich ein „Ja, ich weiß“ in mir:

„Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“

Dieses sehr konkrete Wissen, das sich für mich in diesem einen Satz ausdrückte, traf mich innwendig, war ich doch auf schreckliche Szenarien der Resonanzgeber eingestellt – nicht aber auf mein eigenes Wissen, denn ich wusste ja nichts, ich konnte mich ja nicht erinnern.

Ja, ich wusste und ich weiß bis heute. Kann ich mich aber jetzt WIRKLICH erinnern? Nein, nicht wirklich.

„Wenn ich mich doch RICHTIG erinnern könnte… “

Woraufhin mein Mann feststellte: „Was brauchst Du denn noch?!“

Diese Frage stellt sich mir tatsächlich angesichts der vielen Indizien:

Mein Körper zitterte währende der Aufstellung extrem, ich hatte große Mühe stehenzubleiben, bis ich dann bei der Feststellung „Christina, das weißt Du doch!“ unkontrolliert zusammengebrochen bin. Seitdem überfällt mich immer eine bemerkenswerte Schwäche und Kraftlosigkeit, wenn ich mich mit meinem Satz „Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“ befasse (wie auch während und nach dem Schreiben dieses Blog-Beitrages). Es ist als hätten meine Muskeln überhaupt keine Energie und auch keine Spannung – ein für mich sehr eigenartiger Körperzustand, den ich bis dato nicht kannte.

Ich hatte kurz vor und kurz nach dem Seminar große Mühe, mich in der Realität zu bewegen:

So besuchte ich am Tag vor dem Seminar eine Klamm um zu fotografieren. Ich steckte mir Geld in meine Hosentasche und machte den Reißverschluss zu – so dachte ich zumindest. An der Kasse stellte ich fest, dass der Reißverschluss offen und der Geldschein weg ist. Wie panisch rannte ich zum Auto zurück und fand tatsächlich den Geldschein mitten auf der Straße liegend. Ich war so froh, dass ich Tränen in den Augen hatte. Ich war irritiert über den offenen Reißverschluss, ebenso wie über meine folgende Panik und der Tränen wegen 10 Euro(!).

Am Abend parkte ich das Auto auf dem Parkplatz vor der Pension und ging hinauf in mein Zimmer. Oben angekommen, dachte ich plötzlich, dass ich den Autoschlüssel im Auto steckengelassen hätte und sich das Auto nun verriegelt hätte, und da ich keinen Ersatzschlüssel dabei habe, ich weder ins Seminar und auch nicht nachhause fahren könnte… Und wieder lief ich sichtlich panisch zum Auto, um festzustellen, dass der Schlüssel nicht im Schloss steckte, dafür aber beide Fenster offen waren und das Auto nicht abgeschlossen war. Wieder oben im Zimmer angekommen, stellte ich fest, dass der Schlüssel offen und sichtbar auf dem Tisch lag. Nun war ich noch mehr irritiert.

Und so ging es weiter. Nach dem ersten Seminartag mit meiner bewusst nicht geplanten und spontanen Aufstellung, wollte ich im Supermarkt einkaufen. An der Kasse stellte ich fest, dass mein Geldbeutel weg ist – und wieder lief ich panisch zum Auto und fand ihn dort nicht und lief noch panischer zurück in den Supermarkt, um ihn schließlich bei den Bananen liegend zu finden… An der Kasse meinte die Verkäuferin mitfühlend zu mir, dass man sich da wirklich schreckt, wenn der Geldbeutel weg ist… Ja, wohl wahr.

Ich kenne solche sich wiederholende „Kopflosigkeiten“ – fachlich ausgedrückt: dissoziativen Zustände von mir nicht, nicht vor meinen bisherigen Aufstellungen und auch sonst nicht. Ich war wirklich irritiert.

In den folgenden Tagen und Wochen fielen mir einige weitere Hinweise auf:

Ich bin nach besagter Besprechung im Lehrerzimmer mit dem Rad in mein Zimmer gefahren, Daran kann ich mich wieder erinnern: Es war dämmrig – im Mai geht die Sonne in Regensburg ungefähr um 20:30 unter – ich fahre mit dem Rad die lange Friedenstraße entlang, ohne Licht und verkehrt auf dem Fahrradweg. Ich weiß, dass jetzt alles aus ist. In meinem Zimmer im Studentenwohnheim angekommen, sehe ich mich an meinem Schreibtisch sitzend, meine Lehrprobe für morgen durchgehend. Ich wusste, es ist nun alles aus, und ich bereitete mich für die Lehrprobe vor. Es ist aus, ich weiß nicht warum, aber es ist aus, und ich mache weiter, als wäre es nicht aus. Ich weiß, dass ich damals nicht wusste, was mir passiert ist, nur dass es aus ist und dass es und etwas entsetzlich schlimm ist.

Dieses emotionale Wissen „Es ist alle aus!“ begleitete mich seitdem: Es ist während der Lehrprobe da, es ist unmittelbar danach da, es ist während meines Studiums der Sozialen Arbeit da, es ist da…

… wie die Hintergrundmusik, die immer leise zu hören ist.

In den letzten Monaten fragte ich mich zusehends, ob dieses existentielle und absolute Gefühlswissen „Es ist alles aus!“ wirklich zu einer mit 5 bewerteten Lehrprobe passt.

Löste diese schlechte Note meinen retrospektiv betrachtet auffällig desolaten Zustand aus? Bezieht sich mein Grundwissen „Es ist alles aus!“ wirklich auf diese Note?“ Jahrelang und im Grunde genommen bis vor kurzem?

Ich verließ fluchtartig nach der Besprechung und Bewertung der Lehrprobe das Gymnasium und kehrte nicht wieder zurück. Meine persönlichen Sachen blieben in meinem Fach im Lehrerzimmer zurück und wurden wohl irgendwann weggeschmissen (!). Ich weiß es nicht. Ich konnte nur noch einmal nach Regensburg fahren um mein Zimmer zu räumen und dann erst wieder 2004. Ich weiß noch, dass ich durch die Universität gelaufen bin und in der Cafeteria gesessen bin, dass ich ohne Ausweis nicht in die Bibliothek hinein durfte, dass ich danach zu diesem Gymnasium gefahren bin und zum Schluss noch zu meinem Wohnheim – völlig gefühllos.

In meiner Aufstellung meinte mein 26 jähriges ICH zu mir, dass ich sie einfach zurückgelassen hätte im Lehrzimmer. Einfach sicherlich nicht, aber zurückgelassen schon. Ich suchte seitdem immer wieder nach dieser Christina: Unabhängig davon, wie gut es bis heute in meinem Leben weitergegangen ist, unabhängig davon, dass viele Menschen mir widerspiegeln, dass ich hier in meiner Berufung viel besser aufgehoben wäre als im Lehramt. Ich konnte nicht wirklich sagen, dass ich froh bin, wie es jetzt wäre – in gewisser Weiße versöhnt mit meiner „Lehrprobe“. Im Gegenteil: Immer wieder tauchte der Impuls in mir auf, noch einmal das Referendariat für Deutsch und Geschichte zu machen – nicht aber um Lehrerin zu sein, sondern eher um etwas wiederzufinden und abzuschließen. Es erschien mir wie ein Spuk, dem ich periodisch wiederkehrend ausgeliefert war und in dem ich nur warten konnte, bis dieser wieder vorbeiging. Ich wusste, dass das kognitiv betrachtet Irrsinn ist und dennoch…

Seit dieser Aufstellung und meinem eigenen Wissenssatz „Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“ ist dieser für mich an sich unsinnige Impuls – das Referendariat zu wiederholen“ – tatsächlich weg und nicht wiedergekommen. Stattdessen weiß ich mich, sehe ich mich und spüre ich mich verletzt und verstört. Mein damaliges Leben ist entgegen meinem Willen gewaltsam beendet. Es ist unwiederbringlich vorbei. Das ist traurig.

Neben diesen Hinweisen, die sich eher auf meine Reaktionen auf das Trauma und auf meine Umgangsweisen damit beziehen, gibt es noch weitere Hinweise, die sich direkt auf das traumatische Geschehen im Lehrerzimmer beziehen:

Mein Körper erinnert sich, was der Vergewaltigung vorausgegangen ist:

Ich habe das Gefühl, dass ich an meinen beiden Armen festgehalten wurde. Ich wollte weglaufen und konnte nicht, weil mich zwei Hände festhalten. Das ist ein Körperempfinden, das in mir Panik und emotionale Schmerzen auslöst. Zudem weiß ich, dass ich angezogen war. Ich war nicht nackt. Es ist eine sehr konkrete Ahnung in mir, dass ich durch meine Kleidung an der Brust berührt worden bin.

Die beiden Täter waren mir sehr, sehr nah – ich konnte ihren Körpergeruch und ihren Mundgeruch wahrnehmen – beides löst in mir Ekel aus. Es ist mitunter bis heute so, dass ich überzogen geruchsempfindlich bin, bis dahin dass ich Geruchshalluzinationen habe. Ich nehme unangenehme, ekelige Gerüche wahr, die in der Gegenwart nicht real sind. Diese Gerüche sind Fragmente der ursprünglichen Traumasituation. Ich kann sie jetzt tatsächlich zuordnen. Endlich.

Darüber hinaus hatte eine der beiden Täter einen ziemlichen großen Bauch – was für mich bis heute ebenfalls Ekel auslösend ist. Das geht soweit, dass ich eine – bis vor kurzem unerklärliche und an sich völlig absurde Panik habe, dass der Bauch meines Mannes genauso wie… ? werden könnte. Davor grau(s)t es mir entsetzlich.

Ekel und ein fürchterliches Grau(s)en sind die beiden Gefühlzustände, die mich an das Geschehen im Lehrerzimmer erinnern.

Zuletzt das vielleicht bedeutendste Indiz: Ich mochte diese Art der Sexualität bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr gerne. Doch plötzlich – ohne dass etwas mir Unangenehmes mit meinem Mann passiert ist – überhaupt nicht mehr. Bemerkenswerter Weise fragte ich mich bis zur Aufstellung noch nie, seit wann ich keinen Oralsex mehr wollte und vor allem auch nicht warum das so wäre. Mein Mann fragte ebenfalls nicht nach. Einige Tage nach der Aufstellung hatte ich einen Alptraum, in dem ich träumte, dass ich Armin, einen sehr guter Bekannten meiner Kindheit und Jugend oral befriedigen soll. Ich beginne, zu tun, was ich tun soll, und mir wird vor lauter Ekel fürchterlich schlecht. Ich habe Mühe mich nicht zu übergeben. „Nein! Ich will DAS nie wieder machen!“ mit diesem Satz und einem schrecklich realen Ekelgefühl bin ich aufgewacht. Bevor ich wieder einschlief, dachte ich noch, dass das aber klar und eindeutig gewesen wäre, und das es nicht mehr eindeutiger werden würde.

Also, was brauche ich denn noch?!

„Wenn ich doch wenigstens einmal Bilder haben könnte…“.

Mir geht es wie Peter und wie vielen anderen Menschen, die auf der Suche nach ihrer Erinnerung sind.

„Christina, warum kann ich mich immer noch nicht erinnern? Ich verstehe das wirklich nicht. Ich habe mich jetzt über ein Jahrzehnt mit meiner Biographie, mit meinen Eltern und deren Lebensgeschichte befasst. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen kann oder soll. Es gibt keinen Grund mehr, dass ich mich, dass sich meine Psyche vor der Realität schützen muss! Ich bin jetzt echt am Ende…“

„Offenbar doch.“, erwidere ich Peter. „Es gibt einen guten Grund für Dein Nicht-Erinnern und auch für Dein Beharren auf dem WIRKLICHEN Erinnern. Du könntest Dich ja auch zufrieden geben mit den durchaus bemerkenswerten Indizien… Sogar vor Gericht gibt es die Möglichkeit eines Schuldspruchs nach einem Indizienprozess… „

„Nein, das tu ich aber nicht.“, stellt Peter Kopf schüttelnd fest.

„Ja, ich weiß, dass Du das nicht tust.“

Nach den vielen durchaus aufschlussreichen Aufstellungen mit genau diesem Anliegen, nach dem Wiederlesen der Tagebücher von Peter und seiner Mutter mit den sehr klaren und schonungslosen Einträgen, nach den vielen tatsächlichen Erinnerungen Peters an seine Kindheit, nach ehrlichen Gesprächen Peters mit noch lebenden Zeugen, wie mit seinen Geschwistern, mit einer noch lebenden Tante, mit Kindheitsfreunden, nach …

… zeigt sich Peters Kindheit als erinnerbare Folge von Ereignissen und Erfahrungen einer scheinbar „normalen Alltagsgewalt“: Watschn, abwertende Worte, körperliches und emotionales Weggestoßen werden, höhnisches und grobes Ausgelacht werden, Verlassen und Alleingelassen sein.

Es besteht kein Anlass zu zweifeln – Peter ist auf einem Bauernhof aufgewachsen – aufgewachsen in einer Lebenswelt, die geprägt war von Vernachlässigung und Gefühllosigkeit, von Abwertung und Verachtung, von Verrohung und Grausamkeit, von emotionaler und körperlicher Gewalt gegenüber Menschen und Tieren. Diesem Umgang mit sich und anderen Lebewesen entsprechend, richtete sich sein Vater durch exzessiven Alkoholkonsum und seine Mutter durch grenzenloses und schonungsloses Arbeiten zugrunde. Beide verstarben mit Anfang 60.

Und doch ist diese Erinnerung nicht ausreichend für Peter:

„Ich will mich erinnern können. Ich muss mich erinnern können.“

„Was ist wenn Du Dich tatsächlich nicht erinnern kannst? Was ist, wenn etwas passiert ist, was das Erinnern funktional unmöglich macht?“

„Das wäre echt schlimm. Dann wäre ich ja komplett ohnmächtig. Dann hätte ich ja nicht einmal mehr die Erinnerung. Nein, das ist unerträglich für mich. Was, wenn ich bei einer der zahlreichen Watschn tatsächlich ohnmächtig geworden bin? Wenn bei mir einmal sämtliche Lichter ausgegangen sind?“

„Ja, die Frage stellt sich tatsächlich.“

„Puh, das ist aber schwer. Ich weiß nicht, ob ich das akzeptieren kann oder will.“

Warum kann ich mich nicht erinnern? Warum konnte ich mich damals unmittelbar danach nicht erinnern?

Ich bin damals nach meiner Flucht aus Regensburg wieder zu meinen Eltern gezogen. Sie haben mich monatelang sichtlich verstört und verletzt im Schockzustand erlebt – offenbar wegen des Umgangs mit mit mir und der schlechten Benotung. Einige Tage nach meiner Aufstellung hatte ich das Bedürfnis, sie anzurufen und ihnen den wirklichen Grund meines Zustandes mitzuteilen. Die erste Reaktion meiner Mutter, bevor sie sonst irgendetwas gesagt hatte und noch bevor sie zu weinen begann, war für mich völlig überraschend:

Christina, was haben die Dir gegeben?

Diese Frage hat mich wieder innwendig getroffen, ähnlich wie der Satz „Christina, das weißt Du doch!“. Nur, dass ich diesmal nicht körperlich zusammenbrechen konnte, weil ich auf der Couch gesessen bin.

„Das weiß ich nicht.“ Mir wurde übel und schwindelig. „Aber mir scheint, Du stellst die richtige Frage.“

Daran hatte ich noch nicht gedacht, auch nicht die Resonanzgeber in der Aufstellung und auch sonst niemand.

„Was ist, wenn mir die beiden Seminarrektoren mir KO-Tropfen gegeben hätten?“

(Nach Wikipedia sind KO-Tropfen (auch: K.-o.-Mittel, Knockout-Tropfen, Date-Rape-Drogen oder Vergewaltigungsdrogen) sedierende Stoffe, die im Rahmen von Straftaten wie Sexual- und/oder Eigentumsdelikten genutzt werden, um die Opfer zu betäuben und damit wehrlos zu machen. Sie werden Opfern unbemerkt oder in heimlich überhöhter Dosis verabreicht. Dazu werden sie zumeist in Getränke, manchmal auch in Speisen gemischt. Nach Erwachen können sich die Opfer häufig aufgrund von Gedächtnislücken für die Wirkungszeit von ca. 2 – 3 Stunde nicht mehr an die Tat oder den Tathergang erinnern. Das macht den strafrechtlichen Nachweis der Tat oft schwierig.)

Bei dieser Frage meiner Mutter spürte und spüre ich Wut und Empörung in mir. Eine richtig große Wut und Empörung, die ich ansonsten so intensiv bis dato nicht empfunden hatte. Ich bin zutiefst wütend und empört, weil ich mich derart chemisch betäubt, ja nicht wehren konnte, nicht Nein sagen konnte.

Konnte ich noch empört Nein! sagen zu dem Vorschlag „Wir sollten uns einen schönen Abend machen in einem angenehmen Ambiente.“, so konnte ich nicht mehr Nein! sagen und mich wehren bei der nachfolgenden oralen Vergewaltigung. Mein Wille, meine Empörung, mein Körper ist chemisch von den beiden Tätern außer Kraft und außer Funktion gesetzt worden. Wohl nicht aus einem Affekt, aus einer Gelegenheit heraus, nein, langfristig geplant.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich auch an ein Gespräch mit einer Beratungsstelle im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus an die ich mich nach der Lehrprobe wandte. Ich schilderte dort meine beschämenden Erfahrungen im Referendariat und in der Lehrprobe. Von der Besprechung am Vortag konnte ich nichts sagen, weil ich mich ja nicht erinnern konnte:

„Ach ja, wieder dieses Seminar. Das wissen wir schon. Unter uns gesagt: Das kam schon öfter vor. Es haben auch schon zwei, drei Referendare in seinem Seminar versucht, sich umzubringen und eine hat es auch geschafft. Wissen Sie, der geht in drei Jahren in Pension. Da haben Sie keine Chance mehr. Da steht Aussage gegen Aussage. Und da macht sich sowieso niemand mehr die Mühe. Das wird ausgesessen. Der geht bald. Und ich sage es Ihnen gleich, Sie wissen ja, der ist der Leiter der gesamten Seminarlehrer für Deutsch in Bayern. Wenn Sie woanders anfangen, der hat überall seine Finger im Spiel.“

Dann kann ich mich kognitiv tatsächlich nicht erinnern.

Ich weiß, was mir passiert ist, und ich weiß, warum ich mich nicht erinnern konnte. Ich kann mich wieder erinnern. Ich zweifle tatsächlich nicht mehr. Ich kann mich erinnern und aber es ist keine RICHTIGE Erinnerung, keine bildhafte Erinnerung. Das ist schwer.

Meine Erinnerung sind verschiedene Körperempfindungen und spezifische Emotionen, sind bemerkenswerte Verhaltensauffälligkeiten und ist mein kognitiver Wissenssatz:

„Ich bin oral vergewaltigt worden am helllichten Tag im Lehrerzimmer.“

Das ist meine Erinnerung bis jetzt, nicht mehr und nicht weniger.

ICH und die „Horrorfilme“ der Eltern

Immer wieder höre ich die Redewendung „Ich bin gar nicht bei mir!“ oder „Der ist ganz außer sich.“ oder „Die ist ja ganz aus dem Häuschen!“, aber auch „Hallo, ist da jemand zuhause?“.

Aber wo sind wir dann, wenn wir nicht in uns sind? Außer uns sind? Wenn wir nicht zuhause sind?

Manchmal sind wir dann wie im „falschen Film“. Dann sind wir nicht im realen Leben, sondern wie in einem Film. Wir sind in einem fiktiven, von einem Autor oder einer Regisseurin erschaffenen Werk, und noch dazu in einem falschen Film, in einem fremden Film.

