Seit einiger Zeit bin ich immer wieder mit einer Erfahrung in verschiedenen Prozessen von Selbstbegegnungen befasst, die mich sehr zum Nachdenken und Nachspüren brachte:
Es geht dabei um an sich positive Verhaltensweisen, die wirklich nur zu begrüßen sind – nämlich an sich zu arbeiten, sich mit den Erfahrungen der Vergangenheit auseinandersetzen, um die Gegenwart bewusst gestalten zu können, den eigenen Beitrag in Beziehungskonflikten zu sehen, versuchen sich und nicht den Partner oder die Partnerin ändern zu wollen, …
… aber gerade diese wünschenswerten Verhaltensweisen erlebe ich zuweilen als Falle:
Insbesondere dann, wenn sie gebraucht werden, um die Realität als solche nicht erkennen und nicht benennen zu müssen, um die Realität nicht bewerten und nicht dementsprechend darauf reagieren zu müssen.
So betrachtet kann ein mit sich Beschäftigen und ein an sich Arbeiten durchaus eine Falle sein; und in eben diese Falle versuchen mich Menschen in ihrer Not und Ver-zweiflung, immer wieder zu locken. Aber nicht nur mich: Was noch viel schwer-wiegender ist, sie stellen damit auch sich selbst, ihren Partnern und Partnerinnen, und ihren Kinder eine Falle. Die Falle schnappt oftmals zu, ohne dass es zunächst jemand bemerkt. Doch die Auswirkungen sind mitunter gravierend. Deswegen ist es notwendig beizeiten innezuhalten, um den Prozessen der Selbstbegegnungen nachzuspüren und über sie nachzudenken.
Wie in diesem folgenden, etwas längeren Blogartikel über eben diese Prozesse, in denen die Realität nicht Realität sein darf…
… in denen Schwarz nicht schwarz und Weiß nicht weiß sein darf. Zwei Farben, die an sich fast nicht zu verwechseln sind, weil sie maximal weit auseinander liegen, nicht nur in ihrer Symbolik und Metaphorik, aber auch. Unmittelbar nebeneinander betrachtet, ist ihr Kontrast am deutlichsten:

Und doch wird Schwarz mitunter zu weiß und Weiß zu schwarz.
Was bedeutet das? Wie kann das sein? Wie kann Schwarz weiß, und Weiß schwarz werden?
Darüber schreibe ich anhand zweier Fallbeispiele. Wie immer selbstverständlich anonymisiert und so verändert und typisiert, dass die vorkommenden Personen nicht mehr einer realen Personen zuzuordnen sind.
Theo, 45, und Lara, 39, leiden in ihren Beziehungen an ihren Beziehungen, ohne jedoch eine Trennung als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Sie sind beide hoch-motiviert und bereit an sich zu arbeiten, damit sich die Beziehung zu ihren Partnern und ihren Kindern verbessert.
Theo kommt regelmäßig immer wieder in Einzelsitzungen und Gruppenseminare, um an der Beziehung zu seiner Frau Charlotte arbeiten. Sie haben zwei Kinder, einen 9-jährigen Sohn und eine 12-jährige Tochter. In einer Einzelsitzung reflektieren wir die bisherigen Prozesse seiner Selbstbegegnungen, insbesondere hinsichtlich seines großen Anliegens, nämlich die Beziehung zu Charlotte zu verbessern, um ein bewusster und aktiver Ehemann und Vater sein zu können:
Doch trotz seiner vielen Selbstbegegnungen ist Theos Beziehung zu Frau und Kindern unvermindert schwierig: Charlotte entfernt sich immer weiter von Theo und zieht sich in sich zurück. Die beiden Kinder sind ständig wie ein Schutzwall um ihre Mutter herum.
„Ich bin wirklich verzweifelt: Die drei sind wie eine geschlossene Einheit. Da weiß ich gar nicht mehr, was ich da soll. Da gibt es keinen Platz für mich als Mann, als Partner und auch nicht als Vater.“
Ich bin verwundert und durchaus ratlos, denn: Mehr als sich seiner Geschichte stellen, sich mit seiner Vergangenheit befassen, mehr als ehrlich und intensiv sich selbst begegnen, kann Theo nicht machen, denke ich mir. Wenn sich offenbar so gar nichts an seiner Lebenssituation – an seinem Anliegen – verändert, dann stimmt etwas nicht oder dann ist etwas noch nicht geklärt oder verstanden.
„Wie fühlt sich diese Situation für Dich an?“
„Es ist zu eng. Ganz ungut. Ich habe seit geraumer Zeit ein ganz ungutes Gefühl. So als wäre ich ein Bösewicht, ein übler Schuft, vor dem sich meine Frau schützen muss. Und, was für mich noch fast schlimmer ist, vor dem auch meine Kinder sie schützen müssen! Es ist furchtbar! Ich bin der Feind im eigenen Haus!“
„Was bedeutet das für Dich, für Deine Frau und für beide Kinder der böse Feind zu sein? Wie gehst Du damit um?“
„Na, ich komm‘ hierher und bearbeite das. Also, ich formuliere Anliegen um Anliegen, dass ich das endgültig gelöst bekomm‘, was das mit mir zu tun hat. Das hat ja was mit meiner Ausstrahlung, mit meinen unbewussten Anteilen zu tun, mit dem, was ich bis heute nicht blicke!“
„Ist das so?“
Theo schaut mich sichtlich irritiert an und meint dann etwas verärgert:
„Ja, sicher! Was sonst?! Das fragst Du mich?! Solange ich meine Vergangenheit nicht wirklich bearbeitet habe, solange reinszeniere ich diese in meiner Beziehung! Das ist doch klar: Sie sehen alle in mir meinen Vater! Da hab‘ ich doch noch etwas in mir nicht gelöst!“
Theo ist das einzige Kind seiner Eltern. Er ist kein Wunschkind. Im Gegenteil: Seine Eltern mussten wegen ihm heiraten, obwohl sie sich überhaupt nicht liebten. Theo entstand nach einem Faschingsball im Morgengrauen im Auto – beide waren dabei ziemlich betrunken. Die Ehe war für Theo und für seine Eltern die Hölle und ist es bis heute:
Der Vater ist bis heute frustriert über die Ehe und Vaterschaft, die er zu keinem Zeitpunkt wollte und zu der er sich aber gezwungen fühlt. Er ist gegenüber seiner Frau und Theo immer wieder verbal ausfällig und beschimpft beide auf das Übelste. War er betrunken, so verprügelte er seinen Sohn und seine Ehefrau immer wieder. Die Gewalt hörte nur in den Zeiten auf, in denen Theos Vater eine Geliebte hatte und dadurch weniger häufig zuhause war. (Wenigstens die körperliche Gewalt schwindet mit den körperlichen Kräften im Alter.)
Theos Mutter hingegen zeigt bis heute sehr viel Verständnis für ihren Ehemann und seinen unerträglichen Gewaltausbrüche: Sie fühlt sich bis heute schuldig an der ganzen Misere (mit Misere meint sie ihre Ehe mitsamt ihrem Sohn Theo), weil sie ja im Fasching offenbar die Pille nicht richtig eingenommen hatte. Sie hatte zu Theos Vater noch gesagt, sie bräuchten nicht aufzupassen, sie nähme ja die Pille, es könnte nichts passieren…
Eine Trennung und Scheidung kommt bis heute weder für Vater noch für Mutter in Frage: Der Vater sieht sich aufgrund seiner sehr streng katholischen Erziehung außerstande, eine Scheidung seinen längst verstorbenen Eltern anzutun, denn sie würden sich noch im Grabe umdrehen. Die Mutter muss die Suppe, die sie sich eingebrockt hat, bis heute immer wieder auslöffeln. Sie muss B sagen, weil sie ja schließlich auch A sagte.
Theo selbst dachte als Kind immer und immer wieder darüber nach, wie er es schaffen könnte, dass die Ehe seiner Eltern doch endlich besser werden würde, dass Vater und Mutter nicht so leiden müssten. Wie er denn seine Schuld, seinen Fehler wieder gutmachen könnte. Bis heute sieht er in seiner bloßen Existenz den Anfang des elterlichen Lebens in der Hölle und damit auch der Anfang seines eigenen Lebens in der Hölle. Manchmal ertappt er sich dabei, immer noch in der Eheberaterrolle fest zu stecken.
„Bist Du tatsächlich wie Dein Vater? Verhältst Du Dich tatsächlich so wie Dein Vater? Gehst Du fremd? Schlägst Du Charlotte und Deine beiden Kinder? Bist Du ihnen gegenüber verbal aggressiv, verachtend und herabwürdigend?“
Theo erschrickt und zuckt zusammen. Nach einigen Momenten der Stille schaut mich Theo an und meint kopfschüttelnd:
„Nein. Ich hab‘ mich ja meiner Biographie gestellt, hab‘ vorsorglich ein Anti-Aggressionstraining gemacht, war bei der Suchtprävention, obwohl ich noch nie einen Tropfen Alkohol oder andere Drogen ausprobiert habe, war in vielen Erziehungskursen, habe – ich weiß nicht, wie viele Aufstellungen gemacht, damit ich eben anders als mein Vater mit meinen Emotionen umgehe. Wenn ich gewalttätig werden würde, dann würde ich sofort ausziehen.“
„Wenn dem so ist, was ich nicht bezweifle: Wie kann Dich dann Charlotte mit Deinem Vater verwechseln? Warum ist diese Annahme für Dich stimmig?“