Ich erlebe immer wieder Kinder, die unvermittelt und plötzlich aus ihrem Zuhause – ihrem Körper, ihren Gefühlen und Gedanken, aus ihrem eigenen ICH, aus ihrer Identität rutschen, hinein in fremde Filme, hinein in Szenen von Schrecken, Horror und Terror.

Dieses ‚Verrutschen‘ der Kinder in fremde Filme, in fremde Identitäten, und die entsprechenden Reaktionen der betroffenen Mütter und Väter beschäftigen mich sehr.

Robin und sein Vater Tom und Julie und ihre Mutter Anna (Name und persönliche Daten jeweils geändert) sind Beispiele für diese befremdlichen und mitunter verstörenden Dynamiken zwischen Kindern und Eltern.

Der dreijährige Robin sagt plötzlich mit befremdlicher, roboterhafter Stimme: „Ich will nicht nach Italien fahren. Italien ist nicht gut.“ Seine Eltern Tom und Hannah sind ziemlich irritiert, weil sie bis jetzt weder in Italien waren, noch in nächster Zeit irgendeinen Urlaub geplant hatten. „Italien“ ist so gar kein Thema in der Familie. Tom, Robins Vater, lacht zunächst und meint, Robin spinne sich etwas zusammen und hätte eben seine phantastische Phase. Die hätte er als Kind ja auch sehr ausgeprägt gehabt. Da war Knox, sein bester Freund, der war für Tom sehr real war, aber für alle anderen nicht, die konnten Knox nicht sehen… Erst als Robin immer und immer wieder zu allen möglichen und unmöglichen Zeitpunkten genau diesen Satz – „Ich will nicht nach Italien fahren. Italien ist nicht gut.“ – sagt, wird Tom zunehmend ärgerlicher und aggressiver. „Robin, hör auf!!! Halt Deinen Mund!!! Hör‘ endlich auf mit dem Schmarrn! Sonst – …“

Julie verkündet beim Abendessen, sie möchte trotz ihrer 5 Jahre wieder eine Windel in der Nacht tragen. Auf die Frage ihrer Mutter Anna, warum, meint sie: „Dann muss ich nicht auf’s Klo gehen. Und wenn ich eine Windel hab‘, dann brauch ich auch nicht mehr auf’s Klo gehen.“ Anna spürt für einen Sekundenbruchteil einen Hauch eines tiefen und dumpfen Schmerzes – und beginnt dann einfach ein Lied zu singen: „Komm, Julie, sing mit! Das ist so ein schönes Lied! Da kann man auch schön tanzen!“ So singen und tanzen Anna und Julie durch die Wohnung. Ein paar Tage später fragt Julie wieder nach einer Windel, um gleich selbst zu lachen zu beginnen, so als sei das wie ein Spiel: „Komm Mama, singen und tanzen wir…“

Es sind Situationen aus dem normalen, alltäglichen Leben, die mir Tom und Anna beiläufig berichten. Beide kommen wegen ganz anderen Themen immer wieder zu Einzelsitzungen. Für mich sind diese Aussagen der Kinder irritierend und durchaus auch verstörend.

Ich frage nach, möchte mehr wissen von dem, was die Kinder wie und wann sagen.

Dieses Nachfragen meinerseits ist für Tom und Anna ihrerseits nun irritierend. Es scheint, als wäre es Anna und Tom fast unangenehm.

Tom meint erstaunt: „Ja, nimmst Du denn das alles so wörtlich und ernst, was Robin da sagt?! Robin plappert ja die ganze Zeit vor sich hin und die Kindergärtnerin meinte ja auch, er hätte eine ausgeprägte Phantasie, was etwas sehr Wertvolles sei…“

Und Anna, die Mutter von Julie, schüttelt grinsend den Kopf: „Ach geh‘, so wichtig ist das nun auch wieder nicht… Oder?“

„Doch, schon…“ Für mich ist das, was Kinder sagen und ausdrücken, durchaus ernst zu nehmen. Insbesondere dann, wenn Erwachsene, Lehrer, Erzieherinnen, wenn Eltern darauf entsprechend bemerkenswert reagieren:

Anna lenkt sich und Julie von dem Gesagten und dem inneren Schmerz ab, in dem sie zu singen und zu tanzen beginnt. Tom schreit seinen Sohn Robin an, den Mund zu halten und droht ihm mit Schlägen, wenn er nicht aufhört diesen Schmarrn zu reden.

Diese befremdlichen Reaktionen auf das Gesagte der Kinder sind für mich ein Hinweis weisen darauf hin, dass Robin und Julie eben nicht etwas Belangloses und Unsinniges aussprechen.

Danach änderte sich die Atmosphäre in meinem Therapieraum spürbar: Mir ist, als hätte ich etwas gesagt, was ich nicht hätte bemerken und schon gar nicht hätte aussprechen sollen.

Tom schweigt zunächst und schaut mich ernst an:

„Also, wenn das kein Quatsch ist, was Robin da immer sagt, dann wird mir gerade sehr kalt und auch übel. Da könnte ich fast kotzen. Die Kälte und Übelkeit in mir wird immer schlimmer.“ Nach einigen Minuten meint Tom traurig: „Nein, das ist offenbar kein Quatsch.“

Was bedeutet „nach Italien fahren“? „Nichts Gutes. Gar nichts Gutes!“

Anna hingegen beginnt zu weinen:

„Das ist echt schlimm. Ich weiß nicht warum, aber das mit der Toilette ist wirklich schlimm. Ich will mich damit nicht beschäftigen, aber ich muss.“ Warum? „Weil ja sonst Julie in dieser -, in dieser Toilette drin ist, und das ist der blanke Horror für mich! Das geht gar nicht.“

Warum will Julie in der Nacht nicht auf’s Klo gehen? Nicht auf welches Klo gehen? „Ich weiß es nicht. Diese Fragen machen mir Angst!“

Ich erlebe immer wieder, dass Kinder – insbesondere kleinere Kinder – etwas sagen, etwas in Gestik und Mimik ausdrücken, etwas tun, was den Erwachsenen, den Eltern und Großeltern Angst macht. Mehr noch: Sie können offenbar das Gesehene, Gehörte und Gezeigte nicht aushalten. Deswegen reagieren sie auf die Kinder und deren Ausdruck abwehrend, abweisend, ablenkend – mehr oder weniger auffallend, auf jeden Fall nicht der Situation angemessen. Nicht so, wie sie üblicherweise als Erwachsene, Mutter und Vater, Großeltern auf die äußeren und inneren Lebenswelten der Kinder reagieren (wollen).

Was ist da los? Warum verhalten sich Kinder und Eltern so befremdlich?

Ich stelle in meiner Begleitung von Großeltern, Eltern und Kindern seit über zehn Jahren immer und immer wieder fest:

Kinder bringen ihren Eltern den Schrecken, Horror und Terror zurück, den diese niemals wieder erleben wollen. Es ist dieser Schrecken, Horror und Terror, der mit dem Erwachsen werden, mit dem Ausziehen von zu Hause, mit einer festen Partnerschaft, mit der Gründung einer Familie, … – mit dem eigenen Leben vorbei und weg sein soll, vergessen sein soll, aufgewogen und entschädigt sein soll.

Robin wird immer vehementer in seinem „Ich will nicht nach Italien fahren. Italien ist nicht gut.“ und Tom wird immer kälter und übler.

Danach nimmt Tom seinen Sohn auf den Arm und sagt: „Wir fahren nicht nach Italien. Du musst nie wieder – . Nein, nein, wir fahren nicht nach Italien! Hörst du?!“ Robin hört stumm und sehr aufmerksam zu.

Tom hingegen wird nun so übel, dass er sich regelrecht übergeben muss. Als er von der Toilette zurückkommt, klammert sich Robin an seine Beine, laut schreiend „Nein! Nein! Nein!“. Robin gerät völlig außer sich schreiend und nach Luft schnappend wirft er den Stuhl um und schmeißt seine Spielsachen durch die Gegend.

Tom bricht nun völlig zusammen. Er sitzt am Boden hält sich die Ohren zu, die Tränen laufen ihm über die Wangen.

Als Hannah vom Einkaufen nach Hause kommt ist sie zutiefst schockiert: Ihr Sohn Robin tobt wutentbrannt und ihr Mann Tom sitzt weinend am Boden und murmelt vor sich hin: „Ich will nicht nach Italien fahren. Italien ist scheiße.“

Nach dieser Eskalation kommt Tom mit Hannah zu einer Einzelsitzung. Tom will wissen, was da los ist mit ihm und Italien. Er will eine Selbstbegegnung mit Kissen machen. Dabei sucht er sich einen Kissenbezug für sich selbst aus, sein ICH, dann eines für ITALIEN und dann noch einen für die KÄLTE und ÜBELKEIT.

„Ich beginne mit Italien.“ Tom stellt sich auf den Kissenbezug und beginnt sogleich zu sprechen:

„Nach Italien fahren. Für ein paar Tage. „Italien – du magst doch Italien so gerne.“ Ja, ich mochte das Meer so gerne, das Eis und die Vergnügungsparks dort. Aber da wollte ich nicht. Nein! Nein!“

Tom beginnt am ganzen Körper zu zittern.

„Ich soll mit Papa nach Italien fahren. Alleine! Wo ist Mama? Was ist mit Mama?!

Tom beginnt sichtlich zu schwanken.

„Ich muss mich hinsetzen. Mir ist ganz schwindelig. Mir wird richtig schwarz vor den Augen.“

Einige Minuten lang sitzt Tom schweigend und leise weinend.

„Ich weiß nicht, was da mit Mama war. Ich weiß es einfach nicht. Da ist immer nur Nein! Nein! Nein! Ich will nicht nach Italien fahren!“

Tom steht wieder auf und schnauft tief durch: „Naja, und danach war sie ja weg. Sie ist ja gestorben. Ich war auch weg mit Papa. Ich weiß aber nicht, ob wir wirklich nach Italien gefahren sind. Ich war jedenfalls weg und Mama war dann auch weg.“

Tom stellt sich neben das Kissen und schaut es eindringlich an: „Nach langer schwerer Krankheit gestorben – Hat sie es jetzt geschafft?“

Tom ist sechs Jahre alt, als seine Mutter gestorben ist. Sie war schon lange körperlich und psychisch krank. Einfach leidend. Zuletzt hieß es, sie hätte Depressionen. In einem Gespräch mit seiner älteren Schwester erfährt Tom, dass er tatsächlich „danach“ mit seinem Vater weggefahren ist. Von „Italien“ weiß sie nichts. Er sollte nichts davon mitbekommen. Man wollte wenigstens ihn schonen. Als Tom nachfragt, was seine Schwester mit „danach“ meint, schüttelt diese den Kopf und beginnt zu weinen. „Ich weiß es nicht, es hieß sie hätte etwas mit dem Herzen gehabt. Ich sollte das ja auch sagen, wenn mich jemand fragt.“ Tom schüttelt den Kopf. Ihm ist wieder so kalt und übel. „Nein, das glaub‘ ich nicht. Mama ist nicht einfach so gestorben.“

Robin brachte seinem Vater wieder in den Horror des „danach“, den er jahrzehntelang aus dem Bewusstsein halten konnte.

Als Anna zuhause wieder von der Windel spricht, fasst Anna all ihren Mut zusammen und fragt Julie: „Warum? Warum willst Du in der Nacht nicht mehr auf’s Klo gehen?“

„Ich will in der Nacht nicht auf’s Klo gehen, weil dort die schwarze Hand aus dem grünen Klo kommt und mich mit sich nimmt.“ Anna spürt wieder diesen tiefen und dumpfen Schmerz – und beginnt diesmal nicht zu singen.

Anna fragt nach: „Wie schaute denn das Klo aus, wo die Hand aus der Kloschüssel kommt?“

„Also, da sind so gelbe oder braune Fliesen am Boden und an der Wand. Es ist kalt. Das Klo ist ganz grün und das Klopapier hat eine weiße Haube auf, ja, und es ist ganz eng und klein. Und da kommt die schwarze Hand aus dem Klo heraus und die will mich nach unten ziehen. Da mag ich nicht hin. Mama! Ich mag nicht auf das Klo gehen!!! Ich will lieber eine Windel.“

Julie beschreibt nicht die Toilette in der Wohnung, in der sie mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder wohnt. Es ist nicht die Toilette, auf die Julie in der Nacht geht.

Julie beschreibt die Toilette aus Annas Kindheit – und zwar mit einer erschreckenden Genauigkeit: Sogar das Häkeldeckchen über den Ersatzklopapierrollen in der Ecke erwähnt sie. Es ist eindeutig die Toilette aus Annas Elternhaus. Doch Julie hat diese Toilette nicht gesehen. Sie war niemals dort, denn die Eltern von Anna sind vor Julies Geburt gestorben.

Überrascht frage ich Anna: „Welche Bedeutung hat diese Toilette mit der grünen Kloschüssel und dem weißen Häkeldeckchen für Dich in Deiner Kindheit?“

„Eine furchtbare… Das ist es ja. Ich hatte so in der Grundschulzeit einen wiederkehrenden Alptraum – der ist so schlimm, dass ich den gar nicht erzählen kann. Und immer wenn ich dann auf’s Klo gegangen bin und die Spülung drückte, das gurgelnde Geräusch hörte und gesehen hab‘, wie das Wasser hinuntergezogen wurde furchtbar. Da dachte ich immer, jetzt passiert das vom Traum. Ich hab da echt geträumt, es kommt eine schwarze Hand, die mich in ein schwarzes Loch hinunterzieht.“

Anna beginnt zu zittern und zu weinen:

„Es ist genauso wie Julia das sagt, nur dass ich nicht auf die Idee mit der Windel gekommen bin. Ich war der schwarzen Hand im Traum und der Kloschüssel im Klo ausgeliefert, weil ich ja auf’s Klo gehen musste.“

Anna hält kurz inne und ruft erstaunt aus:

Kurz bevor das mit Julie und der Windel anfing, hab ich zum ersten Mal seit ich von zuhause ausgezogen bin, diesen Alptraum wieder geträumt! Was macht Julie in meinen Alpträumen?!“

Anna ist in einem Elternhaus aufgewachsen, dass sehr gewalttätig war. Der Umgang ihrer Eltern miteinander und mit den Kindern war geprägt von verbaler und körperlicher Gewalt. Anna hat mehrfach erlebt wie sich Vater und Mutter geprügelt hatten, wie Möbel und Geschirr zerbrochen wurden, wie sie und ihre jüngere Schwester geschlagen wurden. Ich frage Anna, ob sie deswegen diese Alpträume und die Zustände auf der Toilette hat:

„Nein, das ist etwas anderes. In den Alpträumen geht es um das, was ich bis jetzt nicht wahrhaben wollte, ja, und eigentlich auch nicht konnte. Jetzt kann ich zwar immer noch nicht, aber ich will immerhin. Nein, das stimmt auch nicht, wollen tu‘ ich nicht, aber ich sehe mich gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen, weil Julie da mitten drinnen steckt.“

So wie Robin den Horror seines Vaters, so drückt Julie den Terror ihre Mutter aus. Beide bringen ihre Eltern an die Grenze dessen, was sie aushalten können und unerbittlich darüber hinaus.

Wie kann das sein, dass Kinder derart zu Wiedergängern des erlebten Schrecken, Terrors und Horrors der Eltern werden?

Kinder sind manchmal wie „Wiedergänger“ unbewusster, unbewältigter, unverarbeiteter Lebenserfahrungen ihrer Eltern. Sie sind wie „Sprachrohre“, die diese traumatischen Erlebnisse – diesen Schrecken, Horror und Terror der Eltern unerbittlich verkünden.

Traumatische Erfahrungen sind an sich für unsere Psyche, unseren Körper und unsere Gefühle überfordernd und überwältigend. Das bedeutet: Erlebnisse von Schrecken, Horror und Terror, Erlebnisse mit dieser vernichtenden Qualität können nicht normal und gesund erfahren, und entsprechend auch nicht verarbeitet und bewältigt werden. Stattdessen werden sie durch verschiedene Notfallmechanismen so bearbeitet, dass ein Weiterleben, ein Überleben möglich ist. Der Schrecken, der Horror und der Terror wird demnach solange fragmentiert, die grausame Realität solange verändert, bis sie für unsere Psyche ertragbar und aushaltbar ist. Diese manchmal bis zur Unkenntlichkeit veränderten Bruchstücke der Realität werden dann in vor-bewussten Bereichen unseres Gehirn gespeichert.

Deswegen ist der tatsächlich erlebte Schrecken, Horror und Terror den Eltern nicht gänzlich bewusst: Zersplittert und abgespalten, wie weg und nie dagewesen – wie vergessen und gelöscht.

Aber nur scheinbar, denn: Traumatische Erlebnisse sind in unserem Körper gespeichert. Unsere Gefühle von Ohnmacht, Scham, Angst, Ekel, Wut, künden davon. In unseren Gedanken, Worten und Handlungen drücken sie sich aus. Doch wir können diese nicht (gänzlich) verstehen. Das bedeutet: Wir verstehen nicht wirklich, was wir da spüren, fühlen, denken, sprechen und tun.

Deswegen können wir auf traumatische Erlebnisse unserer Biographie nicht bewusst zugreifen, können nicht bewusst mit ihnen umgehen. Im Gegenteil: Diese traumatischen Fragmente greifen zu auf unser Bewusstsein zu und verändern unser Bewusstsein. Sie verfälschen unsere Wahrnehmungen. Sie (zer)stören unsere Identität.

Was bedeutet das? Erlebnisse von Schrecken, Horror und Terror überwältigen immer wieder unser Bewusstsein. Wir werden sozusagen davon gesteuert und gelebt, ohne dass uns dies bewusst ist.

Ich erlebe immer wieder: Kinder fühlen und spüren in ihrer Liebe zu den Eltern und in ihrer alternativlosen Abhängigkeit von den Eltern und deren Befinden, eben diese Splitter von Schrecken, Horror und Terror – und sie bringen diese zum Ausdruck.

Robin und Julie verlieren ihre eigene, ihnen ursprüngliche Identität. Sie verlieren sich selbst und rutschen in Szenen aus der Kindheit von Tom und Anna, tauchen ein in deren Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen. Robin und Julie geraten tatsächlich in einen „falschen Film“ – in einen nicht als Realität anerkannten Schrecken, Horror und Terror. Sie sind in einen „Horrorfilm“, der droht zu einem realen Schrecken, Horror und Terror für die Kinder zu werden.

Was bedeutet das für die Kinder in die Kindheit ihrer Eltern zu rutschen? In die Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen ihrer Eltern zu tauchen? Mitten in diese Horrorfilme der Eltern zu geraten?

Die Kinder erleben sich selbst und ihre Eltern plötzlich in sehr befremdlichen Zuständen, die verwirrend und verstörend sind, die mitunter traumatisierend sind. Sie geraten außer sich, außerhalb ihres gewohnten üblichen Kindseins und sagen etwas, machen etwas, zeigen etwas, das sie selbst und die Eltern zutiefst erschreckt.

Die Eltern wiederum begegnen plötzlich und unvermittelt ihrem unbewussten Schrecken, Horror und Terror der Kindheit. Sie erleben sich existentiell bedroht durch ihre Kinder. Genauer gesagt: Sie fühlen sich in Lebensgefahr durch die Kinder als Inbegriff dessen, was sie erleiden mussten. Sie können die Kinder nicht mehr als Kinder an sich wahrnehmen: Die Kinder verkörpern die Täter, die Opfer, die Gewalttaten von damals. Und dagegen setzen sich die Eltern in empfundener höchster Not zur Wehr: Sie ignorieren, lenken ab, machen lächerlich, drohen und schimpfen, schlagen und verprügeln… und/oder verstecken sich, weinen, betteln um Schonung, versuchen zu verhandeln, sie flüchten und laufen davon,…

Die Kinder sind nun nicht mehr „nur“ in die Horrorfilme ihrer Eltern geraten. Die Horrorfilme werden so für die Kinder zur Realität von Schrecken, Horror und Terror.