„Das hab‘ ich doch schon gesagt: Ich hab‘ noch genügend blinde Flecken und Aspekte, die ich noch nicht genug oder noch gar nicht bearbeitet hab‘.“
„Wäre es für Dich denkbar, dass Du an der Situation mit Charlotte gar nichts ändern kannst? Dass es in der Biographie von Charlotte gründet, dass sie Dich als bösen Feind wahrnimmt? Dass sich nicht Du, sondern Charlotte selbst mit sich und dieser unsäglichen Verwechslung auseinandersetzen sollte?“
„Nein, nein. Ich muss das für mich, für uns, für meine Familie lösen. Charlotte macht ja bis jetzt nichts und wird auch nichts machen. Und überhaupt gibt es bei mir noch genug zu tun!“
Und so macht Theo die nächste Selbstbegegnung, um endlich von Charlotte als der gesehen zu werden, der er tatsächlich ist – nämlich Theo, ihr Ehemann und Vater ihrer Kinder. Doch es klappt nicht – wieder nicht. Der Prozess zeigt einmal mehr einen Aspekt, den Theo anscheinend in sich trägt, der zu der Verwechslung führt: Obwohl Theo noch keinen Tropfen Alkohol getrunken hat, fürchtet sich die Resonanzgeberin für Charlotte vor der bloßen Möglichkeit, dass Theo ja einmal Alkohol trinken könne. Und so versucht Theo in seiner Selbstbegegnung immer verzweifelter und immer intensiver, diese zu überzeugen, dass er dies noch nie getan hatte, nicht tut und auch nicht tun werde. Schlussendlich meint ‚Charlotte‘, er würde den Alkoholkonsum und die damit verbundene Gewalttätigkeit seines Vaters offenbar immer noch nicht richtig sehen und ernst nehmen, und daher könne sie auch kein Vertrauen in ihm haben und sehe deswegen immer seinen Vater in ihm, weswegen sie sich schützen müsse vor ihm. Das würden auch die beiden Kinder spüren und müssten sie deswegen vor ihm schützen. Der Resonanzgeber für Theos ‚Ich‘ steht den gesamten Prozess über hinter ‚Charlotte‘, um ihr den Rücken zu stärken. ‚Ich‘ redet ebenfalls vehement auf Theo ein, versucht ihm zu erklären, sie müssten da unbedingt noch mehr klären und noch mehr hinschauen.
Theo beendet seine Selbstbegegnung, bedankt sich bei den Resonanzgebern und Resonanzgeberinnen für deren wichtige Hinweise und meint zu mir:
„Naja, ich dachte das hätte ich schon genug gemacht. Aber gut, so weiß ich wenigstens, was ich noch zu tun habe. Das ist ja schon mal was!“
Nein. Theo kann das nicht alleine lösen. So sehr er sich auch bemüht, so viele Anliegen er auch formuliert und so viele Selbstbegegnungen er auch noch macht. Es liegt nicht an ihm.

Theos Eltern tun sich selbst massive Gewalt an, indem sie heirateten und diese nicht gewollte und verhasste Ehe bis heute zwanghaft weiterführen.
Sein Vater ist gegenüber seiner Ehefrau und seinem Sohn wiederholt emotional und körperlich gewalttätig. Er rettet sich zu anderen Frauen und kehrt aber doch wieder zurück.
Seine Mutter schützt weder sich selbst noch ihren Sohn vor dieser Gewalt. Sie zeigt bis heute Verständnis und übt Buße für ihren großen Fehler, indem sie sich eine Trennung verbietet.
Theo ist als Kind gänzlich ohnmächtig und hilflos dieser Ohnmacht und Gewalt, diesem Zwang zur Ehe seiner Eltern ausgeliefert. Er kann nichts machen. Er ist absolut darauf angewiesen, dass seine Eltern Verantwortung für sich selbst und für ihn als ihr Kind übernehmen: Beide hätten diese unerträgliche Beziehung längst beenden müssen; denn in dieser werden beide immer wieder zum Täter und zur Täterin an Theo, aber auch an sich selbst und an einander.
Aufgrund dieser existentiellen Abhängigkeit, ist es für Theo als Kind nicht möglich, die Realität als solche zu erkennen, zu bewerten und entsprechend zu handeln. Es ist zu schmerzhaft, zu lebensbedrohlich, zu hoffnungslos, als dass Theo diese Realität der Beziehung seiner Eltern gänzlich und dauerhaft erfassen könnte.
Schwarz darf nicht schwarz sein. Und deswegen ist Schwarz nicht mehr schwarz, sondern weiß. Nicht für seinen Vater, nicht für seine Mutter und schon gar nicht für ihren Sohn:
Es gibt eine Lösung:
Die Ehe ist zu retten. Er muss sie nur finden. Die Lösung liegt in ihm. Er ist ja die Ursache für die Misere:
Wenn er nur irgendwie anders wäre…
… lieber, braver, ruhiger, zugewandter, angepasster, …
dann hätten sich seine Eltern lieb und dann hätte die Gewalt ein Ende.
Alle leiden, weil er die Lösung noch nicht gefunden hat.