Und nun? Hoffnungslos und zwangsläufig vom Horrorfilm zur Horrorrealität?

Nein. Es führt keine Autobahn ohne Ausfahrt in Richtung „Horrorrealität“ als Endstation. Es gibt immer wieder Rastplätze zum Innehalten und Ausfahrten zum Umkehren.

Wie ist das möglich? Es ist eigentlich ganz einfach und doch trotzdem manchmal so unendlich schwer.

Robin und Julie haben diesen Horrorfilm ihrer Eltern immer und immer wieder vorgeführt. Doch die Eltern konnten nicht klar sehen und hören, nicht klar verstehen und bewerten, was ihr Kind da vorführt. Aber Tom und Anna haben in ihrem gesunden Anteilen darüber gesprochen. Sie haben mir zwar beiläufig und wie eine Anekdote davon berichtet: So sollte ich hören und bemerken und zugleich ja nicht hören und bemerken. Aber sie haben gesprochen, haben diese Dynamik öffentlich gemacht. Dadurch eröffnete sich ihnen die Möglichkeit, mit mir, die nicht in dem Schrecken, Horror und Terror gefangen ist und nicht existentiell bedroht ist, wahrzunehmen:

Was sagt mein Kind? Was zeigt mein Kind?

Wie reagiere ich darauf? Was löst das an Gefühlen, Körperempfindungen und Gedanken aus?

Welcher Film, welcher Horrorfilm wird da gerade vorgeführt?

Welche Realität meiner Biographie ist mir noch nicht bewusst oder noch nicht aushaltbar?

Je mehr Antworten ich für mich finde, desto mehr kann meine Psyche, mein ICH wahrnehmen, was gerade passiert, kann wahrnehmen, wenn ein Kind außer sich gerät, hinein in Horrorfilme der Erwachsenen. Je mehr ich weiß über meinen Schrecken, Horror und Terror desto mehr und eher kann ich zuordnen und sortieren.

„Julie, nicht Du willst nicht auf’s Klo gehen in der Nacht! Das bin ich. Ich wollte als Kind nicht aufs Klo gehen, weil ich mich so gefürchtet habt, dass mein Alptraum von der schwarzen Hand in der Nacht am Klo wirklich passiert.“

Julie hört interessiert zu: „Echt, jetzt? Da bin ich aber froh. Aber, Mama, warum hast Du so was geträumt?“

Weil mir als Kind ganz was Schlimmes passiert ist.“

Julie schüttelt den Kopf, steht auf und meint im Gehen noch: „Das mag ich jetzt nicht mehr hören! Das ist mir zu viel.“

Tom beschäftigt sich intensiv mit seiner Ahnung, seine Mutter ist keines natürlichen Todes gestorben, wie offiziell gesagt wurde, sondern seine Mutter habe sich umgebracht. Mehr noch: Womöglich habe Tom etwas mitbekommen, habe sie vielleicht sogar gefunden…

Von da an verkündet Robin zufrieden „Wir fahren nicht nach Italien, weil Italien scheiße ist.“

Ich frage mich, was ich als Kind ungehört und unverstanden über die unverarbeiteten Lebenserfahrungen meiner Eltern gesagt und gezeigt habe… Wie bin ich in den Horrorfilm meiner Eltern geraten? Wann ist er mir zur Realität geworden?

Was hast Du, was haben Sie ungehört und unverstanden gesagt und gezeigt?

ICH und das Jahr der Angst vor der Angst

Ein Jahresrückblick. Ein schwieriges Jahr für mich und für viele Menschen, die ich begleiten durfte. Ein wahrlich besonderes Jahr der Selbstbegegnungen.

dav

Für mich ist dieses Jahr 2020 ein Jahr der Angst:

Angst vor dem Virus, Angst vor zu nahen Kontakten bis hin zu Angst vor Menschen überhaupt, Angst vor den mächtigen Politikern und ihrem Handeln. Angst um mich und meine liebsten Menschen, Angst um die Welt, wie sie war und wie sie sein wird, Angst um die demokratische Grundordnung, Angst vor der Polizei und dem Gesundheitsamt, Angst vor dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Angst um Angst.

Dazu passt ein Lied, das ich dieses Jahr zufällig hörte. Ein Lied, das sich nicht eindeutig interpretieren lässt – handelt es sich um einen amerikanischen Soldaten im Krieg (gegen den Irak?) oder handelt es sich um einen Menschen in einem inneren Kriegszustand?

„I’m just trying to survive. What if what you do to survive, kills the things you love? Fear’s a powerful thing! It can turn your heart black, you can trust. It’ll take your God filled soul and fill it with devils and dust.“

(„Ich versuche nur zu überleben. Aber was ist, wenn das, was mich überleben lässt, genau das tötet, was ich liebe? Angst ist eine mächtige Sache! Es kann Dein Herz schwarz werden lassen, das kannst Du mir glauben! Es wird Deine göttliche Seele ergreifen und sie mit Teufeln und Staub füllen.“)

Zum ersten mal hörte ich es bewusst zu Beginn des ersten Lockdowns im Frühjahr: Ich fuhr nach einem ziemlich anstrengenden Seminar von München aus in die Berge, um allein auf einen Berg hinaufzulaufen; und ich fuhr mit einem gewissen Unbehagen:

Ist es erlaubt, in die Berge zufahren? Werde ich von der Polizei kontrolliert? Wird mein Auto mit Münchner Kennzeichen von den Einheimischen beschädigt? Werde ich verbal aufgefordert „daheim zu bleiben“? Kann ich mich überhaupt unter diesen Umständen in den Bergen wohl fühlen? Bin ich ein egoistischer Mensch – rücksichtslos und verantwortungslos? Soll ich nicht lieber solidarisch daheim bleiben und meinen Beitrag zur Bekämpfung des Virus leisten? Bleibe ich aber daheim, dann wird es wirklich schwierig für mich. Ich bin kein Mensch, der dauerhaft über Wochen in einer Wohnung sitzen und sich nur in der Stadt bewegen kann und will.

Und gerade in diese Gedanken hinein, hörte ich diese Liedzeile:

„Fear’s a powerful thing. It can turn your heart into black!“

Ja, und da sah ich mich tatsächlich dieser Angst gegenüber. Die Verführung, ihr nachzugeben, schien so verlockend und wie mächtig zu sein – daheim zu bleiben und niemanden zu treffen. Doch der Preis dieser Art Sicherheit ist hoch:

„What if what you do to survive, kills the things you love?“

Und so lief ich den Berg hinauf und wieder hinunter.

Es ist tatsächlich diese Angst mit ihren Teufeln und den jede Sicht trübenden brennenden Staub, die mir während dieses Jahres immer wieder ins Gesicht, mir direkt die Augen schaute.

Es ist nicht die Angst vor dem Virus und auch nicht die Angst vor staatlichen Ordnungsmaßnahmen, die mich dieses Jahr derart befasste.

Es ist meine Angst vor dieser Angst: „It can turn your heart black.“

Was bedeutet diese Metapher eines „schwarz gewordenen Herzens“?

Antonia (Name und persönliche Merkmale geändert) ist eine Lehrerin Ende 40. Sie kommt zu mir zu Einzelterminen wegen einer sehr unschönen Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten. Sie möchte für sich einen Abschluss finden können.

„Weißt Du, Christina, in mir ist eine sehr, sehr große Traurigkeit, fast ein Meer von Traurigkeit. Sie bleibt eigentlich immer da. Völlig unberührt, von was wir hier sprechen, was wir hier aufstellen. Ich bin einfach traurig.“

Nun ja, ich bin überrascht. Weder die Kindheit mit einer sehr kalten Mutter und schwierigen Vaterbeziehung, noch deren konflikträchtige Beziehung, noch die die fürchterliche Beziehung zu einem narzistischen Mann schien mit dieser umfassenden Traurigkeit in Verbindung zu sein.

„Was sagt denn die Traurigkeit? Offenbar verstehen wir sie nicht richtig.“, frage ich Antonia.

„Dass sie eigentlich keine Traurigkeit ist, eher ist sie eine Verzweiflung, nein, mehr noch ein Schock.“, antwortet Antonia.

Damit hatte ich nicht gerechnet: „Die Traurigkeit sagt, dass sie eigentlich ein Schock ist. Warum bist Du schockiert? Was schockiert Dich?“

„Dass mein Sohn und seine Freundin den Kontakt zur Welt eingestellt haben: Seine Freundin hat derart viel Angst vor Corona, dass sie niemanden wirklich in der Realität treffen will. Er respektiert dies und so gibt es nur noch Kontakt per Video. Wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, dann fragt er nach Symptomen und hält sehr großen Abstand. Er ist da echt sehr strikt und schroff. Zuvor war er ein recht geselliger Mensch. Seine und auch ihre Freunde verstehen dies nicht. Sie wenden sich fast alle von ihm ab und orientieren sich neu, weil sie diese Angst und die vielen Hygienevorschriften vor und während eines Treffens nicht mehr mitmachen wollen und können.“

„Und Du? Wie geht es Dir damit? Was löst das in Dir aus?“ frage ich Antonia.

„Ich bin ja seine Mutter. Ich kann ja schlecht sagen, Du kannst mich mal und tschüss. Und ich bin ja auch Lehrerin und bin per se mit so vielen Kontakten ein Hochrisikomensch für die beiden. Ich versuche, das ja wirklich zu verstehen und mich fern zu halten. Seit März nur noch zu telefonieren oder Treffen im Freien mit drei Meter Abstand und am besten noch einen Schnelltest. Ja, ich versuche, ihre Angst und Abschottung zu verstehen und zu respektieren.“

„Du versuchst?“, frage ich nach.

„Ja, aber es ist hart und es wird immer härter. Da verändert sich etwas in mir. Ich kann dieses ständige Misstrauen nicht mehr aushalten. Es ist demütigend für mich. Ich passe ja eh auf und bin vorsichtig. Ich bin Lehrerin und ich kann und will nicht zuhause bleiben. Es ist so, als würde sich mit jedem mal mehr etwas in mir verhärten. So als würde etwas in mir kaputt gehen.“

„Fear’s a powerful thing. It can turn your heart into black! It’ll take your God filled soul and fill it with devils and dust.“

Antonia ist für ihren Sohn – zumindest für seine Partnerin – eine große Gefahr. Schon allein deswegen, weil sie Lehrerin ist und dadurch sehr, sehr viele grundsätzlich gefährliche Kontakte zu Menschen hat. Und sie ist es umso mehr, weil sie diese Kontakte zu ihren Schülern – den „normalen Präsenzunterricht und die damit verbundene Beziehungsarbeit – für sehr wichtig erachtet. In Diskussionen äußert sie sich dem entsprechend immer wieder skeptisch und besorgt über Distanzunterricht via digitales Lernen.

Doch was bedeutet es, wenn Antonia mit ihrem ganz „normalen“ Leben als Lehrerin als Gefahr für ihre nächsten Menschen bewertet wird? Wenn sich ihr Sohn und seine Partnerin von ihr distanzieren, weil sie mit ihrem So-sein ein nicht kalkulierbares Risiko zu sein scheint?

Was bedeutet es, wenn ICH mit meinem Leben, meinen Werten und Vorstellungen eine Gefahr für meine nächsten Menschen zu sein scheine? Wenn sie sich mir gegenüber so verhalten, als müssten sie sich vor mir schützen?

Und umgekehrt auch: Was bedeutet es, wenn ICH in jedem Menschen, dem ich begegne eine potentielle Gefahr sehe? Wenn mir mein Gegenüber zum viralen Feind wird? „

„I got my finger on the trigger, but I don’t know who to trust. When I look into your eyes, there’s just devils and dust.“

(Ich habe meinen Finger am Abzug, aber ich weiß nicht, wem ich vertrauen kann. Wenn ich in Deine Augen schaue, sind da nur Teufel und Staub.“)

Tom (Name und persönliche Merkmale geändert) ruft mich Mitte April an, um einen Einzeltermin und eine Selbstbegegnung in der Gruppe abzusagen. Er habe so viel Angst, sich auf dem Weg in meine Praxis anzustecken. Er könne unmöglich kommen. Ein Gruppenseminar ginge schon gar nicht, die vielen Menschen und die Nähe. Er bedauere dies zutiefst. Für einen Moment hörte ich Tom leise, fast stumm Weinen.

Ich bin doch etwas überrascht. Denn Tom bedeuten diese Termine sehr viel. (Wenn ich einen Termin verschiebe, dann ist das nicht einfach für Tom.) Ich frage nach, ob er nicht doch kommen könnte. Mein Raum wäre ja groß genug, wir könnten mit Masken arbeiten und permanent lüften…

„Nein. Die Angst mich anzustecken und ins Krankenhaus zu kommen, ist übermächtig. Die ganzen Leichenberge in Italien. Die Särge und die Intensivstationen. Es geht nicht. Die Angst ist wirklich riesengroß.“

Ich bin erschrocken, ob der Intensität und Dimension der Angst. „Ja, ich kann Deine übermächtige und riesengroße Angst spüren.“ Diese Intensität und Dimension der Angst macht mir tatsächlich Angst: „Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, dieser Angst nachzugeben. Es wird in Zukunft nicht leichter werden, aus dem Haus zu gehen und das zu tun, was Dir wichtig ist, wenn Du dieser Angst nachgibst.“

Tom schweigt lange und meint dann leise: „Ja, ich weiß, aber ich kann nicht anders.“

Ein paar Tage später ruft Tom erneut an, er möchte nun doch kommen. Ich bin erleichtert und freue mich sehr. Von da an kann Tom regelmäßig wieder zu Einzelterminen kommen. Diese Angst vor dem Virus ist das ganze Jahr über immer und immer wieder Thema. Sie lässt sich ursächlich einem Geburtstrauma mit nachfolgender Infektion und längerer Isolation mitsamt Trennung von seiner Mutter zuordnen. Das ist Tom völlig klar und mir auch. Und trotzdem scheint diese Angst stärker zu sein als alle Selbstbegegnungen. Es sind immer wieder die Toten von Italien und den USA, die Särge, die Bilder aus den Intensivstationen, die im Frühjahr in den Nachrichten immer wieder gezeigt wurden, die in Tom auftauchen.

„Christina, Du weißt gar nicht, wie schlimm das wirklich ist. Es ist seit dem Frühjahr die Hölle für mich. Das Virus ist ja unsichtbar. Auch asymptomatische Infizierte können ansteckend sein. Es kann jeder haben, auch Du. Jeder ist für mich gefährlich. Was Du, was das für mich und meine Angst bedeutet?! Wenn ich einkaufen gehe, ist es gefährlich. Wenn die Handwerker kommen, um weiter meine Wohnung zu renovieren, ist es hochgefährlich. Ich verschanze mich regelrecht in meiner Wohnung. Das geht ja mit Homeoffice sehr gut. Niemand darf rein kommen und ich darf nicht rausgehen. Dabei bin ich doch so einsam und allein. Es hilft nichts. Die Angst vor dem Virus und der Intensivstation ist viel stärker als alles andere.“

„I got my finger on the trigger, but I don’t know who to trust. When I look into your eyes, there’s just devils and dust.“

Das stimmt, dass es so schlimm ist, wusste ich bis dato nicht, wollte ich vielleicht auch nicht wissen. Ich dachte, mit dem Herkommen können und den tiefgehenden Selbstbegegnungen zu den traumatischen ersten Lebenswochen wäre diese Angst für Tom zusehends regulierbar geworden. Ich hatte mich offenbar getäuscht. Ich erkannte nicht, dass die Einzeltermine einmal im Monat der einzige Kontakt zu einem Menschen sind, der Tom möglich ist. Der einzige Kontakt, den diese übermächtige Angst zulässt.

Diese Erkenntnis ist bitter. Tom ließ sich in den letzten Monaten vor dem Virus sichtlich mehr und mehr auf Menschen ein. Er ging offener und gesprächiger auf sie zu. So war es eine Freude für mich zu erleben, wie Tom zuletzt in Gruppen seine Anliegen aufstellte und für andere Teilnehmer als Resonanzgeber sich zur Verfügung stellte. Ich erinnere mich noch an sein Fazit über ein Seminar Ende 2019:

„Ich bekomme langsam eine Ahnung, dass ich den Menschen, der Welt nicht grundsätzlich misstrauen muss. Die Welt ist vielleicht doch nicht durch und durch schlecht.“

Und dann tauchte wenige Monate später das Virus auf und mit ihm die schrecklichen Bilder aus Italien und den USA.

„Wie lange musst Du Dich verschanzen? Was muss passieren, dass Du Dich wieder halbwegs sicher fühlen kannst?“

„Hm. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Also, ja, bis es einen Impfstoff gibt.“

„Also, bis vielleicht Ende 2021, bis genügend Menschen geimpft sind. Dann kannst Du Dich wieder sicher fühlen und kannst Deine Verschanzung aufgeben…“

„Nein, das stimmt nicht. Der Impfstoff ist ja auch nicht sicher, so wie die Grippeimpfung auch nicht wirklich sicher ist. Vielleicht dann, wenn es den Virus gar nicht mehr gibt.“

„Hm. Du kannst Dich also erst dann wieder sicher fühlen, wenn der Virus ausgerottet ist?“

„Nein, nein.“, antwortet Tom schnell, um dann lange zu schweigen. „Wenn dieser Virus weg ist, dann kommt der nächste Virus. Ich kann mich nie wieder sicher fühlen. In mir hat sich etwas verändert, ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen.“

„Fear’s a powerful thing. It can turn your heart into black! It’ll take your God filled soul and fill it with devils and dust.“

Toms Angst vor dem Virus und seine entsprechenden Mechanismen den Virus und die Intensivstation zu überleben, hinterlassen Spuren. Selbst dann, wenn der Virus offiziell für besiegt erklärt wird.

Es ist durchaus eine „teuflische“ Angst, die uns in Sicherheiten verführt, die keine wirklichen Sicherheiten sind. Es sind Sicherheiten, die einem gesunden Menschsein zuwiderlaufen. Es ist durchaus eine „staubige“ Angst, die in den Augen brennt und die Sicht trübt.

„I’m just trying to survive. What if what you do to survive, kills the things you love?

Es geht mir nicht um ein Überleben des Virus, das zu zerstören droht, was ich liebe, was mir wichtig ist. Es geht mir um ein Leben mit dem Virus, und alledem was mir wichtig und lieb ist.

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Zu meinem gesunden Leben gehört die Bewegung in der Natur, in den Bergen, genauso, wie wirkliche Begegnungen mit Menschen, mit meinen liebsten Menschen, mit meine Klienten und Studenten. Zu meinem gesunden Leben gehört aber auch eine Selbstverantwortung für mich und mein Leben und eine verantwortungsbewusste Risikoeinschätzung von Gefahren meines Lebens. Und so werde ich auch nächstes Jahr weiterhin dieser Angst mit ihren „Devils“ und ihrem „Dust“ in die Augen schauen und in die Berge fahren und Einzeltermine vergeben und Gruppenseminare live anbieten, sofern es mir rechtlich erlaubt ist und ich dies für mich und andere verantworten kann und will.

Und nun zum Schluss für diejenigen, die sich das Video zu „Devils and Dust“ von Bruce Springsteen anhören und anschauen wollen:

ICH und der Weg vom dramatischen Trauma ins traumatische Drama

Tanja und Peter wollen regelmäßig zu mir kommen, um ihre Beziehung konstruktiv zu gestalten – das bedeutet, diese entweder zu beenden oder anders zu leben.