Schwarz muss weiß sein, weil so Theo diesen unerträglichen Schmerz der Ohnmacht und Hilflosigkeit nicht mehr wahrnehmen muss. Er ist nicht mehr ohnmächtig. Im Gegenteil:
Wenn er ja schuld an der ganzen Misere ist, dann braucht er ja nur das Richtige tun, sich noch mehr anstrengen, in seinen Selbstbegegnungen noch ehrlicher und konsequenter sein, dann…
… dann sähe Charlotte in ihm nicht mehr seinen Vater, dann könnte sie ihm vertrauen, dann würden seine Kinder die Mama nicht vor ihm schützen müssen, dann …
… dann könnte er die Beziehung zu Charlotte und den Kindern alleine retten, trotzdem Charlotte sich der Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Biographie gänzlich verweigert, weil sie ja an sich kein Problem hätte, ihr Problem sei Theo und seine unbearbeitete schreckliche Kindheit mit diesem Vater …
„Oh, ich glaube, ich ahne, was ich seit Jahren versuche: Ich schone Charlotte, wie ich meine Mutter und meinen Vater bis heute schone. Oh, je.“
Nach einigen Momenten der Stille:
„Aber eigentlich schütze ich mich ja vor dem Schmerz, vor den drohenden Konsequenzen, wenn Charlotte nichts macht, genauso nichts macht, wie Mutter und Vater – also wenn ich das tatsächlich als Realität akzeptiere… ja, was mach ich denn dann, wenn ich es in der Beziehung nicht mehr aushalte?“
Es ist nicht immer nur die Realität an sich, die wir Menschen nicht aushalten, sondern auch die Konsequenzen, die diese mit sich bringt: Wie im Beispiel von Theos Eltern, eine unerträgliche Beziehung voller Gewalt zu beenden, und wie im Beispiel von Theos Beziehung mit Charlotte, zu riskieren, dass es für ihn nicht mehr auszuhalten ist, diese Beziehung so weiterzuführen.
Für diesen Moment kann Schwarz schwarz sein: Es kann sein, dass Theo trotz all seiner Bemühungen seine Beziehung zu Charlotte nicht weiterführen kann, weil Charlotte die Mitarbeit verweigert…
… es kann aber auch sein, dass Theo seine Beziehung gerade deswegen weiterführen kann, weil Charlotte nun Verantwortung für ihren Anteil der Beziehung übernimmt, weil Theo nicht mehr zur Verfügung steht.
Ich bin gespannt: Denn es gibt Anlass zu Hoffnung auf wirkliche Veränderung…
… ganz anders in meinem zweiten Beispiel:
Anhand von ‚Lara‘ beschreibe ich die Dynamik eines Täterschutzprogramms, das für alle Beteiligten fürchterlich ist. Fürchterlich deswegen, weil es für niemanden einen Ausweg zulässt:
Nicht für das Kind als Gewaltopfer, nicht für den Vater als Gewalttäter, der als Kind selber Opfer von Gewalt war, nicht für die Mutter als Mit-Wisserin und dadurch Mit-Täterin, die als Kind ebenfalls Opfer von Gewalt war. Und nicht für mich, der ich der Realität und Wahrheit verpflichtet bin.
Niemandem ist in diesem Beispiel wirklich geholfen, wenn die Realität nicht anerkannt ist, wenn Schwarz zu Weiß gemacht wird. Und doch ist es geschehen.

Lara kommt in unregelmäßigen Abständen zu mir in meine Praxis. Von Anfang an ist ihr Anliegen, dass sich die Atmosphäre in der Familie verbessert, dass ihr Familienleben harmonischer, freundlicher und entspannter wird. Zur Familie gehören nicht nur Lara und Max und ihre 9-jährige Tochter Kia, sondern auch die beiden Elternpaare von Lara und Max, Laras Bruder und die beiden Schwestern von Max mitsamt deren Kindern.
Der Umgang in der Familie ist geprägt von einer wenig herzlichen, eher rüden und ruppigen Art und Weise miteinander umzugehen. Immer wieder kommt es dabei zu Beschämungen, Beleidigungen und Verletzungen. Dementsprechend ist die Stimmung in der Familie nur sehr selten entspannt und gelöst. Immer wieder berichtet Lara von Szenen der Eskalation innerhalb ihrer kleinen Familie, aber auch innerhalb der Großfamilie.
„Alle sind so angestrengt und wie unter Hochspannung. Und wenn dann einer ein falsches Wort sagt, dann explodiert es. Mir wird schon immer Angst und Bange, wenn es wieder auf Sonntag zugeht und wie immer das große traditionelle Sonntagsessen stattfinden soll. Ich erfind‘ neuerdings schon Ausreden, warum ich und Kia nicht teilnehmen können, aber das geht ja auch nicht immer. Eigentlich geht es keinem in der Familie wirklich gut. Aber wehe, ich spreche das an, das heißt es immer ‚Du schon wieder! Hab‘ Dich doch nicht so.‘ Alle tun immer so, als wäre das alles ganz normal. Naja, sie haben ja recht. Es stimmt ja auch. Ich bin ja hochsensibel.“
Bei Lara wurde vor einigen Jahren ADHS und Hochsensibilität diagnostiziert. Je älter ihre Tochter Kia wird, desto sicherer ist sich Lara, dass Kia nach ihr kommt und mindestens Tendenzen zu ADHS und Hochsensibilität aufweist. In der Schule wird es schwieriger und schwieriger:
„Kia kann sich überhaupt nicht konzentrieren. Immer ist sie in Bewegung. Dauernd fällt Kia unangenehm auf. Alle sind schon sehr genervt von Kia und ihrem störenden Verhalten. Die Klassenlehrerin meinte neulich zu mir, wir sollten Kia auf ADHS testen lassen. Naja, ich kann Kia so gut verstehen, mir ging und geht es bis heute nicht anders.“
Lara beschreibt immer wieder, wie gut sie Kia verstehen kann und wie wenig sie persönlich eigentlich einen Handlungsbedarf sieht. Sie findet Kia gut, so wie sie ist. Wenn es nach ihre ginge…
… aber das tut es leider nicht. Die Schule macht zusehends Druck, die Familie auch und vor allem Laras Ehemann Max:
Max kann damit nicht gut umgehen. Er zeigt für ein derartiges Verhalten wenig bis kein Verständnis. Denn in seiner Welt ist es einfach wichtig zu funktionieren. Ein jeder hat das zu tun, was zu tun ist. Ist das gewährleistet, dann läuft es in der Familie und im Beruf, eigentlich überall. Es gibt Regeln, die sind nicht zu hinterfragen, die sind einfach da, damit sie zu befolgt werden, damit es in der Familie und in der Gesellschaft reibungslos läuft…
In einem Telefonat schildert mir Max, wie sehr er unter dem Wesen und Verhalten seiner Frau und seiner Tochter leidet:
„Ich kann das echt nicht verstehen: Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass in der Familie gemeinsam am Tisch gegessen wird, dass während des Essens sitzengeblieben wird, dass man schweigend ist, dass jeder sein Zeug aufräumt. Wenn das ein jeder befolgt, dann ist es ruhig, es gibt keinen Streit. Bei uns ist immer Chaos in der Familie. Ich kann das nicht ertragen und ich verstehe es auch nicht.“
„Was passiert, wenn Kia sich nicht daran hält?“
„Ja, das ist es ja, was ich die ganze Zeit sagen will: Dann haben wir wieder das Geschrei und Chaos, weil mich das einfach wütend macht: Es wäre so einfach, dass wir ein friedliches und harmonisches Familienleben haben. Aber so nicht. Es bringt mich einfach auf Hundertachzig! Ich werde dann laut. Das alles müsste nicht sein, wenn sich alle dran halten würden!“
„Welche Rolle in dieser Dynamik spielt dabei Deine Frau Lara?“
„Die macht alles noch schlimmer. Die ist den ganzen Tag zuhause. Die hätte genug Zeit, sich darum zu kümmern. Es kann ja nicht so schwer sein, Kia diese Regeln beizubringen. Wir haben ja eh‘ nur 1 Kind. Was hätt‘ meine Mutter getan mit drei Kindern? Da war nix mit so einer Rumspinnerei und Rumtuerei. Wir haben als Familie funktioniert.„
Und so kommt Lara zu einem Einzeltermin mit dem Anliegen, den Spagat zwischen den Erwartungen und Bewertungen von Schule und Familie und ihren eigenen Erwartungen und Bewertungen besser zu bewältigen. Lara entscheidet sich zu einer Selbstbegegnung mit Kissen:
Während des Prozesses zeigt sich immer mehr, dass Kia sich zusehends in der Schule und zuhause fürchtet.
Auf dem Resonanzplatzhalter für ‚Kia‘ meint Lara:
„Oh, da spüre ich eine große Angst. Ich zittere am ganzen Körper. Ich bin furchtbar unter Druck, ja keinen Fehler zu machen. Ich hab‘ Angst vor der Lehrerin, aber vor allem spüre ich eine Angst vor Max!“
„Nimmst Du hier auf diesem Kissen Deine Angst wahr oder die Angst Kias vor der Lehrerin und vor Max wahr?“
„Nein, nicht meine. Es ist Kias Angst. Ich hab‘ ja keine Angst vor Max. Überhaupt nicht. Wenn dann fürchte ich mich davor, was passiert, wenn Kia wieder so ist, wie sie ist, und Max dann wieder ausrastet.“
„Was meinst Du mit ‚ausrasten‘?“
„Dass Max wieder so rumschreit und so gemeine Sachen zu Kia sagt: ‚Du bist so dumm, wie ein Ster Holz!‘ oder ‚Du bist ja richtig widerlich!‘ oder ‚Mit Dir muss man sich ja schämen!‘ oder lauter so schlimme Sachen… Naja, Kia ist halt immer wieder so, dass sie genau das provoziert, dass muss ich fairerweise schon auch sagen. Aber ich kann ja gar nichts sagen, weil ich es ja eigentlich gut finde, wie Kia ist.“
„Kennst Du die Angst von Kia? Kannst Du diese Angst, von der Du auf dem Kissen gesprochen hat, in der Realität fühlen und spüren?“
„Ja, klar. Die muss ich nicht fühlen und spüren. Das sagt Kia in letzter Zeit immer häufiger und irgendwie immer verzweifelter. Ihr Körper zittert dabei auch so schlimm. Das hat sie auch schon zur neuen Sportlehrerin gesagt.“
Diese Angst ist für mich körperlich spürbar. Es ist, als wäre mein Therapieraum voller Angst und voller Kälte, obwohl es an sich im Raum nicht kalt ist. Wie groß muss Kias Not und Verzweiflung sein, wenn sie ihrer Mutter und der Sportlehrerin öfter zitternd davon erzählt?!
Und nun?