Sie sind seit 34 Jahren unglücklich verheiratet. Ihre Beziehung war von Anfang an geprägt von einer sehr unheilvollen Dynamik – nicht miteinander und nicht ohne einander leben zu können. Infolgedessen suchten beide für sich und auch gemeinsam immer wieder Hilfe bei Therapeuten unterschiedlichster Fachrichtungen. Mit der Zeit und mit jedem nicht hilfreichen Versuch – sie konnten trotz alledem nicht miteinander und nicht ohne einander leben – wurden ihre Versuche immer verzweifelter und der Leidensdruck immer größer. Zuletzt entdeckten sie die Methode der Aufstellungen für sich. Sie schöpften neue Hoffnung, versprach doch diese Methode nicht auf der Symptomebene – also verhaltenstherapeutisch und lösungsorientiert auf der Paarebene – zu verweilen, sondern in die Tiefe auf die tatsächlichen Ursachen zu schauen.

Und so stellten beide jeder für sich bei verschiedenen Aufstellungsleitern sehr, sehr viele Anliegen und Anliegensätze auf. Dabei zeigten sich in ihren Arbeiten immer wieder bereits bekannte, aber auch unbekannte, erwartete und unerwartete Aspekte und Facetten ihrer beider Kindheiten als Ursache für ihre gegenwärtigen Beziehungsprobleme:

Peter und Tanja sind beide bei Eltern aufgewachsen, die durch Familie und Krieg zutiefst verletzt und verstört worden waren. Sie sind gewissermaßen gezeugt in unendlich tiefes Leid und in unerträglichem Schmerz; und zugleich aber sind sie gezeugt in unendlich großer Hoffnung, dass mit ihnen endlich alles besser, alles gut werden müsse. Für Petrund für Tanja bedeutet dies von Anfang an ein Leben, das geprägt war von Verwechselt werden, Idealisiert werden, Nicht gesehen werden, Missverstanden werden, Missbraucht werden – von Not und Leid, von lebensbedrohlichen emotionalen und körperlichen Schmerzuständen. Ein traumatisierendes Kinderleben mit traumatisierten Eltern, Großeltern und Geschwistern.

Doch trotz all dieser emotional bewegenden und klaren Aufstellungen änderte sich nichts an den bestehenden destruktiven Beziehungsdynamiken:

Tanja und Peter können nicht miteinander leben und auch nicht ohne einander leben. Und so leben sie weiterhin in Wehklagen, in gegenseitigen Anklagen und Vorwürfen, in Streit und Verletzungen, und in wiederkehrenden Rückzügen in ein Leben fern ihrer Ehe, nicht ohne auch diese zu beklagen.

Und so kommen beide sichtlich fix und fertig, zermürbt und resigniert, müde und zerschlagen, und doch nicht ohne Hoffnung bei mir an. Ihr gemeinsames und immer wieder formuliertes Anliegen ist, dass dieser offensichtlich unerträgliche Zustand ein Ende finden möge – in einem gemeinsamen Leben oder in einer Trennung, je nach dem.

„Wenn wir nur endlich Frieden schließen könnten…“

Doch was kann die Arbeit mit mir nach alledem noch bewirken? Was kann sich noch tun nach all den vielen Aufstellungen mit den vielen Anliegensätzen? Ich wusste es nicht.

In den folgenden Paarsitzungen erschlossen sich Tanja und Peter immer wieder Bezüge und Ereignisse in ihren Biographien, die bisher gar keine oder nur wenig Beachtung fanden. Und so fügte sich Puzzleteil um Puzzleteil zu einem stimmigen Gesamtbild. Dabei zeigte sich immer klarer, dass es ihre (früh)kindlichen Erfahrungen sind, die ihr Miteinander bis in die Gegenwart derart leidvoll werden lassen:

Peter wuchs in der Nachkriegszeit in Bayern auf als Kind von zwei Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland. Seine acht Jahre ältere Schwester erlebte die Vertreibung als drei jähriges Kind. Dieses traumatische Ereignis ‚Vertreibung aus dem Sudetenland 1946 und gewaltsamer Heimatverlust‘ bestimmte deren Leben bis zum Schluss: Die Mutter und deren Mutter, der Vater und seine Mutter und die große Schwester – sie alle lebten nur „körperlich“ in Bayern. Die tatsächliche Heimat war und blieb bis zu deren  Lebensende der mütterliche und väterliche Herkunftsort im Sudetenland. In ihrem neuerrichteten Haus in Bayern lebten diese sozusagen weiter – es wurden die sudetendeutsche Bräuche weitergefeiert, Anekdoten von den Bewohnern erzählt und natürlich im entsprechenden Dialekt gesprochen.

„Ich lebte ja mit lauter Gespenster zusammen. Meine Eltern und meine Schwester, die Großeltern waren ja nicht wirklich lebendig. Und die Menschen, von denen sie immerzu so lebendig und emotional erzählten, waren ja gar nicht mehr am Leben oder zumindest nicht hier in Bayern.  Das hörte sich für mich aber immer so an, als wäre das Sudetenland hier in unserem Haus. Das Haus war überfüllt von sudetendeutschen (Un)toten. Mein eigentlicher Heimatort – das bayerische Dorf mitsamt seinen Bewohnern kam nicht wirklich vor und die beiden sudetendeutschen Dörfer waren allgegenwärtig. Ich hab mich bis zum unserem letzten Termin hier nie wirklich bewusst als ‚bayerischer Bua‘ gesehen, obwohl ich ja in Bayern geboren bin. Ich bin ja nicht heimatvertrieben. Ich nicht – und trotzdem.. Es hieß es ja immer ‚Wir Heimatvertriebene…‘ “

Peter war der „Sonnenschein“ der zutiefst traurigen Familie. Seine Geburt wurde herbeigesehnt gleichermaßen wie sie herbeigefürchtet wurde – verlief doch schon die Schwangerschaft mit einigen Komplikationen und unter ständiger Angst, um das ungeborene Kind. Und so war auch die Geburt geprägt von mehreren dramatischen Umständen. Es war ein Glück, dass sowohl Mutter als auch Peter diese überlebten.  Doch damit noch nicht genug: Im ersten Lebensjahr erkrankte Peter zweimal derart schlimm, dass wieder mit seinem Tod zu rechnen war. Doch dann ging es aufwärts: Peter schien ein fröhlicher und lebendiger Treibauf zu sein, der mit all seinem Kräften versuchte, Leben in das Haus zu bringen. Die Untoten sozusagen wiederzubeleben. Es glückte ihm nicht. Mutter und Vater, die Großeltern und seine Schwester blieben in ihrer tiefen stillen und wortlosen Traurigkeit und Verzweiflung über den Heimatverlust stecken. Und so wuchs in Peter eine unendliche Einsamkeit und Verlassenheit: Er blieb allein mit seiner eigentlichen Lebendigkeit:

„Ich wollte ja spielen und lachen und raufen – aber da war niemand wirklich zuhause – also, sie waren schon da, aber so still, so tot, so unlebendig. Ich hätt‘ so dringend jemanden gebraucht, der mit mir was macht.“

(Dieses Ausmaß an ausschließlicher Identifikation mit der verlorenen Heimat im Sudetenland, dieses bedingungslose Festhalten daran – man könnte fast sagen, das „So weiterleben, als hätte es keine Vertreibung gegeben“, dieser innerliche wortlose und unsagbare Schmerz – erschreckt und berührt mich gleichermaßen. Obgleich ich diese Thematik persönlich aus meiner Familiengeschichte kenne und in einigen Beratungsprozessen kennenlernen durfte, scheint mir diese Radikalität an Realitätsverleugnung in Peters Familie in ihrer Dimension immer wieder gänzlich unvorstellbar.)

Selbst als Peter und Tanja heirateten, blieb dieses „Wir Heimatvertriebene“ bestehen: Peter heiratete als heimatvertriebener Sudetendeutscher in Bayern ein „bayrisches Madl“. Zum tiefen, aber niemals ausgesprochenen Leidwesen seiner Familie heiratete Peter keine Frau aus der Heimat in der Heimat. Tanja war ihnen durchaus nicht unrecht, aber sie war halt keine aus der Heimat… Dafür aber liebte Peter Tanja umso mehr. Endlich – endlich hat er jemanden für sich gefunden, der ihn wirklich wahrnimmt, der mit ihm wirklich zusammenlebt, der mit ihm etwas unternimmt, der ihn einfach lieb hat und da ist…

(Im Laufe der bisherigen Paarsitzungen bin ich immer wieder aufs Neue erstaunt, wie passgenau die Traumabiographien von Peter und Tanja sich ineinander fügen und gegenseitig verstärken.)

… Tanja ihrerseits wird ebenfalls sehnlichst erhofft und erwartet von ihrer Mutter – einer Frau, die sichtlich traumatisiert ist: Verletzt, verstört und erschüttert durch die Gewalt des Krieges und durch die Gewalt in ihrer Familie, ihr Leben lang bedroht und verfolgt durch die Erinnerungen an diese fürchterliche Vernichtungserlebnisse. Nur wenn sie sich anfänglich körperlich, später dann emotional an ihrer Tochter festhält und festklammert, nur dann fühlt sie sich sicher, nur dann kann sie buchstäblich weiterleben… Dieses Klammern an Tanja, ihrer Tochter, ist ein existentielles Klammern. Sie braucht ihre Tochter, um weiterleben zu können. Zumal Tanjas Vater zwar anwesend ist, sich aber zusehends in die Rolle des Ernährers der Familie zurückzieht. Er arbeitet sehr, sehr viel, um die Familie zu finanzieren. Mit diesem sichtbaren existentiellen Leiden seiner Frau ist er jedoch völlig überfordert. Er kann seiner Frau nicht anders helfen, als zu arbeiten und Geld zu verdienen. Damit allerdings überlässt er Tanja und ihren vier Jahre später geborenen kleinen Bruder den erschreckenden und lebensbedrohlichen Traumazuständen ihrer Mutter.

„Nein, um mich ist es da nie gegangen. Um mich geht es bis heute ja nie. Meine Bedürfnisse waren da nicht existent. Ich war einfach für sie da, ungefragt dazu da, dass sich meine Mutter in ihrer Angst und Verzweiflung an mich klammern konnte. Das war so furchtbar, das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Deswegen bin ich dann ja nach der Schule, sobald es ging, von zuhause regelrecht geflohen. Es war zuhause nicht auszuhalten mit meiner Mutter in ihren Zuständen und meinem anwesenden und doch nicht anwesenden Vater.“

Immer wenn sich die Mutter an Tanja festhält, wenn Tanja ihre Mutter retten muss, wird sie „vergiftet“ von dieser allumfassenden und allmächtigen, aber nie wirklich kenntlich gemachten, benannten Vernichtungsenergie. Und so wird Tanja zusehends allergisch gegen dieses schädliche Gebraucht und Benützt werden, allergisch gegen das schmerzhafte Nicht gesehen werden und Verwechselt werden. Genau davor ist Tanja geflohen…

… bis sie sich in Peter verliebte, der sie seinerseits existentiell braucht, weil er doch endlich jemanden für sich braucht, der ihn wirklich wahrnimmt, der mit ihm wirklich zusammenlebt, der mit ihm etwas unternimmt, der ihn einfach lieb hat und da ist. Und zudem ist da endlich jemand, der zwar nicht wirklich aus dem Sudetenland kommt, sich aber doch wirklich bemüht in das „Wir Heimatvertriebene“ sich einzufügen…

… eigentlich, denn Tanja ist ein „gebranntes Kind“: Sie kann es nicht mehr aushalten, verwechselt zu werden, auch nicht von Peter. Sie ist es leid, von ihm derart gebraucht zu werden und zugleich angeklagt zu werden, nicht genügend zu geben. Tanja kann nicht mehr. Eigentlich, denn sie bleibt bei Peter, obwohl sie schon 34 Jahre vergeblich versucht, von Peter wirklich wahrgenommen zu werden und nicht nur gebraucht zu werden …

… und auch Peter kann nicht mehr. Er ist es leid mit jemandem zu leben, der sich ihm entzieht, der sich zurückzieht, der – wenn überhaupt – körperlich anwesend ist, der nicht greifbar ist. Peter ist das Allein sein und den Rückzug in der Beziehung zu Tanja leid. Eigentlich, denn er bleibt bei Tanja, obwohl er sie 34 Jahre vergeblich versucht zu erreichen.

Ich war tatsächlich erstaunt, wie trotz aller bereits erfolgter Therapien und Aufstellungen, sich jedesmal etwas „Neues“ fand und zusammenfügte. Und entsprechend gespannt war ich, wie sich dies auf die Beziehungsdynamik auswirken würde. An ein „ob“ dachte ich nicht, zu sehr schienen mir die Erkenntnisse evident zu sein.

Doch es hörte nicht auf: Mit jedem weiteren einzelnen Beratungstermin zeigten sich wieder bisher unbekannte bzw. übersehene Traumadetails in beider Kindheitsbiographien, die tatsächlich wichtig sind für das Verstehen der Beziehungsdynamik.

Zuletzt erinnerte sich Tanja daran, dass ihre Eltern immer wieder vehement über die Flüchtlinge schimpften, für die sie nicht nur den sowieso schon knappen Wohnraum teilen mussten sondern auch noch zahlen mussten wegen dem Lastenausgleichsgesetz der BRD.

Peter schüttelt nur noch den Kopf: „Daran hab ich ja noch nie gedacht. Und dann bring‘ ich so eine Schwiegertochter mit nach Hause? Ich hab die alte Heimat, ja eh schon veraten, indem ich keine aus der Heimat mir gesucht habe und dann noch eine, deren Familie gegen uns als Heimatvertriebene negativ eingestellt ist?! Das ist ja Verrat an meiner Familie auf der ganzen Linie.“

Ja, das scheint eine wirklich ganz und gar unmögliche Liebesverbindung zu sein.

Mir wird das zusehends unheimlich. Ich fragte mich, ob das jemals eine Ende hat?

Nach einigen Minuten des Schweigens meint plötzlich Tanja:

„Ich glaube, wir brauchen das Drama. Wir können ohne Drama nicht leben. Wir beide haben an unserem Lebensanfang so viel Drama erlebt, dass wir unser persönliches Leben und unsere Beziehung miteinander mit Drama verwechseln oder umgekehrt. Ohne Drama gibt es uns nicht, nicht alleine und auch nicht als Paar.“

Mit diesen Worten fasste Tanja das jahrzehnte lange gemeinsame Ehedrama zusammen. Peter nickte zustimmend. Und ich völlig überrascht auch – denn diese drei Jahrzente währende Ehe ist mit dem Begriff ‚Drama‘ durchaus treffend beschrieben. Doch ob ich auf diese „Diagnose“ gekommen wäre? Hm, ich weiß es nicht.

Unter diesem Drama-Trauma-Aspekt gewinnen ihre beider Therapien und vor allem auch die insgesamt 81 Aufstellungen eine ganz andere Bedeutung: Mit jeder einzelnen Therapiestunde bzw. Aufstellung wird immer auch das Drama-Bedürfnis gestillt. Und nur im Drama-Trauma – dem Erkennen, dass einem das Lebensnotwendige schon wieder verwehrt wird und verwehrt bleibt – können sich Peter und Tanja selber spüren und nur so können sie als Paar miteinander leben – in einem Zustand, wo es ohne einander und miteinander gleichermaßen nicht geht. So betrachtet sind weder die einzelnen Therapien noch die Aufstellungen als gescheitert zu betrachten – nein, sie haben jeweils ein Weiterleben ermöglicht, ohne Trauma-Drama droht bis heute das entsetzliche Nichts.

„Ich glaube, wir brauchen das Drama!“ Eine Aussage, die in ihrer Klarheit und ihrer entsprechenden Dimension bemerkenswert ist – nicht nur für Tanja und Peter, sondern auch für mich.

 

ICH und Hilfe!

Was hilft bei Trauma? Und warum? Und umgekehrt: Was hilft nicht, und warum nicht? Mehr noch: Was ist womöglich sogar schädlich?

Das sind die beiden Fragen, die mich in den letzten Jahren zusehends beschäftigen.

„Du fragst mich, wie es mir geht?! Im Ernst jetzt?! Beschissen geht es mir. Nichts wird besser bei mir. Bei allen anderen helfen die Aufstellungen, nur bei mir nicht. Ich hab das Gefühl, es wird immer alles noch schlimmer. Ich komme mir verarscht vor, wenn Du es genau wissen willst!“

Ich bin durchaus etwas überrascht von Roswithas Aussage.

„Ich habe immer noch keinen adäquaten Job, keinen Partner, bin noch einsamer als zuvor. Was hilft es mir zu wissen, was in meiner Kindheit wann wie war?!“

„Woran würdest Du denn merken, dass Dir die Aufstellungen helfen?“

Roswitha schaut mich nun ihrerseits völlig überrascht an: „Ja, keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“

Es ist die intensive Auseinandersetzung mit Menschen, die ernsthaft auf verschiedene Weise versuchen, endlich „gesund“ zu werden. Es sind die Gespräche mit Menschen, die verzweifelt auf der Suche nach einer wirklichen Hilfe sind, die so sehr darum kämpfen, dass ihnen endlich geholfen wird – und die sie nicht finden können.

Warum ist es manchmal so schwer? Warum gelingt es trotz aller Anstrengung nicht? Warum gibt es immer wieder Rückschläge? Warum hilft sogar die von mir so hochgeschätzte Anliegen-Methode manchmal nicht oder nicht so wie erhofft?

Hilflos und ohne Hilfe im Trauma

Ein Trauma ist ein lebensbedrohliches Ereignis.

Menschen, deren Leben bedroht ist, reagieren mit reflexhaften Verhalten:

  • Verteidigung: Kämpfen und/oder Fliehen
  • Hilfe: Suche nach Hilfe und Hilfeschrei

Gelingt es mir, dem Gewalttäter davonzulaufen oder ihn in die Flucht zu schlagen, oder kommt mir jemand zu Hilfe, dann kann ich durchschnaufen. Es noch einmal gut gegangen. Ich bin in Sicherheit! Ich kann mich entspannen und wieder zur Ruhe kommen. Ich kann das Geschehen verarbeiten als ein zwar sehr belastendes,  sehr stres- siges Ereignis, das ich aber bewältigen konnte.

Was aber, wenn es mir nicht gelingt? Wenn der Täter übermächtig ist?

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„Ein Psychotrauma ist ein Ereignis, dass ein Mensch mit seinen psychischen Kapazitäten nicht bewältigen kann.“ (Ruppert, Banzhaf. (2017). Mein Körper, mein Trauma, mein Ich, 33).

Diese Definition beschreibt ein Trauma kurz und prägnant als ein Ereignis mit einer bestimmten Qualität – als etwas, das Menschen völlig überfordert, weil

  • ihre individuellen Möglichkeiten, sich zu schützen nicht ausreichen, und
  • ihnen niemand hilft.

Wenn mir niemand hilft und ich mir selber nicht helfen kann, die Bedrohung aber unvermindert andauert, dann steigen meine Überforderung und meine Ohnmacht ins Unermessliche:

Meine körperlichen Schmerzen werden immer schlimmer, die entsprechenden schrecklichen Gefühle wie Todesangst, Scham, Wut ebenso, und keine Rettung und keine Hilfe ist in Sicht. Wenn es jetzt schon nicht aushaltbar ist, und alles immer schlimmer wird, und die Bedrohung nicht aufhört…

…dann bleibt als einziger Schluss „Es ist aus! Ich sterbe. Ich bin tot.“

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Aber wider all meiner Wahrnehmung – meines Spürens, Fühlens und Denkens – ist es nicht aus: Ich bin nicht tot. Ich bin am Leben. Doch stellt sich mir die Frage: Warum?

Nicht selten sind Menschen dauerhaft gefangen in dieser kognitiven Dissonanz: Das, was nicht überlebbar ist, doch überlebt zu haben.