„Ich will Kia so stärken und so zur Seite stehen, dass ihr die Kommentare von Max und den anderen nicht mehr so zu schaffen machen. Gleichzeitig will ich es schaffen, dass Kia nicht mehr ganz so aneckt mit ihrem Verhalten. Puh, da hab‘ ich noch was zu tun.“
„Und was ist mit dem Verhalten von Max?“
„Mei, da kann ich wenig machen. Ich versuch‘ halt immer wieder, ihm zu erklären, dass er mit seinen Ausrastern alles noch viel schlimmer macht. Aber ich erreich‘ ihn halt nicht oder nur ganz selten. Er müsst‘ halt selber was machen, aber das sieht er ja nicht so. Er müsst‘ sich halt auch mit seiner Kindheit auseinandersetzen. Aber das lehnt er strikt ab. Also müssen eben Kia und ich an unserer Empfindlichkeit arbeiten!“
Nach fast einem Jahr kommt Lara wieder zu einem Einzeltermin: Sie ist sichtlich „durch den Wind“. Auf meine Frage, weswegen sie gekommen sei, meint sie:
„Ich möchte unbedingt aufstellen. Mein Anliegen für heute ist, dass ich -. Also, ich möchte nicht lang reden, sondern gleich aufstellen. Mein Anliegen ist -.“
Lara vollendet ihren begonnen Satz nicht, holt tief Luft und sagt dann mit sehr leiser Stimme:
„Es ist was Fürchterliches passiert: Der Max ist so ausgerastet, dass -. Also wenn ich nicht ins Zimmer von Kia gekommen wäre, ich weiß nicht, ob der Max noch gestoppt hätte.“
„Was ist passiert?“
Lara beginnt zu weinen:
„Der Max hat Kia so geschlagen, dass ich Angst um ihr Leben hatte.“
„Wie hat Max Kia geschlagen?“
„Mit der flachen Hand hauptsächlich, auch mit der Faust, mit -. Ich weiß es nicht. Es war so furchtbar. Ich habe ihn gerade noch abhalten können.“
Ich bin schockiert. Jetzt verstehe ich, was ich zuvor offenbar nicht verstanden habe. Jetzt weiß ich, warum Kia so viel Angst hat, warum Kias Körper so zittert. Es ist nicht „nur“ emotionale Gewalt, es ist auch körperliche Gewalt, die Kia derart eingeschüch-tert, verängstigt und verstört sein lässt.
„Ist das zum ersten Mal passiert?“
„Nein, es ist schon ein paarmal, also nicht ganz oft, aber schon manchmal. Aber es war noch nie so schlimm, wie … . Warum schaust Du jetzt so betroffen, Christina?“
„Weil ich erst jetzt verstehe, dass Kia so viel Angst hat, weil sie nicht „nur“ emotionale Gewalt – was für ein Kind schon schlimm genug ist -, sondern auch körperliche Gewalt durch ihren Vater erleidet. Weil ich nicht davon ausgegangen bin, dass Kia geschlagen wird.“
„Was heißt hier Gewalt? Ich weiß nicht, ob ich das hier wirklich Gewalt nennen würde… . Gewalt ist dafür doch wohl ein zu großes Wort, oder?“
„Doch ich bezeichne dies schon als körperliche Gewalt. Wie bezeichnest Du diese Eskalation?
„Ich weiß nicht. Als ‚körperliche Gewalt‘ sicher nicht, das ist viel zu groß gegriffen. Hm. Naja. Kia hörte ja wieder einmal nicht auf. Es war ein ganz schwieriger Tag mit Kia und da ist Max an seine Grenzen gekommen. Ich würde sagen: Max war am Abend einfach durch. Er war völlig mit den Nerven fertig und da ist er ausgerastet. Und da ist ihm die Hand ausgerutscht.“

Kia wird wiederholt von ihrem Vater angeschrien, verbal gede-mütigt, beleidigt und herabgesetzt. Das ist emotionale Gewalt.
Kia wird mehrmals von ihrem Vater geschlagen. Das ist körperliche Gewalt.
Der Tatbestand der emotionalen und körperlichen Gewalt ist klar.
Obgleich der Tatbestand völlig klar ist – das, was Lara beschrieb, ist körperliche Gewalt. Einen Menschen mit der flachen Hand und mit der Faust zu schlagen, ist per Definition ‚körperliche Gewalt‘. Seit dem 8.November 2000 ist in Deutschland das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert. Mit dem §1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches ist u.a. jede verbale Demütigung und Bestrafung, jede Ohrfeige und jeder Klaps auf den Hintern eines Kindes unter Strafe gesetzt.
Im Sozialgesetzbuch sieht §8a SGB VIII eine Kindeswohlgefährdung mit entsprechendem Schutzauftrag des Staates dann vor, wenn ein Kind misshandelt wird:
Der Begriff ‚Misshandlung‘ meint hier, psychische und körperliche Misshandlungen, welche die gesunde Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen und schädigen können.
Eine psychische Misshandlung kann beispielsweise sein, wenn Eltern ihr Kind ablehnen, verachten, abwerten, wenn sie ihrem Kind so das Gefühl der Ungeliebtheit, Wertlosigkeit oder Fehlerhaftigkeit vermitteln.
Eine körperliche Misshandlungen ist jeder körperliche Zwang oder jede körperliche Gewaltanwendung, weil sie die Entwicklung eines Kindes möglicherweise schädigen. kann.
Deswegen ist darüber ist an sich nicht zu diskutieren.
Und doch spüre ich in mir eine Scheu und Hemmung, dies auch so zu benennen und auszusprechen, so als sei es ein Fehler, so als dürfe ich dies nicht sagen. Und doch muss ich – Schwarz ist schwarz. Schläge mit der flachen Hand und der Faust sind körperliche Gewalt. Darüber kann ich nicht diskutieren.
„Doch, Lara. Das, was Du schilderst, wird als körperliche Gewalt bezeichnet.“
„Nein, Christina ganz sicher nicht. Mir scheint, Du überdramatisierst das. Eine körperliche Gewalt ist das nicht, sicher nicht. Nein, ich bin nicht glücklich darüber, dass es geschehen ist, aber so schlimm, wie Du tust, ist es nicht.“
„Nein, das tu ich nicht. Wie bewertest Du dann die Angst von Kia? Warum zittert Kia so? Warum hat Kia dann Angst vor ihrem Vater? Warum sollte sie einer neuen Lehrerin, die sie erst seit einem Monat kennt, immer wieder von der Angst erzählen, wenn es gar nicht schlimm ist?“
„Das versuche ich Dir doch seit Jahren zu erklären. All das, was ich Dir erzählt hab‘, ist nicht so schlimm, weil es wirklich schlimm ist, sondern weil ich es als so schlimm empfinde. Das ist doch nur ein Symptom meiner Hochsensibilität. Und Kia ist bestimmt auch hochsensibel. Ich dachte echt, Du hättest mich verstanden. Ich dachte, Du wärest eine der wenigen Menschen gewesen, die mich wirklich verstehen. Da hab‘ ich mich offenbar getäuscht.“
Lara steht auf, bedankt sich noch für unsere gemeinsame Arbeit, nimmt ihre Tasche und geht…
… und ich bin ziemlich konsterniert und erschüttert. Denn: Ich rechnete nicht damit, dass meine bloße Benennung eines klaren Tatbestandes als solche negiert werden könnte. Schwarz ist schwarz und Weiß ist weiß. Darüber ist, wie gesagt nicht zu diskutieren.
Wohl aber wäre zu diskutieren und zu überlegen, wie mit dieser Realität umzugehen, wie Lara Kia helfen könnte, wie Lara damit umgehen könnte, dass Max wiederholt gewalttätig wurde, was Max für sich tun könnte, dass es nicht wieder passiert, …
… darüber ist durchaus zu nachzudenken.
Körperliche Gewalt ist für Lara etwas sehr Schlimmes:
Aufgrund ihrer ‚Hochsensi-bilität‘ kann Lara dies aber gar nicht bewerten.
Lara nimmt die Welt grund-sätzlich und immer intensiver wahr, als sie tatsächlich ist.
Folglich bleibt ihr als einzige Möglichkeit, an ihrer Hoch-sensibilität zu arbeiten.

Lara geht davon aus, dass auch Kia höchstwahrscheinlich hochsensibel ist: Aufgrund dessen kann auch Kia die erlittene Gewalt nicht als solche bewerten. Und so bleibt Mutter und Tochter nichts anderes, als ihre „Wahrnehmungsstörung“ zu beheben, sich also zu befähigen und zu bemächtigen, das, was sie erleben, auch bewerten zu können. Noch ist es nicht so weit. Noch sieht sich Lara als zu sensibel, als zu empfindlich.
So wie es Max in dem Telefonat mir gegenüber ausgedrückte. Ich fragte Max, wie er damit umgeht, dass Lara und Kia Angst vor ihm und seinen Ausrastern habe:
„Die sollen sich nicht so anstellen. Manchmal geht es halt ein bisschen ruppiger und gröber zu im Leben, in einer Familie. Ich hab‘ mir das als Kind und Jugendlicher auch abtrainieren müssen, auf alles so empfindlich zu reagieren. Nur so geht das, wenn man alles gleich als Gewalt empfindet, wo soll das hinführen, später im Beruf, im normalen Leben?! Was macht man denn dann, wenn man einmal wirkliche Gewalt erlebt? Meine Meinung. Das geht. Das muss man halt auch wollen.“
Lara unterwirft sich gänzlich der Haltung und Bewertung von Max – also demjenigen der etwas tut, dem ‚Täter‘ also. Für Max ist sein Verhalten in keiner Weise Gewalt, für ihn ist es ist normal und alltäglich. Ihm zufolge ist also das Schlagen mit der flachen Hand und mit der Faust, das Anschreien und das Abwerten, das Beschimpfen keine Gewalt und für Lara folglich auch nicht.
An sich wird eine Tat nicht nur durch die Absichten des Täters oder der Täterin bewertet, sondern auch durch die Konsequenzen für die betroffenen Menschen. Doch das ist hier in diesem Fallbeispiel nicht so:
Für Lara ist eben nicht ausschlaggebend, was sie selbst und ihre Tochter fühlen, spüren und denken, wenn sie (mit)erleben, angeschrien, beleidigt und geschlagen zu werden: Der Maßstab für Laras Bewertung ist einzig und allein, was Max dabei fühlt und spürt, wie Max über sein Tun denkt.