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Spätestens hier nehmen Körper und Psyche nachhaltigen Schaden. Wir Menschen sind nicht geschaffen, mit derartigen traumatischen Erlebnissen – den sicher geglaubten Tod zu überleben – normal weiter zu leben. Unsere Psyche verändert ihre Funktionsweise: Im Normalzustand ist die Aufgabe der Psyche die Wahrnehmung und Bewertung der Realität. Nach einem Trauma hingegen ist die zentrale Aufgabe der Psyche, die Realität mit der erlebten Lebensgefahr nicht wahrzunehmen und aus dem Bewusstsein zu halten. Die Psyche ist von da an im Überlebensmodus. Dieser ist zwar hochwirksam, hat aber mitunter quälende und ungesunde Nebenwirkungen.

Wie kann ich wieder in mein Leben finden? Wie kann meine Psyche in den normalen Funktionsmodus (zurück) finden?

Das kann ich alleine nicht schaffen. Dazu brauche ich Hilfe.

Hilfe!

Wurde mir schon während des Traumas nicht geholfen, so bin ich danach umso mehr auf Hilfe angewiesen. Ich brauche Menschen, die meinen womöglich verletzten Körper versorgen, die mir Schutz, Sicherheit und Geborgenheit geben, die meinen körperlichen Zuständen und Gefühlen Raum geben und sie mit mir aushalten können, und die mir erklären, was mir passiert ist.

Ich unterscheide bewusst zwischen ‚Trauma‘ – als der Bezeichnung für ein Ereignis mit einer ganz spezifischen Qualität – und ‚Traumatisierung‘ – als Bezeichnung für das Erleben eines derartigen Ereignisses mit den entsprechenden nachhaltigen Langzeitfolgen in einem Leben im Überlebensmodus. Diese begriffliche Unterscheidung ist für mich sehr wichtig, denn: Sie betont den Wert und das Potential von menschlicher Hilfe und menschlichem Beistand.

(Uns Menschen und der Gesellschaft als Ganzes wäre sehr geholfen, wenn uns rechtzeitig und passend geholfen worden wäre. Allerdings weist die Vielzahl an Menschen mit den unterschiedlichsten Überlebensmechanismen und Traumafolgestörungen darauf hin, dass oft eben nicht geholfen wurde.)

Manchmal frage ich Menschen, nach ihren schlimmsten Erfahrungen im Leben.

Zuletzt Roswitha, eine tatkräftige 53-jährige Frau: „Du erwartest sicher, dass ich jetzt die vielen Schläge in meiner Kindheit erwähne. Aber das war gar nicht das Schlimmste. Das war schon schlimm, weil es ja ganz furchtbar wehgetan hatte. Für mich aber war viel schlimmer – und ist es bis heute eigentlich – dass mir niemand geholfen hatte. Nicht mein Vater, der wusste ja dass meine Mutter ihre gewalttätigen Ausraster hatte. Nicht meine Großeltern, nicht meine Tanten, nicht die Lehrer in der Schule und auch niemand im Kindergarten. Es wussten ja alle, wie meine Mutter war. Und man sah ja auch meine blauen Flecken. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich dieses schreckliche Gefühl, mir wird nicht geholfen immer noch – auch bei meinem Mann, bei den verschiedenen Therapeuten, und ja –. Ich befürchte, auch bei Dir wird mir wieder nicht geholfen.“

Es ist nicht nur das Trauma an sich, das oft jahrzehntelanges Leiden hervorruft, sondern vor allem auch, dass niemand trotz aller Not, Hilflosigkeit und Ohnmacht half und hilft.

Uns so ist der Begriff ‚Hilfe‘ im Kontext von Trauma und Traumatisierung kein neutraler Begriff. ‚Hilfe‘ ist ein Signalwort, hoch emotional und deswegen mitunter sehr brisant. Das bedeutet: Traumatisierte Menschen erhoffen sich Hilfe und lehnen sie (zugleich) ab. Sie gehen (un)bewusst immer von der ‚Hilfe‘ aus, die ihnen während und nach dem Trauma begegnete.

Diese ursprünglichen und später immer wieder verfestigten Erfahrungen mit ‚Hilfe‘, ‚Geholfen werden‘ und mit ‚helfenden Menschen‘ begegnen mir immer wieder in Gesprächen mit Menschen, die mit ihren Anliegen Hilfe bei mir suchen:

„Naja, ich hab eh nichts zu verlieren. Probiere ich halt das mit den Satzaufstellungen auch noch aus. Schlechter kann es nicht mehr werden.“ – „Mir kann sowieso niemand helfen.“ – „Ich muss Sie gleich vorab warnen, ich bin ein hoffnungsloser Fall…“ – „Ich war schon bei X und X und Z und das hat mir alles nichts gebracht. Glauben Sie, Sie können mir helfen?!“ – „Endlich bin ich bei Ihnen gelandet. Sie können mir helfen! Sie sind meine letzte Hoffnung…“

Nein, das bin ich nicht und das kann ich nicht. Denn hier sprechen Menschen aus ihren Überlebensanteilen heraus, aus ihren Erfahrungen mit ‚Hilfe‘ in der Vergangenheit.

Was dann? Was kann denn dann helfen?

 Was ist Hilfe bei einer Traumatisierung?

Ausgehend von meinen ganz grundlegenden Anmerkungen zu Trauma und Traumatisierungen muss eine Hilfe nach einem Trauma

  • Schutz und Sicherheit bieten, und
  • Wahrnehmung der Realität ermöglichen.

Einem traumatisierten Menschen ist demnach zunächst geholfen, wenn er in Sicherheit ist: Dazu ist es notwendig, zu spüren, zu fühlen und zu wissen, dass die Lebensgefahr wirklich vorbei ist: Ich war in der Vergangenheit in Lebensgefahr. Sie ist Teil meiner Biographie und wird es bleiben. Jetzt gerade, in der Gegenwart, bin ich nicht in Lebensgefahr. Und in Zukunft kann ich mein Leben so gestalten, dass mein Leben aller Wahrscheinlichkeit nicht in Gefahr ist.

Doch dazu ist es zwingend notwendig, meine Lebensgefahr zu kennen, um erkennen zu können, wenn ich wieder in Gefahr bin:

Deswegen ist einem traumatisierten Menschen geholfen, wenn er die Realität seiner Biographie – die Lebensgefahr und ihren entsprechenden Kontext – tatsächlich bewusst wahrnehmen kann. Demnach dann, wenn die Psyche ohne den Überlebensmechanismus ‚Dissoziation und Spaltung‘ Realität wahrnehmen kann.

Hilfe und Dissoziation / Spaltung

 Einer der wesentlichen Überlebensmechanismen ist die Dissoziation und die Spaltung.

Das lateinische Verb ‚dissociare‘ bedeutet sich trennen, aufteilen, sich auflösen. Die Psyche eines Menschen schützt sich vor dem drohenden Tod – keine Hilfe, kein Entrinnen in einer fortdauernden lebensgefährlichen Situation – in dem sie sich von dem akuten Geschehen trennt, die Verbindung dazu auflöst.

Was bedeutet das?

  • Ich nehme die lebensgefährliche Situation nicht wahr.
  • Ich nehme die Situation als nicht (so) lebensgefährlich war, wie sie tatsächlich ist.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation zwar wahr, aber sie passiert nicht mir, sondern einer anderen Person.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation wahr, aber nicht die Person, die mich bedroht.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation zwar wahr, aber sie wird mir von einer ganz anderen (ungefährlicheren) Person angetan.
  • Ich nehme die lebensbedrohliche Situation zwar als solche tatsächlich wahr, versehe sie aber mit einem Zweck, einem höheren Sinn.

Derart gespalten, getrennt und nicht verbunden können Menschen mit einer fortdauernden Lebensgefahr weiterleben.

Im Spaltungs- und Anteilskonzept von Franz Ruppert gesprochen, wissen die gesunden Anteile zunächst nichts vom lebensbedrohlichen Trauma. Dieses ist allein in den traumatisierten Anteilen bewusst. Diese werden jedoch von den Überlebensanteilen schnellstmöglich wieder aus dem Bewusstsein gedrängt, so sie denn die Schutzmauern überwinden.

So sehr die traumatischen Erfahrungen auch dissoziiert und abgespalten sind, sie sind niemals tatsächlich weg. Ein Trauma ist eine lebensbedrohliche Extremerfahrung. Sie ist immer – oft ein Leben lang – präsent und darf doch nicht bewusst und gewusst werden.

Das ist ein existentieller Widerspruch in sich mit einer zerstörerischen Sprengkraft.

Ich spüre, dass mit mir etwas nicht stimmt. Andere Menschen spiegeln mir immer wieder, dass ich komisch, nicht normal bin. Aber was ist mit mir denn los?

Und so kreise ich um die Frage: „Was ist mit mir los?“ – „Warum bin ich so?“ – „Warum fühle ich mich so?“ – „Warum passiert mir das?“ … Es bleibt ein quälendes Grübeln, letztendlich ohne befriedigende und befreiende Antwort. Denn ich darf ja nicht wissen… Mit meinen Suchen nach Antworten und Lösungen stoße ich immer wieder auf meine Schutzmauer. Ich komme nicht weiter.

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Und nun?

Ich brauche Hilfe. Ich brauche ein Gegenüber. Einen Menschen, der einen Blick von außen auf mich wirft, der nicht in meiner Dissoziation und Spaltung feststeckt und darin verstrickt ist, der meine Dissoziation und Spaltung als Traumafolge erkennen und benennen kann.

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Dieser Blick von außen, diese Position außerhalb ist wesentliches Element einer Hilfe. Sie eröffnet einen neuen Blick auf Spaltungen und auf entsprechende unbewusste Traumalandschaften. Eben deswegen, weil sie sich eine derartige Hilfe außerhalb der undurchsichtigen Dissoziationsnebel befindet. Sie kann sich hineinbewegen und wieder hinausbewegen.

Eine Hilfe, die sich ausschließlich außerhalb oder innerhalb der Dissoziation und Spaltung befindet, ist daher wenig hilfreich.

Auf diese Weise lernen traumatisierte Menschen eine bisher ungeahnte Position kennen: Es gibt mich selbst jenseits meiner Spaltungen und Dissoziation! In meinen gesunden Anteilen kann ich meine Überlebensanteile und ihre traumatisierten Anteile sehen und als solche erkennen.

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Ein Beispiel für eine derartige Hilfe ist die Anliegen-Methode, eine von Franz Ruppert entwickelte besondere Art von Aufstellungen:

Menschen kommen mit ihrem Anliegen – einer Frage, einem Satz – für das sie selbst, aus sich heraus keine Antwort, keine Lösung, keine praktische Umsetzung finden. Dieses Anliegen wird in seinen einzelnen Elementen mittels Menschen repräsentiert. Sie können qua ihres Menschseins in Resonanz gehen mit den entsprechenden Anteilen und Zuständen des Hilfesuchenden, die sich in seinem Anliegen ausdrücken. So drücken Resonanzgeber in Aufstellungen mitunter erstaunlich klar die Realität aus, die bisher aufgrund der beschriebenen Überlebensmechanismen Spaltung und Dissoziation nicht bewusst sind und gewusst werden durften. Das ist möglich, weil die Resonanzgeber in die Dissoziationsnebel hineingehen können und wieder herausgehen können. Sie unterliegen nicht dem überlebensnotwendigen Schutzgebot.

Mit diesem für mich immer wieder erstaunlichen Trick können die Schutzmauern überwunden werden und Dissoziationsnebel gelichtet werden.

Und doch hat dieses gewaltsame Überwinden der Schutzmauern seine Tücken. Ich verwende absichtlich diesen Begriff, weil es sich hierbei nicht um einen natürlichen, gewachsenen, sondern einen von außen herbeigeführten Erinnerungsprozess handelt: Ohne Eingriff von außen bliebe der erlebte Schrecken in der Abspaltung.

Klaus ist ein 61 jähriger Mann, der seit längerer Zeit regelmäßig in größeren Abständen zu meinen Seminaren kommt. In seinen ersten Aufstellungen fragte Klaus „Was ist mit mir los?“. Dabei zeigte sich deutlich, dass ihm in seiner Kindheit, ungefähr im Kindergartenalter, etwas Schlimmes, etwas Gewaltsames passiert ist. Obwohl er ja mit der Frage „Was ist mir los?“ gekommen ist, fiel es ihm sichtlich schwer, zu akzeptieren, dass tatsächlich etwas mit ihm los ist.

Nach einem sehr schwerwiegenden Skiunfall, dessen Unfallhergang sich niemand erklären konnte, kam Klaus zu einem Seminar mit dem Anliegen „Was ist mir passiert?“.

Seine Frage implizierte, dass etwas passiert ist. Und so zeigte sich auch erschreckend klar und eindeutig, dass Klaus in seiner Kindheit ein Gewalterlebnis hatte; welche Art von Gewalt ihm widerfahren ist und durch wem, blieb hingegen noch unklar. Klaus weinte bitterlich und begann vor lauter Angst am ganzen Körper zu zittern. Nachdem Klaus alle Resonanzgeber wieder entlassen hatte, meinte er:  „Ja, das wird schon so gewesen sein. Ja, so muss es gewesen sein.“ Es schien, als hätte Klaus tatsächlich erkannt, dass er eine Gewaltsituation erfahren hatte, die er mit seinem Skiunfall reinszenierte. Ich freute mich sehr für ihn. Leider täuschte ich mich.

Einige Monate später kam er wieder mit dem Anliegen „Was ist mir passiert?“ in ein Seminar. Er wusste nichts mehr von seiner letzten Arbeit, insbesondere nichts von dem Ergebnis. Der Prozess der Aufstellung verlief wieder ähnlich: Sehr klar und schlüssig zeigte sich ein Gewalterlebnis, womöglich sexuelle Gewalt. Klaus brach unter seinen Tränen zusammen. Danach beendete er die Aufstellung mit den Worten: „Ja, so wird es wohl, so muss es wohl gewesen sein.“

Doch auch dieses Ergebnis blieb nicht im Bewusstsein. Als ich ihn wieder nach einigen Monaten während seiner Aufstellung frage, was ihm eigentlich passiert ist, meint er: „Nichts. Ich weiß nicht, was mir passiert ist, ob mir überhaupt etwas passiert ist. Aber, wenn Du mich so direkt fragst, wird schon was gewesen sein.“

Seine Worte erschüttern mich. Es sind nicht nur die insgesamt 6 Aufstellungen, die jeweils sehr klar und immer sehr ähnlich ein konkretes sexuelles Gewalttrauma zeigten, sondern vor allem auch mehrere Fakten, an die sich Klaus erinnern kann, die das Aufstellungsgeschehen stützen. Und dennoch verschwindet nach den Aufstellungen jede Erkenntnis wieder in der Dissoziation, spaltet Klaus seine Traumaerinnerung immer wieder ab.

Dieser Trick mithilfe von Resonanzgebern die Schutzmauern zu überwinden, führt immer wieder zu tatsächlich stimmigen Ergebnissen, die jedoch nicht selten nicht im Bewusstsein bleiben, sondern wieder dissoziiert werden müssen. Wenn ich mit meinem Anliegen wirklich abgespaltene Traumalandschaften betrete, dann betrete ich immer auch ein lebensgefährliches Terrain. Was dazu führt, dass ich mich wieder mit meinen verschiedenen Überlebensmechanismen schützen muss.

Das bedeutet: Eine Hilfe die tatsächlich Hilfe ist, bewegt sich zwangsläufig immer auf einem schmalen Grat zwischen Wissen-wollen / Wissen-können und Nicht-Wissen-wollen / Nicht-Wissen-können.

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Diese immer wieder Verschwinden von sicher geglaubten Erkenntnissen in der Versenkung von Dissoziation und Spaltung ist (leider) nicht das einzige Problem der Hilfe nach einem Trauma und während der Traumatisierung.

Eine weitere Folge von erlebter traumatischer Gewalt ist die Täter-Opfer-Dynamik:

Die Unterwerfung unter die Hilfe

 Einer der wesentlichsten Aspekte eines Gewalt-Traumas und der daraus folgenden Täter-Opfer-Dynamik ist die Unterwerfung des Opfers unter den Täter.

Werden Menschen angegriffen, so werden zwei Systeme aktiviert: das Verteidigungssystem und/oder ihr Bindungssystem. Beide verfolgen das gleiche Ziel, das Leben zu schützen, aber mit gänzlich unterschiedlichen Strategien:

  • Reagiere ich mit meinem Verteidigungssystem, dann schütze ich mich bedingungslos. Ich stoße den Angreifer weg, schlage auf ihn ein, schreie ihn an, werfe Gegenstände auf ihn… . Ich tu alles, dass er von mir ab lässt. Ob ich dabei im Recht bin, ob meine Mittel verhältnismäßig sind, ob ich dem Angreifer weh tue, … das ist in diesem Moment zweitrangig.
  • Reagiere ich hingegen mit meinem Bindungssystem, dann schütze ich die Bindungsperson bedingungslos. Denn sie allein ist es, die mich schützen kann. Selbst, wenn die Bindungsperson identisch mit dem Angreifer ist – demnach meine Lebensgefahr – ist sie die Person, die mich schützen kann

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Wenn derjenige Mensch, der mein Leben bedroht, der einzige ist, der mein Leben retten kann, der mir helfen kann, dann hat das weitreichende Auswirkungen für mein Leben.

Ich muss mir diesen Menschen gewogen machen, der mir entsetzlich weh tut, vor dem ich mich zu Tode fürchte, der mich zutiefst beschämt und demütigt. Ich muss mich, mein Bedürfnis mich zu schützen, in diesem Moment aufgeben, mich der Gewalt unterwerfen.

Es kann sein,

  • dass ich der Gewalt zustimme, weil ich sie verdient habe („Du hast recht, ich muss bestraft werden, weil ich einen Fehler gemacht habe, weil ich böse, schlimm, ungezogen bin.“)
  • dass ich verspreche, alles wieder gutzumachen und den Angreifer nie wieder dazu zwinge, mich bestrafen zu müssen (Bitte, bitte, bitte, ich bin ab jetzt ganz brav, ich bin ganz lieb zu Dir, …),
  • dass ich so froh und dankbar bin, dass er/sie aufgehört hat, dass ich am Leben geblieben bin,
  • dass ich aufgebe, mich ergebe, mich totstelle. („Ich bin schon tot. Du musst nicht mehr schlagen, ich werde nie wieder …)

Das ist ein Widerspruch mit einer extremen Sprengkraft für unsere Psyche: Ich bin dem Menschen, der mich zu vernichten drohte, zutiefst dankbar, dass er mir hilft, dass er mich rettet. Ich muss meine Wahrnehmung –  meine Enttäuschung, meine Empörung und meine Wut, dass dieser Mensch mir das antut, gänzlich aus meinem Bewusstsein abspalten. Stattdessen übernehme ich sämtliche Ansichten des Täters. Ich entledige mich meiner eigenen Kleider und schlüpfe in seine Kleider.

Menschen, die (sehr früh) in ihrem Leben erfahren haben, dass sie nur und ausschließlich über ihre Bindungspersonen – Mama, Papa, Erzieherinnen, Lehrer, Partner, Vorgesetzte, Freunde … – etwas für sich erreichen und gewinnen können, und sich schützen und verteidigen können, entwickeln ein sehr feines Gespür für Menschen, die ihnen wichtig sind; wichtig, weil sie von ihnen verlassen werden könnten, weil sie von ihnen negativ beurteilt werden könnten, weil sie von ihnen ausgelacht werden könnten, weil sie von ihnen ausgegrenzt werden könnten, weil sie von ihnen nicht mehr gemocht und geliebt werden könnten, … Um sich vor diesen schlimmen Erfahrungen zu schützen, versuchen sie, den tatsächlichen oder aber auch angenommenen Wünschen und Vorstellungen, den Ansichten und Meinungen dieser wichtigen –  und damit auch „mächtigen“ Personen – zu entsprechen, wenn möglich schon im Voraus, sozusagen im vorauseilenden Gehorsam.