Die Diagnose ‚Hochsensibilität‘ ist für Lara wie geschaffen, sich dem Täter zu unterwerfen – sie selber ist ja in ihrer Wahrnehmung gestört. Lara gebraucht sozusagen ihre Hochsensibilität, um die Gewalttaten ihres Mannes nicht als solche bewerten zu müssen. Das ist ein besonders wirksames und doch so subtiles Täterschutzprogramm.
(Ich schreibe hier nicht allgemein über Hochsensibilität, sondern speziell über Laras Gebrauch? Missbrauch? dieses Konzeptes. Ich schreibe darüber, weil ich wieder einmal ziemlich erschrocken bin, dass wir Menschen scheinbar alles zu unserem Gunsten oder Ungunsten verwenden können. Es bedarf immer wieder eines sehr genauen und klaren Blickes auf den jeweiligen Einzelfall.)
Aber warum ist das so? Warum verhält sich Max so, wie er sich verhält? Warum verhält sich Lara so, wie sie sich verhält?
Max ist mit sehr gewalttätigen Eltern aufgewachsen. Immer wieder wurden Max und seine beiden Schwestern von Mutter und Vater geschlagen, wenn sie gegen Regeln verstoßen haben. Dabei gab es keine Ausnahmen, keine mildernden Umstände und keine Entschuldigung. Jeder Übertritt einer Regel wurde von Mutter und Vater mit Prügeln bestraft. Weder Max noch seine Schwestern können sich erinnern, je geschlagen worden zu sein, ohne davor eine Regel übertreten zu haben.
„Die Spielregeln waren allen klar und wurden auch ausnahmslos durchgesetzt. So war das bei mir in der Familie. So wurde erzogen. Ja, das war schon ein hartes Regiment, aber ich wurde auch nie bestraft, ohne etwas falsch gemacht zu haben. Hart, aber gerecht. Das habe ich mitbekommen von meinen Eltern. Ja, und für mich ist das nicht das Schlechteste gewesen. So habe ich gelernt, mich an Regeln zu halten.“
Lara ist als Kind ebenfalls von ihrem Vater immer wieder verprügelt worden, was sie als sehr schlimm und demütigend in Erinnerung hat. Immer wieder berichtet sie von den körperlichen und seelischen Schmerzen danach, von ihrer Einsamkeit in ihrem Zimmer, mit nichts als der Bettdecke als Trost. Lara weiß bis heute nicht, ob ihr älterer Bruder auch geschlagen wurde. Sie reden nicht über ihre Kindheit.
Doch dann mit ungefähr 9 Jahren hörte der Vater auf sie zu schlagen.
„Er hörte auf zu schlagen, als ich endlich verstanden habe, mich in die Familie, in die Schule, heute würde ich sagen, überhaupt in die Gesellschaft einzufügen. Ich bin brav geworden, war ein anständiges, hilfsbereites, zuvorkommendes und höfliches Mädchen. Da gab es keine Veranlassung mehr für meinen Vater, mich zu schlagen. Mit einem Schlag waren meine Zeugnisbemerkungen sehr gut, bei den Elternsprechtagen wurde nur noch Gutes berichtet, meine Großeltern lobten mich nur noch… Ja, das war eine harte Schule in meiner Kindheit, doch dann war es gut. Dann hatte ich eine richtig unbeschwerte Jugend. Ich wusste, wie ich mich zu verhalten hatte. Manchmal denke ich, warum habe ich das nicht früher gekonnt. Da hätte ich mir so viel Schmerzen ersparen können. Das will ich auch Kia ersparen…“
Mit einem Schlag, nein, mit vielen Schlägen…
Es ist eine fürchterliche Lektion, die Lara für sich als ihren Lernerfolg bezeichnet:
Die Gewalt hört auf, wenn ich lerne als Kind mich wohl zu verhalten. Ich erlebe Gewalt, weil ich mich falsch verhalte. Mein Verhalten ist das Problem. Ich muss mich richtig verhalten, dann erlebe ich keine Gewalt. Die Gewalt ist nicht das Problem, sondern mein falsches Verhalten ist das Problem. Folglich muss ich an meinem Verhalten arbeiten, damit die Gewalt aufhört.
Schwarz ist nicht mehr schwarz. Die Realität der Gewalt hat ein weißes Gewand bekommen.
Für mich ist es erschreckend und furchtbar, wie sehr die Muster der Gewalt in Lara und in Max zusammenpassen. Unsäglich. Lara und Max versuchen der Gewalt ihrer Kindheit zu entkommen, indem sie sich bis heute in absolutem Gehorsam ihren Eltern unterwerfen…
… und dadurch den Terror der Gewalt in der Kindheit in ihrer jetzigen Familie weiterführen.
Und so beende ich diesen Blogeintrag mit einem Gefühl der Ohnmacht, meiner Ohnmacht, angesichts der übermächtigen, generationsübergreifenden Realität der Gewalt, die als solche nicht benannt und bewertet werden darf.
Mir blieb und bleibt nichts, als diese Gewalt als Gewalt zu benennen. Wenn dies nicht möglich ist, wenn dies verleugnet wird, dann ist kein sinnvolles Arbeiten, keine heilsame Selbstbegegnung möglich. Nicht für mich…
… denn Schwarz ist schwarz und Weiß ist weiß.