Denn mit sich selbst, mit ihren eigenen Kleidern, ist keine Auseinandersetzung, kein Kampf, kein Streit zu führen, und kein „Blumentopf“ zu gewinnen.

Dies ist weniger ein bewusst gesteuerter Vorgang, sondern eher ein automatisiertes Verhalten wichtigen und mächtigeren Menschen gegenüber. Insofern stellt sich mir die Frage: Wann ist mein „Ja“ und mein „Nein“ Ausdruck meines Willen? Oder ist es nicht der tatsächliche oder angenommene Wille meines Gegenübers?

Diese Frage stellt sich mir zusehends in vielen Bereichen unseres Lebens – in der Partnerschaft ebenso wie in der Schule…

…und insbesondere auch im Bereich der ‚Hilfe‘.

In dem bisher Geschriebenen versuche ich, die vielschichtige und mehrfache Bedeutung der ‚Hilfe‘ im Kontext von Trauma und Traumatisierung zu erfassen und darzustellen. ‚Hilfe‘ ist für traumatisierte Menschen sehr, sehr wichtig. Mittels ‚Hilfe‘ erhoffen sich Menschen endlich ein Leben jenseits von Leid und Schmerz, jenseits von Symptomen, Krankheiten und Spaltungen. Insofern ist Hilfe – die Menschen, die helfen, und die Methoden, mit denen geholfen wird, sehr wichtig und mächtig. Ich alleine kann mir ja nicht helfen. Ich brauche jemand Kompetenteren, Sachverständigeren, Klügeren, der mir mit meinen nicht auszuhaltenden Lebenserfahrungen hilft.

Bruno, ein 63 jähriger kommt in Seminar mit dem Anliegen: „Was sagen mir meine Schlafprobleme?“. Der Prozess der Aufstellung ist sehr klar: Der kleine Bruno fürchtet sich jede Nacht, dass sein betrunkener Vater nach Hause kommt und in sein Zimmer geht. Dort geschieht etwas, was Bruno auf keinen Fall möchte. Die beteiligten Resonanzgeber sind sich sehr sicher, dass Bruno von seinem Vater sexuelle Gewalt erlitten hat und deswegen bis heute nicht schlafen kann in der Nacht. Ich bin überrascht, über die Vehemenz ihrer Aussagen. Auf meine Frage hin, ob das Geschehen für Bruno stimmig sei, meint Bruno ohne zu zögern: „Ja, sehr stimmig. Sehr sogar. Genauso ist es gewesen.“  Ich frage ihn, ob er sich schon einmal mit der Thematik ‚sexuelle Gewalt‘ beschäftigt hat. „Nein, noch nie. Das höre ich zum ersten Mal, zum ersten Mal bezogen auf mich.“ Danach beendet Bruno seine Aufstellung. Die Gruppe ist sehr bewegt über diese klare Arbeit. Einzelne Beobachter teilen ihre Gedanken und Empfindungen noch mit, wie sehr für sie dieser Arbeit und das Ergebnis schlüssig sei.

Nach einigen Wochen kommt Bruno in eine Einzelstunde, um über seine Aufstellung zu sprechen: „Es stimmt nicht für mich, ich habe mich nicht um mich gefürchtet, sondern ich habe mich gefürchtet, dass er zu meiner Mutter ins Schlafzimmer geht, um Sex zu haben. Wenn sie dann nicht wollte, dann wird er sie wieder so furchtbar schlagen.“ Ich frage ihn, warum er auf meine Frage während der Aufstellung mit „Ja“ antwortete. „Ich hab mich nicht getraut, alle im Raum wussten irgendwie Bescheid. Und mir kam die Idee mit meiner Mutter ganz plötzlich, und da war sie wieder da meine furchtbare Angst der Kindheit. Außerdem weiß ich ja, dass die Methode so stimmig ist. Irgendwie wollte ich in dem Moment, dass es stimmt. Vielleicht wollte ich kein Spielverderber sein.“

Brunos „Ja“ zu etwas, was für ihn nicht stimmt, ist nicht überraschend: Bruno ist wirklich begeistert von den Aufstellungen und den Resonanzphänomenen. Er erhofft sich über seine Spaltungen hinauszukommen – einen Blick in die schrecklichen Nächte in seinem Kinderzimmer, voller Angst – zu werfen. Methode und ich als Leitung, die Gruppe und die Resonanzgeber sind sehr wichtig für Bruno – er erhofft sich wirklich Hilfe für seine schlaflosen Nächte. Er kennt sich ja nicht aus. In dem Moment, wo die Resonanzgeber, die Beobachter im Kreis, und ich vermeintlich wussten, warum Bruno in der Nacht nicht schlafen konnte, zog sich Bruno unser Gewand an – unterwarf sich sozusagen unter unsere Wahrnehmungen, und verließ seine eigene Wahrnehmung. Wie damals in der Kindheit, als er seine Mutter immer wieder darauf ansprach, und sie zu ihm meinte, dass das nicht stimmt, dass alles in Ordnung wäre, dass er nur schlecht geträumt hätte.

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Es ist nicht einfach, für die Hilfe, Hilfe zu sein. Und so erinnere ich mich an meine Diplomarbeit über AD(H)S und Trauma, in der ich Aufstellungen wörtlich transkribierte. Es war eine noch eine andere Art der Aufstellung… Da gab es eine Stellvertreterrolle, die hieß: „eine Hilfe für die Hilfe, dass sie Hilfe sein kann.“

Nein, es ist nicht immer einfach mit der Hilfe im Traumakontext und doch ist sie unablässig.

 

ICH und „die Summe meiner Lebenserfahrungen“

‚Identität‘ ist ein Schlüsselbegriff für mich. Es ist die Frage nach dem „wer bin ich“, der ich immer wieder kognitiv nachsinne, emotional nachfühle und körperlich nachgehe.

Dabei ist es weniger der Begriff an sich, der mich beschäftigt. Diesem begegne ich immer wieder, in den Lehrplänen der bayerischen Schulen, in verschiedensten Konzepten sozialer Einrichtungen, in den Sozialgesetzbüchern, wie beispielsweise im Kinder und Jugendhilfegesetz, in den Homepages von Therapeuten, Coaches, Heilpraktikern, …

Allen geht es offenkundig um die Förderung einer Indentitätsentwicklung.

Ich bin befasst mit der konkreten Bedeutung von ‚Identität‘. Denn es ist kein sich selbst erklärender Begriff.

(Manchmal fordere ich Studierende oder Teilnehmer von Seminaren auf, ins analoge Zeitalter zurückzukehren und einen kurzen Lexikonartikel über ‚Identität‘ zu schreiben… Doch eine konkrete Benennung und Bezeichnung mit Wörtern erweist sich zuweilen als unerwartet schwer.)

Wir wissen zwar ungefähr, was mit ‚Identität‘ gemeint ist und was wir mit ‚Identität‘ meinen, aber was genau?

Demzufolge bedarf ‚Identität‘ einer konkreten und klaren Definition. Ich finde sie immer wieder in Franz Rupperts scheinbar einfachen und prägnanten Wörtern:

Identität ist die Summe all unserer Lebenserfahrungen.

Demnach bezieht sich ‚Identität‘ auf das, was in der Vergangenheit gewesen ist, was in der Gegenwart gerade ist, und was in der Zukunft noch sein wird. Das „wer bin ich“ beinhaltet alle drei Zeitebenen.

Ich bin also zugleich das, was ich nicht mehr verändern kann, andererseits aber gerade gestalte und darüber hinaus zukünftig will und plane und wünsche.

‚Identität‘ ist demzufolge ein Prozess, dem eine Dynamik innewohnt, die nie zu Ende ist.

Was bedeutet das, wenn Menschen nicht wissen, was sie bisher in ihrem Leben erfahren haben? Besser gesagt: erlitten haben?

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Maria ist eine jetzt 49 jährige Frau, mit der ich schon seit 10 Jahren arbeite. Ihr Anliegen, mit dem sie damals zu mir kam, war „Wer bin ich wirklich? Was will ich wirklich in meinem Leben?“ Will ich wirklich mein Geschäft führen?“ und „Soll ich bei Josef, meinem Mann, bleiben oder nicht?“ Maria wollte für sich mithilfe von Aufstellungen eine Antwort finden, um endlich sicher sein zu können, dass das, was sie beruflich und privat tut, ihr eigener Wille ist.

Ausgehend von diesen zentralen Fragestellungen setzte sich ein für mich und für Maria ungeahnter Prozess in Gang, der bis heute andauert.

„Gut, dass ich das damals nicht ganz überblickt habe, was da auf mich zukommt. Ich weiß nicht, ob ich mich auf diesen Prozess eingelassen hätte.“

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Die ersten Jahre waren sehr intensiv und extrem: Maria stellte in diesen 5-6 Jahren sehr oft auf. Es waren Aufstellungen in Gruppen und im Einzelsetting. Viele der Aufstellungen konnte ich als Beobachterin oder Stellvertreterin oder als Leiterin miterleben. In jeder einzelnen dieser Arbeiten zeigten sich Schrecken der Vergangenheit, Horrorszenarien, emotionale, körperliche und sexuelle Gewalt in all ihrer Grausamkeit. Allerdings wechselten mit jeder Aufstellung und jedem Anliegen die Schauplätze und die entsprechenden Gewaltopfer und Gewalttäter. Manchmal zeigte sich das, was Maria selber erlebt hatte, manchmal das, was eine Uroma, ein Onkel, eine Großmutter, die Mutter, eine Schwester, der Vater, der Großonkel oder Marias Kind erlitten oder getan hatte – und alles, was sich da zeigte und sich durchaus auch mehr oder weniger verifizieren ließ, schien unmittelbaren Einfluss auf Maria zu nehmen.

Ich hatte längst schon den Überblick verloren – alles schien immer wieder anders zu sein, schien sich zu widersprechen und doch wieder zu bestätigen. Selbst meine eigenen Wahrnehmungen als Stellvertreterin in ihren Arbeiten waren in sich nicht stimmig. Der einzige rote Faden, den ich finden und halten konnte, war eine immer wiederkehrende Gewalt und ein allgegenwärtiger Wahnsinn. Und so blieb meine einzige Hypothese: Maria ist in einer Familie aufgewachsen, in der Gewalt und Wahnsinn über mehrere Generationen hinweg alltäglich waren.

„Mir reicht’s jetzt mit der ganzen Aufstellerei. Was hat mir das denn jetzt gebracht?! Nichts. Ich bin keinen Millimeter weiter gekommen. Dass ich jetzt weiß, dass bei uns alles nur Wahnsinn und Gewalt ist? Dankeschön, das hab ich vorher auch schon geahnt. Also, da kann ich jetzt auch ohne Gruppe alleine weiter machen. Christina, was meinst Du?“

„Was soll ich sagen: Es stimmt. Du hast derart viele Aufstellungen gemacht, die allesamt ein – für mich von außen betrachtet – schier unerträgliches Maß an Gewalt und Wahnsinn zeigten. Du hast Dich derart angestrengt und abgemüht mit und in den Aufstellungen. Ich weiß nicht, ob Du mit einfach so Weitermachen wie bisher, wirklich zu Dir kommst. Was willst Du Neues erfahren, was Du in den vergangenen 6 Jahren nicht schon erfahren hast? Macht es Sinn, auf die eine Aufstellung zu warten, die den großen Aha-Effekt bringt, den alle anderen Aufstellungen nicht bewirkten?“

Einige Monate später rief mich Maria an.

„Ich will nur Deine Einschätzung hören: Es ist alles so weit so gut, alles im Übrigen normalen Wahnsinnsbereich. Aber es geht mir ganz gut. Was heißt, ganz gut, ich kann mich in dem Wahnsinn um mich rum ganz gut über Wasser halten. Da lasse ich mich nicht mehr so hineinziehen wie noch vor einem Jahr. Da hat sich doch was getan. Meinst Du, ich kann so weitermachen, oder soll ich doch wieder eine Aufstellung machen?“

„Willst Du eine Aufstellung machen?“

„Nein, eigentlich will ich nicht.“

„Dann sollst Du auch keine Aufstellung machen. Wenn Du Dich zu einer Aufstellung zwingst, dann tust Du Dir Gewalt an.“

Ein Jahr später meldete sich Maria wieder: Sie rief mich an, um mir zu sagen, dass sie jetzt endlich ihre tatsächliche Bestimmung gefunden hätte. Anstatt immer um sich selbst zu kreisen, hätte sie nun ein Ehrenamt in der Bewährungshilfe angenommen. Es wäre ihre wahre Aufgabe im Leben, sich um straffällig gewordene Menschen, um Täter zu kümmern.

Ich war sprachlos – und suchte nach meiner Fassung. (Damit hatte ich nie und nimmer gerechnet.)

„Du tust was? Was meinst Du, ist Deine wahre Bestimmung im Leben?“

„Ich betreue Täter und verhindere dadurch, dass die Gesellschaft weiterhin durch sie zu Schaden kommt. Das ist so eine Vision von mir, ich könnte die Täter gewissermaßen entschärfen.“

Ich war immer noch sprachlos. (Weniger, ob des Ehrenamtes an sich, mehr ob Marias Idee, ihrer Absicht dahinter.)

„Nein, Du musst nichts sagen. Mir ist selber in einem Anteil klar, dass da etwas nicht mehr ganz stimmt. Deswegen hab ich ja angerufen. Ich muss und ich will auch weiterarbeiten in meinem Prozess.“

Gott sei Dank – und ich konnte immer noch nichts sagen.

In dem folgenden Jahr kam Maria immer wieder zu Einzelstunden:

Zunächst einmal konnte Maria für sich klären, dass sie mehr Mitgefühl mit den Tätern hat, als mit den Opfern, und mehr noch: Sie fühlt mehr mit den Tätern mit als mit ihr selbst, als mit der kleinen Maria. Über diese Erkenntnis ist sie sehr erschrocken und sichtlich betroffen: „Ja. So ist es wohl. Das muss ich jetzt so akzeptieren. So ist es.“

Aber warum ist das so? Wie kann das sein?

Offenbar gab es in Marias Leben gefährlichen Menschen – Täter – vor denen die Familie(?), vor der Maria selbst geschützt werden musste. Und offenbar ist Maria überzeugt, dass sie das tatsächlich kann oder können muss.

„Jetzt muss ich doch wieder in die Gruppe, um Aufstellungen zu machen, oder?“

„Nein, du musst immer noch nichts.“

Maria weiß durch Aufstellungen, durch verschiedene andere Therapien und eigene Nachforschungen sehr viel über ihre eigene Biographie und die ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, auch über ihre Tanten und Onkeln. Es ist ein emotionales, körperliches und auch kognitives Wissen. Aber es ist ein unvollständiges Wissen, das wie lose Bruchstücke ist, die nicht miteinander verbunden sind. Es ergibt keine zusammenhängende Geschichte. Es erschließt sich ihr kein zusammenhängender Bezug zu ihrem Leben und keine wirklich relevante Bedeutung für ihr Leben. Alle Fakten und Informationen, Gefühle und Körperempfindungen ergeben für sich noch keinen Sinn. Es ist ein Durcheinander. Auch für mich.

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Marias Wissen braucht einen Rahmen. Es muss geordnet, sortiert und bewertet werden.

Und so schlage ich Maria vor, für jede für sie wichtige Person ein DIN-A4 Blatt zu nehmen und die wesentlichen biographischen Information und Traumainhalte zu notieren. Maria beschriftet Blatt für Blatt. Sie überlegt, was sie über diesen verwandten/bekannten Menschen bereits weiß, was sie durch die Aufstellungen erfahren hat und für sie auch stimmig ist, aber auch was sie nicht weiß und gerne wüsste – vor allem aber: Was ist für mich und mein bisheriges Leben wichtig zu wissen und zu erfahren?

Am Ende dieses Prozesses lagen 24 Blätter am Boden, 24 Biographien, mehr oder weniger geprägt durch Verlust und Trauer, Gewalt und Wahnsinn,  24  Leben von Menschen, die offenbar alle für Maria wichtig sind. Interessanter Weise ist das ICH-Blatt von Maria nur mit Informationen gefüllt, die sich mit der Zeit vor ihrer Geburt befassen: Zeugung – Schwangerschaft – verlorene Drillingsbrüder – Vaterschaft.

(Für mich war das eine unerwartet intensive Erfahrung: Mit jedem Blatt, mit jedem Menschen, mehr im Raum, wurde es für mich körperlich und emotional immer enger. So als bliebe immer weniger Raum und Platz für mich.)

Angesichts dieser sichtlichen Überfüllung frage ich Maria, welche dieser Menschen für sie tatsächlich relevant sind. Und so nimmt sie die Blätter von Mama, Papa, ICH (Maria), und die ihrer beiden Drillingsbrüder, die sie mit Jakob und Benedikt benannt hatte. Von ihnen weiß Maria kognitiv nichts, jedoch spürt und fühlt sie beide deutlich.

„Da fehlt noch jemand! Der Huber Max fehlt. Der ist sehr wichtig. Der war aber noch nie wirklich Thema. Komisch, dass mir der jetzt einfällt.“ Maria fügt ein 25. Blatt hinzu.

„Wer ist das?“

„Das ist ein sehr guter – hm. Ja, was eigentlich -. Ja, ein sehr guter Freund meines Vaters. Da geht es schon los… Ja, ich hab den auch gekannt. Der ist später durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Da dachte ich lange Zeit, der wäre mein Vater.“

„Und?“

„Nein. Da hab ich doch nach einer Aufstellung den Vaterschaftstest gemacht. Nein, der Papa ist schon der Papa.“

„Was ist mit dem Huber Max?“, frage ich Maria.

„Das möchte ich auch gerne wissen.“

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In den folgenden Einzelstunden gelang es Maria in einer für mich beeindruckenden Weise, sich an verschiedene einzelne Begebenheiten ihrer Kindheit zu erinnern, diese mit ihrem heutigen Wissen zu verbinden und darüber hinaus, lang bekannte Erinnerungen neu zu bewerten:

Der Huber Max war ein enger Freund von Marias Vater. Und nicht nur das: Er war auch ihrer Mutter sehr nah und vertraut, womöglich hatten beide auch ein Verhältnis – weswegen Maria in Aufstellungen immer wieder damit konfrontiert wurde, dass ihr Vater nicht ihr Vater wäre. Zumindest war Marias Vater sehr, sehr eifersüchtig. In einem Umfeld von Alkohol und Rausch, Feiern, exzessiver Gefühle bis hin zu Wahnsinn eskalierte die Situation: Ihr Vater spricht in seiner Eifersucht voller Hass einen Fluch aus, dass der Huber Max „verrecken soll“/“sich ‚darennen‘ soll. Und das ist tatsächlich geschehen: In der Nacht nach der Eskalation ist der Huber Max tödlich verunglückt. Maria war als Mädchen bei dieser Auseinandersetzung dabei, erlebte ihre beiden Eltern in einem emotionalen Ausnahmezustand, noch dazu sehr betrunken:  Erlebt den Hass, die Eifersucht, die Liebe und den Wahnsinn, den alkoholtrunkenen Rausch, erlebt mit wie derjenige, dem der Tod gewünscht wird, tatsächlich verunglückt und stirbt.

Viele Jahre später inszeniert sich dieser Liebeswahnsinn in Marias Leben in einer für mich erschreckenden Genauigkeit: Maria beginnt eine extrem leidenschaftliche Affäre mit einem Mann, der all das verkörpert, was ihr Ehemann nicht ist. Marias Mutter verfluchte daraufhin den außerehelichen Geliebten von Maria – „wenn er sich doch darennen täte“, der ebenso wie der Huber Max daraufhin mit dem Auto verunglückt – allerdings wie durch ein Wunder überlebt. Und auch Marias Kind muss dies miterleben.

Zeitgleich zu Marias innerem Prozess verschlechterte sich der körperliche und vor allem der psychische Zustand von Marias Eltern. Ein Zustand zwischen Demenz und Psychose – ein Zustand der für Maria und die Umgebung schier nicht aushaltbar war. Ihr Vater, krankhaft eifersüchtig, sieht in der Wohnung lauter fremde Männer… Ihre Mutter beschimpft ihn, macht ihn lächerlich. Sie streiten sich, schlagen sich, versöhnen sich und haben Sex miteinander. Fast jeden Tag auf ein Neues und wieder von vorne…

Und jetzt erst verstehe ich die vielen Aufstellungen von Maria: Dort zeigte sich immer wieder ein Wahnsinn und Irrsinn in genau dieser Intensität und Qualität wie in der elterlichen Wohnung.

Nachdem Maria für sich Ordnung in ihre Erinnerungen und in ihre Aufstellungen geschaffen hatte, wurde sie mehrmals darauf angesprochen, wie sie das als Kind in dem Wahnsinn ausgehalten hätte, wie sie das heute so gut aushalten könnte, wie schlimm das schon immer gewesen wäre, …

Zu guter Letzt wagte Maria auszuziehen, auszuziehen aus der gemeinsamen Wohnung und alleine für sich zu wohnen. Ein Schritt von dem sie immer wieder gesprochen hatte, seit ich sie kenne. Und jetzt hat sie es geschafft.

Ich freute mich so sehr für diesen Schritt und alle anderen Schritte zuvor – für Marias Mut und Konsequenz sich zu erinnern, und aus dem Chaos ein Narrativ zu schaffen, schmerzhaft zu erkennen, was dieser Liebeswahnsinn ihrer Eltern für einen Einfluss auf ihr Leben hat – bis heute…

(… und ich bin durchaus froh und erleichtert und für mich sehr zufrieden…)

aber dann:

„Christina, jetzt will ich eine Aufstellung machen, wie das wirklich war mit dem Huber Max und wie das war mit seinem Unfall.“

(Wie? Das haben wir ja die ganze Zeit erarbeitet, dachte ich mir, und dann überlegte ich mir nicht ohne Angst sogleich, was ich nur machen könnte, wenn sich ganz was anderes zeigte… und dann dachte ich mir, nun, wenn es denn stimmte, was wir bearbeiteten –  dafür sprechen sehr viele Faktoren –  dann wird es sich zeigen… andernfalls… und dann dachte ich nicht mehr.)

Ich war tatsächlich gespannt:

Nachdem Maria über drei Jahre in keiner Gruppe mehr gewesen ist, kannte außer mir und ihr niemand ihre neu entdeckte Geschichte. Die folgende Aufstellung – mit keinem Satz, sondern mit Schlüsselbegriffen ihrer Geschichte – ist für mich eines der eindrücklichsten Erfahrungen mit dieser Methode.

Niemand wusste und doch spiegelten die Stellvertreter und Stellvertreterinnen derart genau das wieder, was wir im Einzelsetting erarbeitet hatten. So zog sich der „Huber Max“ in der Aufstellung eine Lederjacke einer Teilnehmerin an und Maria berichtete sogleich, dass der Huber Max immer eine solche Lederjacke trug, und dass sie, Maria, nach seinem Tod lange Zeit genau eine solche Lederjacke immer trug, so dass das schon aufgefallen wäre.

Und doch ging die Aufstellung über das bereits Gewusste hinaus: so deutete sich an, dass an dem Auto vom Huber Max etwas manipuliert wurde, etwa an den Bremsschläuchen. Maria meinte, dass es immer hieß, es wäre schon merkwürdig gewesen, der Unfall an genau dieser Stelle.

Nach diesem Aufstellungswochenende wurde Marias Vater stationär aufgenommen wegen seiner psychischen Zustände. Als ihn Maria in die Klinik brachte, meinte er sehr aufgebracht und aufgeregt zu ihr, sie solle unbedingt, bevor sie heimfährt, das Auto kontrollieren, nicht dass etwas nicht stimmt mit ihrem Auto. So etwas hatte er noch nie zu ihr gesagt.

„Christina, ich glaube, so ist es gewesen, genau so.“

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Ja, das stimmt.

„Und jetzt will ich wissen, was mit mir ist, was mir passiert ist. Damit ich endlich mein Leben leben kann.“

Marias Identität, ihre Summe an Lebenserfahrungen war ein un/bewusstes Durcheinander. Ein Sammelsurium von 25 verschiedenen Leben, aus denen sie beharrlich und mutig ihre eigenen Lebenserfahrungen gesucht und gefunden hatte, um aus ihnen – wie ich aus meinen 1000 Puzzleteilen – ihr Bild ihrer zurückliegenden Biographie zu zeichnen, ihr ICH zu finden.

Wer ist Maria? Wie wird es sein, wenn Maria sich selbst lebt? Wenn Maria lebt?

 

 

 

 

ICH – verloren in der Täter-Opfer-Dynamik

Ich bin wieder einmal oder immer noch mit der Täter-Opfer-Dynamik beschäftigt. Neulich meinte ich zu den Studierenden in meinem Hochschulseminar, dass das für mich die vielleicht schwerwiegendste Folge von Gewalt ist. Menschen, die Gewalt erlitten haben, drohen über kurz oder lang selber Gewalt anzuwenden – entweder gegen sich selbst oder gegen andere. Aus Gewalt entsteht Gewalt, woraus wieder Gewalt entsteht. So wie in Gertrude Steins Gedichtzeilen: A rose is a rose is a rose is a rose. Gewalt zerstört und sie bleibt auch zerstörerisch. Es entsteht ein fürchterlicher Kreislauf der Gewalt: Opfer werden zu Tätern und Täterinnen, die wiederum immer neue Opfer schaffen, die wiederum zu Tätern und Täterinnen werden, die dann … und so weiter.

„Und kann man da überhaupt aussteigen?“, fragte mich daraufhin eine Studentin. „Es erscheint mir wie ein endloser Kreislauf.“

„Doch – natürlich gibt es eine Möglichkeit da auszusteigen.“

Doch dazu müssen Opfer und Täter die Tat und deren Folgen klar und wahrheitsgetreu benennen. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Diese Geschehen muss als solches stehenbleiben können. Ohne dass es sich auflösen soll, gesühnt werden soll, versöhnt werden soll, wieder gut werden soll oder gar ungeschehen gemacht werden soll. Das, was geschehen ist, soll auch wirklich geschehen sein, damit es nicht wieder geschehen muss.

Wenn ich darüber nachdenke, wenn ich mich auf meine Seminare vorbereite und Folien erstelle, oder wenn ich die Lebensgeschichten meiner Klienten und Klientinnen erfahre, dann begegne ich immer wieder auch mir und meinen un/verarbeiteten Erfahrungen. So wie gestern:

„Du weißt ja, wir sind aus dem Sudetenland vertrieben worden und als Flüchtlinge nach dem Krieg in dieses bayerische Dorf gekommen. Ich war immer einsam. Mit mir wollten die anderen Dorfkinder nicht spielen. Und dann kam noch erschwerend hinzu, dass mein Vater der Lehrer in der Schule war. Mir einem Flüchtlingskind spielen, das so komisch redet, und dann noch mit einem Lehrerskind?! Nein, ganz gewiss nicht. Irgendwann habe ich dann begonnen, mich als etwas besseres zu halten: Ich bin viel gescheiter als die Dorfkinder. Ich komme aus einer Lehrersfamilie und nicht aus dem Bauernhof, so wie die da alle.“

Und damit war sie in mir wieder da, meine Referendariatszeit an einem Gymnasium in Regensburg Ende der 1990er.

Mit 20 Jahren Abstand kann ich sagen – ein Lehrstück einer Täter-Opfer-Dynamik.

Ich hatte mich für das Referendariat in Deutsch und Geschichte angemeldet und wollte unbedingt in Regensburg bleiben. Und so freute ich mich sehr, als ich meine Seminarschule zugeschickt bekam. Regensburg, was für ein Glück, dachte ich noch. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich Max, einem Kommilitonen, freudig erzählte, an welche Seminarschule ich kommen werde. Doch dieser freute sich überhaupt nicht. Im Gegenteil:

„Oh, da sind doch X und Y Seminarrektoren. Das sind richtige Arschlöcher dort. Geh‘ da nicht hin. Da hast du keine Chance. Der für Deutsch, der X, hasst niederbayerisch sprechende Menschen und überhaupt sind die sehr, sehr konservativ!“

Doch das kam für mich nicht in Frage. Ich wollte ja in Regensburg bleiben und außerdem konnte ich mir das nicht vorstellen, dass ich von vornherein keine Chance haben könnte. Ich dachte mir, wenn ich mich nur genug anstrenge, dann überzeuge ich durch meine Leistung. Da war ich mir sehr sicher.

Ich trat das Referendariat nach den Faschingsferien an. Und so fuhr ich mit meinem Rad und meinem Rucksack anstatt zur Uni einfach zur Seminarschule. Dort wurden wir angehenden Deutschlehrer von X mit den Worten eingeführt: Kinder und Jugendliche müssten in Zeiten einer immer schlimmer werdender Rollendiffusion in ihren geschlechtsspezifischen Rollen wieder gestärkt werden. Frauen sollten wie Frauen ausschauen, demnach mit langen Haaren, Röcken und entsprechenden Schuhen, und Männer mit Anzügen unterrichten.

Ich musste lachen. Einen Bezug zu mir, zu meinem Aussehen – kurze Haare, Jeans und T-Shirt, Turnschuhe – und zu dem Aussehen der anderen Referendare konnte ich nicht herstellen. Und so kam ich auch am nächsten Tag – wie immer – in die Schule, um dort festzustellen, dass alle anderen Referendare ihre Kleidung demgemäß angepasst hatten. Ich war sprachlos. Zumal Simon, den ich von der Uni flüchtig kannte, zu mir meinte, ich müsste mich unbedingt anders anziehen, weil ich sonst keine Chance hätte. Ich musste wieder lachen.

Nein, das mach ich ganz bestimmt nicht.

Ein paar Wochen später sollte ich eine Deutschstunde in einer 5.Klasse vorführen. Ich stand vorne vor der Klasse und hinten saß das Deutschseminar und besagter Seminarlehrer X. Danach wurde meine Stunde besprochen, was ich didaktisch anders hätte machen können/sollen, wie ich anders auftreten sollte, etc. … Das übliche Vorgehen nach einer Vorführstunde. Ich war ganz froh und zufrieden, wie es gelaufen war. Ganz zum Schluss bemerkte der Seminarlehrer noch vor allen anderen, ich hätte drei mal den Dialektausdruck ‚ebs‘ (für etwas) verwendet. Das wäre unmöglich in einem Deutschunterricht an einem Gymnasium. Das würde er hier unter keinen Umständen dulden. Ich hingegen war sehr überrascht und meinte mehr zu mir selbst gesprochen: „Nur dreimal?“ Daraufhin beendete er die Besprechung. Als alle bereits den Raum verlassen hatten, rief er mich zu sich an den Pult, verschränkte seine Arme vor der Brust und meinte zu mir: „Frau Freund, Sie wissen schon, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Herkunftsort und der Intelligenz gibt.“

„Wie bitte?“

„Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Intelligenz und dem Herkunftsort. Die Menschen aus dem Bayerischen Wald sind geistig doch etwas minder bemittelt.“

Ich fragte ihn, ob er das noch einmal wiederholen könnte.

„Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Intelligenz und dem Herkunftsort. Die Menschen aus dem Bayerischen Wald sind geistig doch etwas minder bemittelt. Frau Freund, überlegen Sie sich doch mit welcher Sprache sie zukünftig sprechen und unterrichten wollen.“

Ich verließ den Raum mit den Worten, dass dies wohl für verschiedene Herkunftsorte gültig zu sein scheint.

Ich sprach immer wieder von meinen Erlebnissen. Und immer wieder hörte ich die gleichen Ratschläge: Diejenigen innerhalb dieses Systems, meine Mitreferendare rieten mir, mich unbedingt endlich anzupassen, weil ich so keine Chance hätte. Menschen außerhalb des Systems, wie zum Beispiel meine Eltern, Andreas, Freunde und Bekannte hingegen redeten auf mich ein, hier aufzuhören und im Herbst an einem anderen Gymnasium wieder anzufangen. Ich hätte keine Chance dort.

Doch ich war nicht erreichbar, für nichts und niemanden mehr. Ich war längst schon inmitten einer Täter-Opfer-Dynamik. Hineingezogen in die Täterenergie von X, dieses Seminarlehrers für Deutsch. Und so machte ich weiter, einfach weiter in einem Kampf, in dem ich nur verlieren konnte.

Im Mai sollte meine erste Lehrprobe stattfinden. In Geschichte in der Unterstufe. Ich bereitete mich unglaublich akribisch vor. So als ginge es um mein Leben und gleichzeitig ahnte ich, dass ich keine Chance haben würde. Am Nachmittag vor der Lehrprobe bereitete ich das Klassenzimmer vor. Ich hielt meine Stunde vor zwei mir lieb gewonnenen Mitreferendare. Danach ging ich ins Lehrerzimmer, um meine Sachen zusammenzupacken. Da kam der eigentliche Geschichtslehrer dieser Klasse auf mich zu und meinte, ob ich noch Hilfe benötigen würde für morgen. Als ich verneinte, meinte er noch im Gehen zu mir, dass er sich grundsätzlich aus Benotungen raushalten würde. Das wollte er nur gesagt haben. Wenige Minuten später kam der Direktor auf mich zu und meinte, er wäre morgen nicht dabei, weil er ja Naturwissenschaftler wäre und keine Ahnung von Geschichte hätte. Statt seiner nähme nun der Seminarlehrer für Deutsch teil. Deutsch wäre ja wie Geschichte eine Geisteswissenschaft.

(Die Prüfungskommission bildet sich üblicherweise aus dem Direktor, dem Seminarlehrer des jeweiligen Faches und dem eigentlichen Lehrer, der das Fach in dieser Klasse unterrichtet.)

Ich war also verloren. In diesem Moment trat der Seminarlehrer für Deutsch an meinen Tisch im Lehrerzimmer und beugte sich über mich und meinte zu mir: „Frau Freund, wir sollten Ihre morgige Lehrprobe besprechen.“

Wie ferngesteuert bot ich ihm den Stuhl neben mir an, obwohl ich ganz bestimmt nicht mit ihm meine Stunde besprechen wollte.

„Nein, nicht hier.“ Dabei berührte er meinen Arm. „Wir sollten uns einen schönen Abend machen in einem angenehmen Ambiente.“

Daraufhin sagte ich nur „Nein. Das sollten wir ganz bestimmt nicht.“ Mehr konnte ich dazu nicht mehr sagen. Ich weiß bis heute nicht, was danach passierte und wie und wann ich zurück in mein Studentenzimmer kam. (In einer Aufstellung, mit dem Anliegen ‚Was ist da in dem Lehrerzimmer passiert?‘ deutete sich an, dass – wie auch immer – die Szene weiterging.)

Die Lehrprobe lief perfekt, genauso wie in meiner Verlaufsplanung angegeben. Danach standen die Schüler auf und applaudierten. Die Prüfungskommission verließ fluchtartig den Raum. Und ich bekam noch eine große Packung Gummibärchen.

Danach stürzten drei Mitreferendare auf mich zu. Sie berichteten von einem Gespräch, dass sie zufällig mitgehört hatten: X meinte vor meiner Lehrprobe zu Y, ich müsse unbedingt eine Fünf bekommen, denn dann würde ich nicht in den Zweigschuleinsatz kommen und das ganze Referendariat über an der Seminarschule bleiben.

So war es auch. Ich bekam tatsächlich eine Fünf. Mangelhaft bedeutet: „Eine an erheblichen Mängeln leidende, im ganzen nicht mehr brauchbare Leistung.“ Bei der Begründung hieß es unter anderem, dass meine Stunde viel zu leicht war, da alle Schüler und Schülerinnen meinem Unterricht folgen konnten und miteinbezogen waren.

„Frau Freund, sie sind nicht in der Lage einen kognitiv hochstehenden Unterricht, wie es sich für ein Gymnasium ziemt zu gestalten.“ Ich sollte doch eher an einer (damals noch sogenannten) Hauptschule unterrichten und nicht an einem Gymnasium, das ausschließlich für die Förderung der Eliten zuständig wäre.

Ich war fassungslos und wütend: „Ja, klar. Die depperten und dummen Lehrer zu den depperten und dummen Schülern in der Hauptschule.“

Da meinte X: „Warum weinen Sie nicht? Ich habe doch Ihr Leben zerstört mit dieser Note.“

Das letzte, was ich an diesem Tag, noch schaffte, war zu sagen: „Sicher nicht. Ich hätte ein Problem, wenn ich von Ihnen eine gute Note bekommen hätte.“ Daraufhin warfen sie mich raus und beendeten die Besprechung. Danach verließ ich die Schule und radelte zur Donau und setzte mich ans Ufer und weinte.

Ich bin tatsächlich zum Opfer geworden, zum Opfer eines Mannes, der mich meiner Herkunft wegen zutiefst hasste. Warum, wusste ich damals noch nicht. Es ist genau das eingetreten, was mir immer und immer wieder vorausgesagt wurde. Ich konnte nicht aussteigen. Ich musste weitermachen, bis zu dieser Lehrprobe. Offenbar ließ ich mich zum Opfer machen.

Am nächsten Tag wurde mir mehr und mehr bewusst, wie sehr mir Unrecht geschehen ist. Ich erinnerte mich an die Aussagen der drei Referendare und fasste neuen Mut.

Ich wusste damals aber noch nichts über Täter-Opfer-Dynamiken, nichts darüber, wie sehr die Täterenergie eines einzelnen Menschen ganze Systeme beherrschen und manipulieren können, bis hin zu Rechtsbeugungen. Ich war mir sicher, dass ich mich zur Wehr setzen könnte, dass ich nachträglich Recht bekomme würde. Ich hatte ja die Aussage über die zuvor schon festgelegte Note. Erst jetzt mit meiner intensiven Auseinandersetzung in den letzten Jahren, beginne ich zu verstehen, was damals passiert ist, in was ich da hineingezogen wurde und mich hineinziehen ließ.

So rief ich im Bayerischen Ministerium für Kultus und Unterricht an und schilderte dort meine Erlebnisse.

„Ach ja, wieder der X. Das wissen wir schon. Unter uns gesagt: Das kam schon öfter vor. Es haben sich auch schon Referendare in seinem Seminar umgebracht. Wissen Sie, der geht in drei Jahren in Pension. Da haben Sie keine Chance. Da steht Aussage gegen Aussage. Und da macht sich sowieso niemand mehr die Mühe. Das wird ausgesessen. Der geht bald. Und ich sage es Ihnen gleich, sie wissen ja, X ist der Leiter der gesamten Seminarlehrer für Deutsch in Bayern. Wenn sie woanders anfangen, der hat überall seine Finger im Spiel.“

Noch am selben Tag erhielt ich Anrufe dieser drei Referendare, auf deren Aussage ich mich verließ und verlassen wurde. Sie teilten mir alle drei mit, dass man ihnen mitgeteilt hätte, dass sie schweigen sollten, andernfalls würden sie das Referendariat nicht gut beenden. Es täte ihnen sehr leid, aber sie wollen unbedingt Lehrer werden, also werden sie offiziell nicht bestätigen, was sie gehört hätten. Dafür sind sie dann tatsächlich mit ungewöhnlich guten Noten bezahlt worden.

Ich erhielt auch Anrufe zweier Lehrer, die mir beide ähnlich mitteilten, wie schlimm sie es fänden, was mir durch X widerfahren wäre, dass ich nicht die einzige bin, dass sie es aber im Laufe der Zeit leid wären, sich für Referendare einzusetzen. Diese gehen dann weg und sie müssten aber mit diesen beiden Herren weiterarbeiten. Das tun sie sich nicht mehr an, so leid es ihnen für mich täte.

So wusste ich also, woran ich war. Ich konnte nicht mehr. Ich resignierte und ließ mich längerfristig krankschreiben.

Mein Vater, ein Mann mit Erfahrungen mit Beamten und Ministerien, und Andreas, mein jetziger Mann, ein Lehrer, waren entsetzt und meinten, ich müsste rechtliche Schritte einleiten. Sie würden mich unterstützen. Das ginge so nicht. Das könnte ich nicht mit mir machen lassen.

Aber ich konnte nicht. Leider. Ich war zusammengebrochen. Ich verstand mich selber nicht.

Es dauerte Jahre bis mir bewusst wurde, warum ich mich nicht rechtlich wehren konnte, warum ich auch nicht an die Öffentlichkeit ging:   Eben deswegen, weil X – eben wie Täter es üblicherweise machen – mich und das ganzen Schulsystem bis hinauf ins Ministerium manipulierte. X erschien übermächtig. Alle ordneten sich dem unter. Wie ich erst vor ein paar Jahren erfahren habe, war dieser Machtmissbrauch von X in Regensburg bekannt, weswegen mich auch mein Studienkollege Max derart klar gewarnt hatte. Die Öffentlichkeit wusste Bescheid, doch niemand hat je etwas dagegen unternommen. Ich habe mich dieser scheinbaren Übermacht komplett unterworfen. Mich zum Opfer gemacht und zum Opfer machen lassen.

Nachdem meine Krankmeldung für das gesamte restliche Schuljahr an der Schule ankam, rief mich X zuhause an: „Frau Freund, kommen Sie doch zurück an die Schule. Wir lassen Sie in Ruhe, es gibt keine Unterrichtsbesuche mehr, sie bekommen regelmäßig ihr Gehalt und bestehen das Referendariat.“

„Wie bitte, Sie haben mir eine Fünf gegeben, mir also völlige Inkompetenz attestiert, und jetzt soll ich eineinhalb Jahre eigenständigen Unterricht machen?! Die Schüler schädigen?! Das geht doch nicht. Nein, definitiv nicht.“ Ich habe einfach den Hörer aufgelegt.

Zwei Jahre Später: Ich hatte soeben mit meinem neuen Studium der Sozialen Arbeit begonnen, als mich eine Nachricht einer Bekannten erreichte. X war mit einem Herzinfarkt im Lehrerzimmer zusammengebrochen und anschließend gestorben, während er zuvor sein nächstes ‚Opfer‘ ähnlich wie mich terrorisiert hatte.

Was war da los?

Durch einen Zufall erfuhr ich, dass X als Kind von Heimatvertriebenen in einem Dorf im Landkreis Freyung-Grafenau aufgewachsen ist. Ganz in der Nähe bin ich auch aufgewachsen. Er wurde wegen seiner Sprache und seiner Familie immer wieder misshandelt. Sein Vater und/oder sein Onkel – ich weiß es nicht genau – war Schulrat, und war wie mir berichtet wurde ein ’scharfer Hund‘. Und so rächten sich die Dorfkinder an ihm, dem kleinen Jungen mit der komischen Sprache, für etwas, was sein Vater bzw. Onkel ihnen angetan hat. Sie verprügelten ihn immer wieder.

Und da komme ich an seine Schule, genau aus dieser Gegend mit dieser Sprache und bin nicht gewillt mich dafür zu schämen und mich zu bemühen, meine Herkunft zu verbergen. Und noch dazu mit einem starken Überlebensanteil – wie Bruce Springsteen es ausdrückte „no retreat, baby, no surrender.“ Kein Rückzug, nicht aufgeben, immer weiter kämpfen – bis zum bitteren Ende. Auch wenn dieser Kampf nicht zu gewinnen ist.

Das ist die Täter-Opfer-Dynamik. Und sie bezieht sich eben nicht nur auf das Opfer und den Täter. Sie bindet ein gesamtes soziales Gefüge und zerstört es. Darin ist keine wirkliche Hilfe und Unterstützung, kein Schutz zu erwarten.

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Mit dem Wissen von heute würde ICH gar nicht erst dort anfangen, aufhören, spätestens nachdem ich wegen Sprache und Herkunft derart beleidigt wurde, allerspätestens aber nach dem sexuellen Übergriff im Lehrerzimmer. Und selbst wenn ich zur Lehrprobe noch angetreten wäre, würde ich mich danach juristisch wehren. Zumindest hoffe ich, dass mich mein Wissen über mich, über den Täter und über die Täter-Opfer-Dynamik schützen würde.

Mit dem Wissen von heute über mich und meine entsprechenden Überlebensstrategien will ich mich an der Hand nehmen und mich in Sicherheit bringen.

 

 

 

 

ICH und das überlebte Leben

Ich war wandern. Stundenlang den Grenzkamm entlang, vorbei an so vielen toten Fichtenstämmen. Es sind die Reste eines dichten Waldes, der sich schier unendlich über die Berghänge entlang zog. Wald, nichts als Wald.  Doch er hatte keinen Bestand. Diese viel zu dicht aufeinander gepflanzte Monokultur fiel dem Borkenkäfer und nachfolgenden Stürmen zum Opfer.

Übrig blieben ganze Berghänge voller Totholz.

Die Erinnerung an unendliche Bergwälder schmerzt mich jedes Mal wieder. Sie schienen mir so unergründlich tief, so standhaft. Eine trügerische Illusion.

Es ist ein Schmerz, der mich während des Gehens an Nina erinnert.

Nina ist eine 58 jährige Frau, deren Leben völlig in Ordnung zu sein scheint. Erfolgreich. Selbstbestimmt. Selbstständig. Eine Geschäftsfrau, die mich vor ein paar Jahren wegen einer Frage bezüglich ihrer weiteren beruflichen Karriere kontaktierte: Soll sie weiterhin  – wie in ihrem Metier üblich – mit diversen Partnern zusammenarbeiten? Oder soll sie gänzlich unabhängig ihre Produkte verkaufen?

Nach dem sie mir von ihrem bisherigen beruflichen und privaten Leben erzählte, wollte sie mithilfe einer Aufstellung für sich eine Antwort finden. Währenddessen beschlich mich eine tiefe Traurigkeit, die ich nicht zuordnen konnte: Sie passte weder zu ihrem Gesagten, noch zur folgenden Aufstellung. Ich fragte sie nach meinem Gefühl der Traurigkeit im Kontakt mit ihr. Sie schüttelte nur den Kopf und sagte nichts dazu.

Als Nina zwei Wochen später zu einem Aufstellungsseminar kam, um mit Menschen in der Gruppe ihr berufliches Anliegen aufzustellen, tauchte diese bodenlose Traurigkeit wieder auf in mir. Und wieder zeigte sich nichts in ihrer Aufstellung – weder bei ihr selbst, noch bei den diversen Stellvertreterinnen. Im Gegenteil: Nina fuhr sichtlich zufrieden und zuversichtlich nach Hause mit einer Idee: Sie will zukünftig beruflich Neuland beschreiten.

In der Folgezeit hatte ich mit Nina ein paar Mal telefonischen Kontakt bezüglich ihrer konkreten praktischen Umsetzung der Aufstellungsergebnisse. Alles schien in bester Ordnung zu sein, wenn da nicht dieses beständiges Gefühl der Traurigkeit gewesen wäre, immer dann, wenn ich mit Nina in Kontakt war. Warum empfinde ich Traurigkeit, wenn sich doch in Ninas Aufstellungen nichts davon zeigt?

Ich beschäftigte mich immer wieder mit Nina und diesem Traurigkeitsgefühl: Etwas stimmte da nicht. Ganz und gar nicht. Wo ist dieser traurige Nina-Anteil? Warum zeigt er sich nie? Und: Was ist überhaupt derart traurig? Was ist das für ein Schmerz, den ich wahrnehme?

Nach zwei Jahren kam Nina erneut in eine Einzelstunde. Ihr Geschäft lief immer schlechter. Einige Kunden zahlten Rechnungen nicht und so mancher Geschäftspartner zog sie über den Tisch. Sie musste zusehends von ihren Ersparnissen leben. Sie wusste nicht mehr ein noch aus. Als sich dann noch ihr Ehemann wegen einer anderen Frau von ihr trennte, brach sie psychisch und körperlich zusammen:

„Was soll ich denn noch alles machen? Ich verstehe das nicht, ich habe die ganzen Themen der Familienseele doch schon bearbeitet. Nicht nur bei Dir, sondern schon zuvor immer wieder bearbeitet. Ich beschäftige mich mit dem Systemischen und mit mir seit ich 23 bin. Damit bin ich durch. Da bin ich auch richtig tief eingestiegen. Ich bin da wirklich fertig mit.“

„Hm. Offenbar nicht.“

„Nein, offenbar nicht.“, meint Nina ratlos zu mir.

„Nina, was ist Dir passiert? Was ist der kleinen Nina passiert?“

„Also, mir?! Mir ist – . Also meiner Mutter ist als Kind…“ Nina beginnt, ausführlich  von den traumatischen Lebenserfahrungen ihrer Mutter, ihres Vaters, ihres älteren Bruders und ihrer Großeltern zu erzählen.

„Nein, nein. Ich meinte, was ist Dir passiert? Warum bist Du so traurig?“

Für mich völlig unerwartet beginnt Nina zu weinen: „Ich weiß es nicht. Mir ist eigentlich so nichts passiert.“

Ich schlage ihr vor, das zu malen, was sie so bitterlich weinen ließ. Wortlos malt Nina das Körperschema eines kleinen Kindes und danach mit schwarzer Farbe mit unglaublicher Brutalität die Zerstörung dieses kleinen Kinderkörpers bis der schwarze Stift eingedrückt ist. „Jetzt ist er kaputt.“, meint Nina mit abwechselnden Blick auf das, was sie soeben auf dem Papier ausgedrückt hat, und auf den kaputten Stift.

Ich bin erstaunt über diese Klarheit ihres Bildes und zugleich zutiefst erschüttert: „Nina, was hast Du da gemalt?“

„Die Zerstörung eines Kindes. Meine Zerstörung als Kind. Meine körperliche Zerstörung.“

„Was meinst Du mit Zerstörung? Was machen die vielen schwarzen Striche mit dem Körper der kleinen Nina?“

Nina findet in dem folgenden Prozess ihre eigenen Wörter für ihr Gemaltes:

Es gelang ihr tatsächlich sich zu erinnern, wie sie mit sieben Jahren in den Sommerferien zwei oder dreimal von einem entfernten Verwandten vergewaltigt wurde. Sie blieb allein mit den körperlichen Verletzungen. Niemand half ihr. Ihre Eltern und die anderen Erwachsenen ahnten und konnten oder wollten doch nichts ahnen. Sie wussten und konnten oder wollten doch nichts wissen. Sie blieb allein.

„Wie hast Du das alleine geschafft? Wie ging das mit Deinem verletzten Unterleib?“

„Ich weiß nicht. Ich spüre: Ich bin dann aus meinen Körper gegangen. Ich bin da einfach raus gegangen. Ich spüre den Moment ganz deutlich: Ich bin raus aus dem Körper. Seitdem bin ich weg.“

„Wo bist Du denn? Wo ist die Nina, die diese Vergewaltigungen erleben musste?“

„Ich weiß es nicht. Einfach weg. Der Körper, also die Hülle, die blieb zurück. Die hat dann weitergelebt. Irgendwie. Bis heute.“

„Hast Du von diesen Vergewaltigungen geahnt oder gewusst? Oder bist Du völlig überrascht von Deinem Bild?“

Nina schaut lange auf ihr gemaltes Bild und den kaputten schwarzen Stift. Sie beginnt leise zu weinen: „Nein, davon wusste ich nichts. Das war weg. Einfach weg.“

Ich frage sie, wie es ihr jetzt nach diesem Einzeltermin mit ihrer unerwarteten Erinnerung an diese Vergewaltigungen geht.

„Ich bin geschockt und zugleich bin ich froh, dass ich jetzt weiß. Es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Jetzt ist es gut.“

 

 

Während meiner Wanderung sah ich so viele dieser Baumskelette. Einige berührte ich mit meinen Händen, an einige klopfte ich. Sie klingen ganz hohl. Sie sind auch innen ganz hohl. Sie haben keine Substanz mehr. Da ist nichts mehr. Ich könnte sie ganz leicht umwerfen, sind sie doch nur noch eine hölzerne Hülle, die mit der Zeit immer morscher und dadurch brüchiger wird. Bis sie irgendwann zusammenbrechen und in sich zusammenfallen.

 

 

Mir fallen die ersten beiden Arbeiten mit Nina ein, während denen ich eine so tiefe Traurigkeit spürte. Wenn ich Nina bei ihrem eigenen Wort nehme, sie ernst nehme, dann kam eine leere körperliche Hülle zu mir. Es ist diese leere Hülle, die ihr berufliches Anliegen aufstellt. Die eigentliche Nina – die, die diesen Schrecken erlitten hatte – die war Nina nicht mehr zugänglich. Deswegen zeigte sie sich nicht einmal in den Aufstellungen. Es waren ihre Überlebensanteile, die Nina gänzlich vor dem Schrecken, vor den Schmerzen der traumatisierten Anteile schützten.

Wenn nicht diese Traurigkeit, dieser Schmerz gewesen wäre… . Dann wäre nichts von ihrem erlebten Schrecken fühlbar und spürbar gewesen. Nichts für Nina selber und nichts für mich. Dann hätte ich diese durchaus smarte Hülle mit Nina verwechselt. Das wäre schlimm gewesen. Denn dann wäre es so gewesen wie damals, als diese zerstörerische Gewalt nicht passiert sein konnte und nicht passiert sein sollte. Dann wäre die verletzte kleine Nina ein weiteres Mal vernichtet.

In den folgenden Monaten erinnerte sich Nina immer genauer an diese Sommerferien, immer mehr Details der Vergewaltigungen tauchten in Träumen und in Bildern auf. Zudem fielen ihr sehr viele nachfolgende Geschehnisse ein, die mit Wissen um die erlittene Gewalt eine neue Bedeutung bekamen. Wie zum Beispiel ein Schulaufsatz, den Nina in der dritten Klasse über ihre schönsten Sommerferien schreiben sollte. Darunter durfte sie auch ein Bild malen.

„Weißt Du, ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich da geschrieben und gemalt habe, nur dass danach meine Mutter zu meiner Lehrerin kommen musste. Darüber wurde nie mehr gesprochen. Meine Mutter sagte nichts dazu. Ich hab mich immer wieder mal gefragt, warum. Jetzt kann ich mir schon vorstellen, warum.“

Diese kleine verletzte Nina, welche die erwachsene Nina ein halbes Jahrhundert später derart zerstört auf Papier sichtbar werden ließ, fügte sich auf diese Weise immer mehr in Ninas erlebte Wirklichkeit ein:

„Weißt Du, das ist für mich auf eine bestimmte Weise sehr schön. Es stärkt mich. Es bestärkt mich. Das klingt vielleicht komisch für Dich, so schlimm es ist, so gut fühlt sich das jetzt, heute für mich an.“

Es war und ist nicht die kleine traumatisierte Nina, die der großen erwachsenen Nina Probleme bereitet, wie sie eigentlich erwartet hätte. Im Gegenteil. Nein, es ist diese leere Körperhülle, die Nina jetzt an ihre Grenzen bringt: Diese überlebte die Vergewaltigungen. Sie lebte danach weiter – verlassen, im Stich gelassen, alleine.

Es sind ihre Überlebensanteile, die seit damals mit dem Nichauszuhaltenden täglich umgehen. Es sind ihre Überlebensanteile, welche die kleine traumatisierte Nina täglich bekämpfen und ständig aufpassen, dass sie ja nicht ins Bewusstsein kommt, dass ja nichts sichtbar wird. Es sind die Überlebensanteile, die ein ganzes Leben lang versuchen, den längst geschehenen Schrecken zu verhindern und ungeschehen zu machen. Es sind die Überlebensanteile, die sie bedingungslos vor dem schützen, was längst passiert ist.

Es ist dieses bewusste Wissen um ein überlebtes Leben, das derart schmerzhaft ist für Nina und für andere Menschen.  Ein Wissen um das, was ich mir selber mein Leben lang antue, um nicht wissen, spüren und fühlen zu müssen, was ich längst schon erlebt habe.

Überlebensanteile sind einzig ausgerichtet auf die Vergangenheit. Sie binden (fast) die gesamte Lebensenergie. Diese schreckliche Vergangenheit wird ganz ausgelöscht und verleugnet und sie ist doch nicht weg. Nie wieder darf so etwas passieren. Lege ich jedoch den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit, um dadurch in Zukunft in Sicherheit zu sein – die Zukunft im Voraus zu kontrollieren – dann verliere ich meine Gegenwart ganz aus meinen Augen. Das ist mitunter eine bittere Erkenntnis. Denn: Die Gegenwart ist die einzige Zeit, die ich tatsächlich aktiv mit meinem Willen gestalten kann. Ein Leben im Überlebensmodus ist so betrachtet ein ungelebtes Leben. Norbert, ein langjähriger Klient, meinte neulich zu mir:

„Ich weiß nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen nicht zu wissen. Da bliebe mir wenigstens die Illusion von einem tatsächlich gelebten Leben. So stehe ich da, mit einer wirklich bitteren Erkenntnis, 73 Jahre nicht gelebt zu haben. Wie viele Jahre bleiben mir denn noch?“

Ja, das stimmt. Das ist tatsächlich bitter. In vielerlei Hinsicht. Ich kann Norbert nicht widersprechen.

Und nun? Was sollen Nina und Norbert tun? Was kann ich tun angesichts dieses überlebten Lebens?

Die toten Bäume bleiben einfach stehen. Bis sie aufgrund ihres inneren Verfalls umfallen oder vom Wind umgerissen werden. Sie bleiben einfach liegen und vertrocknen, vermodern, verfaulen. Sie wandeln sich zu Moder und Mulm.

Überlebensanteile sollen einfach so sein können, wie sie tatsächlich sind.

Einfach? Nein, einfach ist das sicher nicht.

Denn klar zu erkennen, wie lange ich schon nicht lebe, sondern mein Trauma überlebe, und zu welchem Preis, ist sehr schmerzhaft. Und doch: Wenn es mir gelingt, ohne dass ich gegen diese Erkenntnis ankämpfe, ohne dass ich meine Überlebensanteile bekämpfe oder sie beiseite schaffe, ohne dass ich mich dafür selbst anklage oder schäme, meine Trauer zu fühlen und meinen Schmerz zu spüren…

… dann können sich meine Überlebensanteile selbst überleben.

Wenn ich mich in meiner Gegenwart, im Moment, jetzt geschützt und sicher fühle, mich angenommen und geliebt fühle, dann kann ich über meine Überlebensanteile hinauswachsen.

Und am Ende bleibt nichts mehr vom Totholz übrig. Außer, dass sie zum Nährboden für all das Grün, das tatsächlich nach wächst. Das Totholz, das allen Widerständen zum Trotz stehen und liegen bleiben durfte, ist die Voraussetzung für das Wachsen eines gesunden Waldes am Grenzkamm. Eines Waldes, von dem niemand wissen konnte und bis heute nicht genau weiß, wie er tatsächlich einmal  ausschauen wird. Ich bin gespannt, wie es sein wird in 5 oder 10 Jahren da entlang zu wandern.

Genau so bin ich gespannt, wie sich Nina und Norbert, wie ich mich selber entwickeln werde, wenn ein Leben jenseits von Überleben beginnt.